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Universität Leipzig

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Warum brauchen wir Zeitzeugen?

Ein Bericht von Helga Brachmann, Leipzig

"WAS, SIE waren ein BDM-Mädel? DAS enttäuscht mich! DAS hätte ich nie von Ihnen gedacht"! Hans war entrüstet, als wir nach dem Einzelunterricht an der Hochschule für Musik in Leipzig bei der Unterhaltung wieder einmal über Politik sprachen. Es muss 1987 etwa gewesen sein.

Ich versuchte dem Studenten sachlich zu erklären, dass jedes deutsche "arische" Mädchen ab 1938 in dieser Pflichtorganisation Mitglied zu werden hatte. Zweimal in der Woche war "Dienst", einmal ein Sportnachmittag, das andere Mal "Heimabend", wo über Ansichten und Meinungen diskutiert werden sollte. Mir war es jedoch möglich gewesen, in der "Bannmädelsingschar" mitzusingen. Wir probten vor allem mehrstimmige Volkslieder für verwundete Soldaten in Leipziger Lazaretten. Meine Mutter hatte durchgesetzt, dass ich nur einmal pro Woche zur Chorübung zu erscheinen brauchte, aufgrund meiner Vertretung für den Organisten, der Soldat sein musste. Meine Eltern benötigten staatliche Beihilfen, um uns Kindern den Besuch der "Oberschule" und den Instrumentalunterricht zu ermöglichen. Bei den alljährlichen Anträgen für diese Unterstützung musste auch eine Befürwortung der "BDM-Führerin" vorgelegt werden, in meinem Fall war das die Chorleiterin.

Ironisch unterbrach mich Hans: "Ach so, für GELD haben Sie sich hergegeben und die Greueltaten und die Judenvernichtung Hitlers mitgemacht - haben Sie sich denn gar nicht geschämt?" Ich erwiderte, dass ich bei Kriegsausbruch erst 11 Jahre alt war und von den schlimmen Konzentrationslagern erst nach dem Krieg in vollem Umfang gehört habe. Hans meinte kopfschüttelnd: "Aber das war doch so bekannt, das müssen Sie doch gewusst haben!"

Ich erklärte, dass die Vernichtungslager nicht mitten in Sachsen lagen, dass man im Krieg kaum verreisen konnte, dass es bei Androhung der Todesstrafe verboten war, ausländische Rundfunksender zu hören und z. B. Fernsehen gab es hier ja noch nicht. Auch keine Radioapparate mit Batteriebetrieb, außerdem war ich als Schülerin einer reinen Mädchenschule fast nie mit Soldaten und schon gar nicht mit Angehörigen der Waffen-SS in Verbindung gekommen, überdies durften Mitwisser nichts z.B. über Massenerschießungen oder Gaskammern erzählen. "Aber, irgend etwas müssen Sie doch im Krieg über die Juden gehört haben!"

Hans gab keine Ruhe. Nun, ich war 1934 in die Volksschule gekommen, es gab keine jüdischen Lehrer. Meine Eltern redeten nicht über Politik mit uns. Ich kann mich nur besinnen, etwa 1941 in Berlin-Schöneberg ältere Menschen gesehen zu haben, die einen gelben Stern an der Kleidung trugen. Ich fragte meine Mutter und hörte nur, dass man über "so etwas" nicht zu sprechen habe. Später, 1942 in Leipzig, flüsterte mir eine Mitschülerin zu, ihre Freundin müsse die Oberschule verlassen, weil sie eine jüdische Mutter habe.

Kurz vor Kriegsende hörten wir dann - wieder zugeflüstert - dass Ruth und ihre Mutter sich die Pulsadern aufgeschnitten hätten, weil sie in ein Lager kommen sollten. Natürlich erschütterte uns junge Mädchen diese Nachricht, aber ich war damals so naiv, dass ich meinte, wegen eines Lageraufenthaltes nähme man sich doch nicht das Leben! Hinzu kam, dass dieser Tod in eine Zeit fiel, wo eine Schreckensnachricht die andere jagte. Die "Ostfront" lag jetzt schon nahe der Elbe, unsere Schule war voller Flüchtlinge, die auf Stroh in den Klassenzimmern schliefen und unter äußerst primitiven hygienischen Bedingungen vegetieren mussten.

Leipzig hatte gerade zwei schwere Bombenangriffe hinter sich, viele Menschen waren dabei ums Leben gekommen, große Teile der Stadt hatten weder Wasser, Strom noch Gas, in den Straßen roch es nach verkohltem Holz, unter manchen Schuttbergen wurde fieberhaft nach Überlebenden gesucht. Hunger hatte man auch. In wenigen Tagen wurde der Einzug der US-Truppen erhofft, - oder gefürchtet, je nach Standpunkt. Geschützfeuer war im Süden der Stadt zu hören, Gerüchte gingen um:
Der Oberbürgermeister habe mit Frau und Tochter den Freitod gewählt, weil er die Stadt ohne Kampf dem "Feind" übergeben wolle - gegen den Befehl. Grimma sei bereits in amerikanischer Hand. Lautsprecherwagen fuhren durch die Straßen und forderten die Bevölkerung auf, alle Lebensmittelmarken sofort in Waren umzusetzen, sich im Keller für ein paar Wochen einzurichten und kochendes Wasser bereitzuhalten, um nahenden "Feinden", die an Häusermauern hochklettern könnten, die Köpfe zu verbrühen, mir ist von keinem Fall in Leipzig bekannt, dass so etwas in die Tat umgesetzt worden wäre.

Vor den noch bestehenden Lebensmittelläden bildeten sich Schlangen, 4 Stunden Wartezeit waren keine Seltenheit. Hinzu weinten immer wieder Mitschülerinnen aus Angst um Väter und Brüder - oder sie trauerten bereits um sie. Alle diese Geschehnisse ließen den tragischen Hintergrund der ehemaligen halbjüdischen Klassenkameradin vergessen.

Hans hatte aufmerksam zugehört und wollte einlenken:
Er habe immer meinen tapferen Sohn bewundert, der wegen seines mutigen Aufbegehrens gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann seinerzeit (1976/1977) 9 Monate Gefängnis durchgestanden habe. "Und deswegen verstehe ich nicht, dass Sie im BDM waren!"

Wir mussten leise sprechen, schon zweimal hatte ich in früheren Tagen Lauscher an der Zimmertür entdeckt. "Wanzen" waren meines Wissens in der Hochschule für Musik nicht installiert. Schließlich fragte ich Hans direkt: "Und warum sind Sie Mitglied der FDJ, des kommunistischen Jugendverbandes, wo Sie doch diesen Staat so hassen? Ich habe Sie auch schon im Blauhemd gesehen!"

Die Antwort des jungen Mannes war verblüffend in ihrer naiven Ehrlichkeit: "Na, ich wollte doch Musik studieren, das wäre doch ohne FDJ nicht gegangen!" Ich konnte nur mit Kopfschütteln bemerken, dass ich als Kind auch nur Musikunterreicht genießen konnte an der "Musikschule für Jugend und Volk", wenn ich eine Befürwortung der BDM-Chorleiterin hatte. "Das ist etwas anderes", meinte Hans ...

Nach diesem Gespräch entschloss ich mich, Erlebtes doch einmal aufzuschreiben, um jungen Leuten, die den Krieg nicht miterleben mussten, Vielerlei zu erklären. "Irgendwann interessiert sich JEDERMANN mal für die Vergangenheit", meinte mein Sohn neulich. Ich hoffe, er hat Recht!


Helga Brachmann ist Pianistin. Sie arbeitete von 1961 bis 1975 als Korrepetitorin an den Städtischen Bühnen Leipzig und war von 1975 bis 1988 Lehrerin im Hochschuldienst an der Musikhochschule Leipzig. Heute ist sie im Ruhestand.


 

 



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