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Universität Leipzig

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Arm und Reich im sozialistischen Ungarn

Ein Bericht von Kornelia Mücksch, Schkeuditz

Die unerwartet tiefe Kluft zwischen Arm und Reich im sozialistischen Ungarn der sechziger und siebziger Jahre hat mich immer wieder betroffen gemacht.

Schon Anfang der sechziger Jahre, als ich als kleines Kind vom Campingplatz am Balaton zum ärmlichen Dorfladen einen unbefestigten, steinigen Schleichweg hügelan stieg, machte ich die Bekanntschaft mit für mich unvorstellbarer Armut. Ich kam an dem Abhang nämlich an einem Grundstück vorbei, das mit krüppligen Ästen notdürftig „eingezäunt“ war.

Auf dem so entstandenen ungepflasterten Hof vor dem Haus tummelten sich neben Hühnern und anderem Getier auch kleine Kinder, die in dem Modder spielten, wo die Tiere ihren Kot hinterlassen hatten und nicht ein einziger Grashalm mehr wuchs. Doch das Wohnhaus, ein Steinhaus, das wie ein Nebengebäude anmutete, beging die Familie nicht durch eine Haustür, sondern durch aufgehängte Lappen und Säcke. So etwas hatte ich noch nie gesehen und fragte mich, wie diese armen Menschen wohl den Winter und kalte Regenzeiten überstehen mochten.

Angsterfüllt lief ich immer schnell weiter und war froh, wenn ich im Laden zwischen den merkwürdig altertümlich aussehenden Menschen an der Reihe war, meine Waren wie z.B. Brot oder Zucker bekommen hatte und wieder verschwinden konnte. Da Obst und Gemüse in Geschäften rar und teuer waren, begannen wir Touristen es hoch zu schätzen, wenn freundliche Leute uns aus ihrem Garten mal ein paar sonnengereifte Tomaten, einen Maiskolben oder einige Eier verkauften oder gar schenkten.

Als wir in den folgenden Jahren in der Puszta unseren Urlaub verbrachten, freundete ich mich mit einer pensionierten Lehrerin an, die mit ihrem Mann ein kleines Zelt bewohnte und mit mir Ungarisch übte, während der freundliche ältere Herr stundenlang in seinem Kahn am Schilfrand saß und angelte.

Diese liebenswerten alten Leute luden uns einmal zu sich nach Szeged ein. Szeged empfand ich als eine imposante, altehrwürdige Stadt mit tiefen Häuserschluchten aus mehr oder weniger abbröckelnden Bürgerhäusern. Da ich, ein Mädchen aus ganz ärmlichen bäuerlichen Verhältnissen, noch nie ein Bürgerhaus betreten hatte, fühlte ich mich bereits überwältigt, als wir die breiten, kostbar verzierten Treppen nach oben stiegen, um endlich durch eine gewaltige Flügeltür ins Allerheiligste dieser mir so einfach erschienenen Leute zu treten.

Nach einem herzlichen Empfang wurden wir durch die pompöse Wohnung, die früher wohl Adligen gehört hatte und nun geteilt war, geführt. Hier waren die Wände und Bücherregale kostbar getäfelt. Kostbar waren auch die knarrenden Parkettfußböden und die für mich viel zu hoch erscheinenden Stuckdecken und verzierten Fensterfluchten. Doch all die Pracht hatte ihren Preis.

Obwohl ich nicht allzu viel davon verstand, begriff ich doch, dass der Pensionär wohl ein hoher Staatsdiener gewesen war, der trotz seiner sehr guten Rente ganz massiv am Essen und dem Urlaub sparen musste, um sich diese exklusive Wohnung leisten zu können. Mir als praktisch veranlagtem Menschen aber machte diese Prunkwohnung nur Angst. Ich hätte sie an Stelle der alten Leute längst aufgegeben, war ich überzeugt, denn das Lebensmittel besonders in Großstädten extrem teuer waren, hatte ich mittlerweile bemerkt.

Hier in Ungarn gab es wohl keinen Einheitspreis für die täglichen Lebensmittel wie in der DDR und wohl auch keine staatlichen Stützgelder für bezahlbare Mieten, wie uns später auch in Budapest klar wurde. Ungarn hatte vor allem Marktwirtschaft, bei der jeder zusehen musste, wo er blieb.

So gab es in Ungarn auch viele westliche Waren, von denen wir DDR- Bürger nur träumen konnten. Deshalb haben meine Eltern in Szeged z.B. Kaffee und Kakao in einem herrlich duftenden Kaffeehaus und eine schöne Lederhandtasche für Mutti erstanden. Diese Sonderausgaben mussten wir dann durch besondere Sparsamkeit wieder wettmachen.  

In den Urlaubsjahren in der Puszta habe ich mit meinen Brüdern oft die nähere Umgebung rund um unseren See durchstreift und stieß dabei auch auf ein verlassenes Grundstück, dessen zerfallendes Bauernhaus schon völlig von Obstbäumen und Gesträuch überwuchert war. Dort haben wir uns am Obst schadlos gehalten und z.B. so komische Pflaumen gegessen, von denen ich erst seit der Wende weiß, dass es Nektarinen waren.

Natürlich inspizierten wir auch den Ziehbrunnen und versuchten, uns von dort bis zur Holzveranda vorzuarbeiten. Aber der Moder und Myriaden von Mücken, die sich auf uns stürzten, schlugen uns immer wieder in die Flucht. Und leider konnten wir nie in Erfahrung bringen, warum die Bewohner ihr schönes Grundstück verlassen mussten.

Eingebettet in Weinberge fanden wir in den 70iger Jahren ein anderes ebenfalls verwahrlostes Grundstück mit einem Ziehbrunnen, einem kleinen zerrütteten Häuschen und dem unvermeidlichen, unter einem Erdhügel verborgenen Weinkeller. Vor diesem Häuschen aber saß auf einem wackligen Stuhl ein alter Pfeife rauchender Mann mit einer wilden Mähne aus grauem Haar und Vollbart.

Doch wir hatten erst nur Augen für das Feld, das sich vor uns auftat und das ringsum bestanden war mit gewaltigen Pfirsichbäumen mit herrlich großen, rotbäckigen Pfirsichen, die wie im Paradies in unglaublichen Mengen auf den Bäumen hingen und unten im Gras lagen. Der alte Mann sah unsere leuchtenden Augen und bedeutete uns, dass wir uns nehmen könnten, was wir wollten und dass wir uns Eimer holen sollten. Das ließen wir uns nicht zweimal sagen.

Mit Behältnissen ausgerüstet und begleitet von Papa kamen wir wieder und sollten uns kostenlos die Pfirsiche abpflücken, obwohl auch am Boden die herrlichsten Früchte lagen. Aber die waren für die Schweine bestimmt, wie er uns zu verstehen gab. Während wir eifrig sammelten und uns den Bauch füllten, radebrechte Papa mit dem Opa mit seinen Russischbrocken „chleb“ und „dawai, dawai“, denn wie sich herausstellte, waren beide in Sibirien in Gefangenschaft gewesen und haben sich deshalb sogleich verbrüdert.

Zum Schluss hat Papa dem alten Mann noch eine große Kruke von seinem nicht besonders guten Wein abgekauft, bevor wir uns mit äußerst gemischten Gefühlen von dem einsamen Eremiten verabschiedeten, der, umringt von herrlichem Reichtum, der ihm wahrscheinlich gar nicht gehörte, so armselig dahinvegetierte.

Doch wir hatten auch Begegnungen mit erfolgreichen und wohlhabenden Landwirten, die selbst nicht einmal Ungarn sein mussten. So machten wir auf dem Markt die Bekanntschaft mit einem alten österreichischen Ehepaar, das es schon vor Jahren hierher in die einsame Puszta verschlagen hatte. Die alten Leute, die sich freuten, wieder deutsch sprechen zu können und wohl auch neugierig auf uns DDR–Deutsche waren, luden uns 6 Personen für den Spätnachmittag zu sich ein. Für mich war es sehr romantisch, auf die Art ein echtes ungarisches Holzhaus zu betreten und vor allem auch einmal auf einer opulent begrünten Holzterrasse wie in einem vor der erbarmungslosen Sonne schützenden Nest zu sitzen und von allen Seiten von Blüten und Duft umschmeichelt zu werden.

Unsere freundlichen Gastgeber aus dem westlichen Ausland, das wir Ostdeutsche ja nie betreten konnten, weiteten auch ganz nebenbei versöhnend meinen Blick für die große deutsche Kulturtradition, zu der auch Österreich - Ungarn gehört hatte. Ich empfand nun Ungarn, das noch immer um Selbstbewusstsein rang und wohl auch mit dem Sozialismus sowjetischer Prägung haderte, als Schmelztiegel unterschiedlichster Kulturströmungen.

So war es für mich ein aufregendes Erlebnis, an diesem eigenartigen Ort einesteils die kulturelle und politische Fremdartigkeit, andererseits aber auch die Geborgenheit und Zugehörigkeit zu einer großen Kultur zu erleben. Denn wie selbstverständlich erzählte uns der alte Österreicher, dass er leidenschaftlicher Weinbauer war, hier in Ungarn preisgünstig Land erworben hatte und deshalb hier seit Jahren all seine landwirtschaftlichen Ideen auslebte und noch dabei ausreichend Geld verdiente.

Durch seine Schilderungen wurde mir auch bewusst, dass Ungarn eine völlig andere Landwirtschaft als in unserem Norden betreiben musste, denn der Bauer fuhr im Hochsommer mit seinen Arbeitsgeräten nur von 5 bis 10 Uhr früh und etwa ab 17 bis 22 Uhr abends auf die Felder. In der unerträglichen Hitze des Tages aber schlief er oder erledigte körperlich leichte Arbeiten im Schatten des Hauses und großer Bäume.

Seine Frau aber war für den Garten am Haus zuständig und zeigte uns voller Stolz ihr paradiesisch wucherndes Reich. Vor allem war ich beeindruckt von der Vielzahl stark duftender Kräuter, von denen ich noch nie etwas gehört hatte und an denen ich nun schnuppern und von einigen auch kosten durfte. Und weil wir so beeindruckt waren von all der fremdartigen Schönheit, luden die Gastgeber leider nur meine Eltern noch einmal zu einem abendlichen Essen ein. Meine Mutti war hinterher überwältigt von den Genüssen der Bohnensuppe, die die alte Kräuterfrau aus verschiedenen Fleischsorten, veredelt durch fantastische Kräuteraromen und natürlich zart schmelzenden grünen Bohnen gezaubert hatte. Noch Jahrzehnte hinterher schwärmte Mutti von der besten Bohnensuppe ihres Lebens, während ich bis heute bedaure, sie nicht geschmeckt zu haben.

Aber nicht nur Fremde aus dem westlichen Ausland, sondern auch Ungarn konnten es in Ungarn zu Wohlstand und sogar Reichtum bringen. Der fließend deutsch sprechende junge Mann Imre, der mit Papa bei stundenlangen weinseligen „Konferenzen“ beim Campingchef Jahr für Jahr Kontakte mit uns pflegte, gehörte, wie wir später bemerkten, wohl zur reichsten Familie des Ortes.

Imre, der im Familienbetrieb immer mehr Verantwortung übernahm, bewirtschaftete riesige Pfirsich- und Weinplantagen und belieferte im Juli und August vor allem die Märkte in Budapest mit seinen exklusiven grüngelben Pfirsichen, die dort als beste Sorte bei der reichsten Kundschaft Ungarns auch die exklusivsten Preise erzielten. Dazu wurden spätabends oder im Morgengrauen ab 3 Uhr die Pfirsiche vorsichtig gepflückt und in Paletten einsortiert, die Imre dann mit seinem Transporter nach Budapest in die Markthalle fuhr. Spätestens um 8 Uhr musste er alles abgeliefert haben, denn sonst kam es nicht mehr in den Verkauf, wie er uns erzählte.

Er lud uns auch einmal in sein Familienanwesen ein, das sich hinter hohen weißen Mauern verbarg. Im großzügigen Hofrondell, auf das die von weißen Säulen umlaufende Veranda des Familienhauses mündete, hatte man für uns Tische und Stühle aufgebaut. Der Vater von Imre hat uns, glaube ich, mal kurz begrüßt. Aber ich hatte den Eindruck, dass er Imres tiefe Anhänglichkeit an meinen Vater und an uns DDR – Bürger missbilligte. Imres lustige dicke Großmutter dagegen freute sich aus vollem Herzen, dass wir ihre Gäste waren und trug ein riesiges rundes Silbertablett auf ihren Schultern herbei, auf dem sich wunderbar knuspriges, noch heißes Blätterteiggebäck wie eine Pyramide türmte. So herrliches Gebäck mit den unterschiedlichsten Füllungen habe ich seither nie mehr gegessen.
Durch Imre erfuhr ich aber auch von den Schattenseiten der groß angelegten Landwirtschaft, die seine Familie betrieb. Da besonders zur Reife- und Erntezeit sowohl bei Pfirsichen als auch beim Wein viele zusätzliche Hände gebraucht wurden, war Imre darauf angewiesen, Saisonarbeiter zu beschäftigen. Und da die Bauern im Ort meist selbst mit ihrer Landwirtschaft vollauf ausgelastet waren, griff Imre auf die ortsansässigen Sinti und Roma zurück.

Er lobte ihre Zuverlässigkeit, aber nutzte natürlich ihre Notlage aus, denn diese unterste soziale Volksgruppe hatte keinen regulären Beruf und kein reguläres Einkommen. Was Imre ihnen im Verhältnis zu seinen Festangestellten zahlte, haben wir ihn nicht gefragt, aber es war wohl so viel, dass die scheuen Außenseiter Vertrauen zu ihm hatten. Imre erzählte uns nämlich, dass die „Zigeuner“ irgendwo draußen im Niemandsland in Erdhöhlen hausten, die von einem Erdwall umgeben waren. Er ermahnte uns eindringlich, niemals in solche Gegenden vorzudringen oder uns diesen Behausungen zu nähern, weil wir sonst mit einem Messer im Bauch rechnen müssten. Er selbst baute Kontakte auf, indem er die Chefs auf dem Markt oder der Straße ansprach oder, wenn es eilig war, in gehörigem Abstand zur Wallanlage laut rufend seine Anwesenheit und sein Anliegen anmeldete.

Imre warnte uns auch davor, Sinti und Roma, die mit ihren Wagen unterwegs waren, anzusprechen oder um etwas zu bitten. Selbst Imre hatte wohl große Angst vor der Unberechenbarkeit und Feindseligkeit des fahrenden Volkes gegenüber westlichen Menschen.

Wie groß das Problem mit der Heimatlosigkeit der Sinti und Roma in Ungarn war, verdeutlichte mir auch ein Besuch in Imres ehemaligem Gymnasium, in das er uns einlud. Der dortige Direktor, der uns, die wir selbst mittlerweile das Abitur anpeilten, die Schule zeigte und meinem älteren Bruder und mir die altbürgerliche Tradition des humanistischen Gymnasiums erklärte, kam schließlich auch darauf zu sprechen, dass die Kinder der Sinti und Roma selten oder nie die Schule besuchten.

Selbst wenn der ungarische Staat den Außenseitern neu erbaute Reihenhäuser anbot, um sie sesshaft zu machen und wenigstens die Kinder durch die Schule in die Gesellschaft zu integrieren, guckten am Ende die Pferde zum Fenster raus, während die Menschen wieder in Erdhöhlen hausten. Auch die Dorfpolizisten trauten sich nicht in diese gefährliche Gegend, um die Kinder gegen den Willen der Clanchefs in die Schule zu zwingen. Die Hörigkeit von Frauen und Kindern gegenüber den gewaltbereiten Oberhäuptern und deren Freiheitsdogma verhinderte so leider oft eine Integration und damit auch die Teilhabe der Ärmsten der Armen am langsam wachsenden Wohlstand der Ungarn.

Durch Imre erhielt ich aber nicht nur einen Einblick in die Erzeugung und Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte in Ungarn, sondern auch in die Verarbeitung der Weintrauben zu Wein. Imre lud uns nämlich eines Tages auch mal in die Kelterei der Weingenossenschaft, zu der sich einzelne Weinbauern des Ortes zusammengeschlossen hatten, ein. Hier empfingen uns zwei Keltermeister, die für die Wartung und Pflege der riesengroßen, silbern glänzenden Weinfässer verantwortlich waren und von deren Geschick und Erfahrung es abhing, aus den jeweiligen Weintrauben das Beste, aber auch das Ertragreichste für die Genossen zu machen.

Die Atmosphäre in diesem ziemlich professionell und industriell anmutenden „Weinkeller“ war wie in einem klinisch reinen Raum, in dem die Temperatur, Sauberkeit und Feuchtigkeit der Luft ständig überwacht wurden, denn neben den industriellen Großbehältern, deren Innenleben ständig entsprechend dem Stadium der Gärung technisch justiert wurde, zeigte man uns im hinteren Teil auch „normale“ konservative Weinfässer aus Holz. Das Gelingen dieses dort vor sich hin reifenden Weines hing nicht nur von der Holzsorte des Fasses, der Rebsorte und den weiteren Zutaten ab, sondern vor allem auch von optimalen Umweltbedingungen im Keller. Bei all den Erklärungen merkte ich bald, dass die Weingärung eine komplizierte Wissenschaft war, zu der neben jahrelanger Erfahrung vor allem auch das richtige Feeling gehörte.

Die Unterschiede des Weins lernte ich aber am besten kennen, indem ich mit meinen 16 Jahren zum ersten Mal an einer Weinverkostung teilnahm. Zuerst gab es den einfachen Wein aus dem Silberfass, an dem ich nur nippte, weil er mir zu sauer und alkoholisch schmeckte. Letztendlich aber kredenzten uns unsre Gastgeber ihre kostbare Spezialmischung, erst Rotwein und dann Weißwein.

Damit wir aber den versteckten Alkohol aushalten konnten, boten sie uns vorher noch ein frisch zubereitetes Gericht aus diesmal süßem und deshalb für uns genießbaren Paprika an, das mir auch sehr geschmeckt hat. Da ich aber noch nie Genuss an Alkohol oder Wein empfunden hatte, war ich sehr skeptisch, als auch mir nach der Mahlzeit ein volles Glas gereicht wurde. Aber welch ein Wunder – der Rotwein war genauso wie der Weißwein wie die Offenbarung der konzentrierten Seelen der von mir so geliebten roten und grüngelben Weintrauben – fruchtig, süß und einfach himmlisch.

Den Alkohol schmeckte ich gar nicht mehr, bis ich dann beim Hinausgehen in die Sonne merkte, dass ich  etwas torkelte und, meiner verwirrten Sinne nicht ganz mächtig, schwebend dem herrlichen Geschmackserlebnis nachträumte. Dieser Wein hatte mich verzaubert, und bis heute konnte kein einziges alkoholisches Getränk diesen Zauber brechen. Was waren die Ungarn doch für ein reich beschenktes Volk!

Seitdem wir in der Puszta Urlaub machten, begriff ich so nicht zuletzt auch durch die vielen Gespräche und Erlebnisse mit Imre, dass sich der Grad des Reichtums oder der Armut auf dem Lande nicht nur darin widerspiegelte, ob ein Stein- oder Holzhaus mit Schindeln oder Dachziegeln gedeckt durch einen Knüppelzaun oder eine dicke und hohe Mauer begrenzt wurde, sondern vor allem davon abhing, wie viel Landwirtschaftsfläche eine Familie besaß und wie sie sie bewirtschaftete.

In Ungarn gab es viel privaten Landbesitz und deshalb große soziale Unterschiede und Feindseligkeiten – moderne, wie volkseigene Industriebetriebe geführte Genossenschaften wie in der DDR habe ich dort nie gesehen. Und dennoch war das altertümliche, bodenständige Ungarn des Kampfes zwischen Arm und Reich für mich ein wunderbar fremdartiges Zauberland, das mich wie ein Traum durch meine Kindheit und Jugend begleitet hat, dessen Schönheiten und Geheimnisse nun inzwischen aber wohl lange in den Mühlen der Moderne untergegangen sind.


2013

 



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