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Zur Entstehung des ersten Telefonapparates der DDR mit Tastwahl

Ein Bericht von Rainer Arnold, Leipzig

Leipziger Frühjahrsmesse 1976 - mutterseelenallein stand ich niedergeschlagen auf dem Messestand des Fernmeldewerks Nordhausen. Wie nie in meinem Leben fühlte ich mich räumlich und menschlich so isoliert. Unbedacht der möglichen Folgen hatte ich als kleiner Betriebsdirektor dem Minister, dem Repräsentant von ‚Partei und Regierung‘, Schuld angelastet.

Eine Bemerkung des Ministers auf einer Konferenz der Nachrichtentechnik zu den wie allgemein üblich mit dem Finger zu drehender Nummernscheiben auf dem Telefonapparaten, hatten mich zu einer wahrheitsgemäßen aber den Minister brüskierenden Aussage veranlasst.

Das Fernmeldewerk Nordhausen bot noch immer Telefonapparate an, deren Funktionsprinzip denen der 20er Jahre ähnelte. Mit einem Finger in der zehnlöchrigen Wählscheibe musste - ähnlich wie bei einem Uhrwerk - der Nummernschalter aufgezogen werden. International im Trend und bequemer war es die Ziffernfolge, die Nummer des gewünschten Gesprächspartners, einfach einzutippen.

Nach Jahren erheblicher Qualitätsmängel am Drehnummernschalter der Telefonapparate, stellte das Fernmeldewerk Nordhausen mit den Telefonapparat Typ Alpha auf der Frühjahrsmesse 1976 erstmalig ein Spitzenerzeugnis produktionsreif  vor.  Die Bemerkung des Ministers auf der Konferenz degradierten aber dieses Produkt.

Tastwahltelefonapparate entstanden mit der sich entwickelnden Mikroelektronik. Aber nur mit einen entsprechenden Schaltkreis konnten effektive, allgemein nutzbare Telefonapparate hergestellt werden. Der Minister forderte aber solche modernen Telefonapparate auf einer Wirtschaftskonferenz der Nachrichtenelektronik vom Betriebsdirektor des Fernmeldewerkes Nordhausen mit seiner   öffentlich wirksamen Aussage, „er produziert immer noch Telefonapparate mit denen man sich den Finger brechen könne“.

Er übersah jedoch die vom Fernmeldewerk nicht zu beschaffenden Schaltkreise. Die lukrative Produktion der in hohen Stückzahlen benötigten einfachen Schaltkreise für Fernsprechtelefone war im Volkswirtschaftsplan nicht vorgesehen. Die Entwicklung und Fertigung von Schaltkreisen war für Konsumgüter, für Waschmaschinen und Kühlschränke  geplant. Telefone zählten nicht zu den Konsumgütern. Deshalb war dem Fernmeldewerk der Import der benötigten Schaltkreise aus dem ‚Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet‘ (NSW)  nicht genehmigt worden. Die verfügbaren Telefonapparate für die vorhandene Vermittlungstechnik hatten zu genügen.

Trotz alledem, die ausgestellten Telefone entsprachen sowohl in technischer Hinsicht, in der Formgebung sowie dem mechanischen Aufbau den in der Bundesrepublik Deutschland von mehreren Firmen produzierten Telefonapparaten. Jahrelang gewannen wir z.B. alle Ausschreibungen des uruguayischen Fernmeldewesens gegen bundesrepublikanische und tschechisch-slowakische Konkurrenz und spielten wertvolle Devisen ein, die uns aber nicht weiterhelfen konnten.

Der formschöne in verschiedenen Farben angebotene erstmalig vorgestellte Telefonapparat Alpha war ein ‚Hingucker‘ in der Messehalle 10 – ein neues Kleid für das bewährte Prinzip. Vor Auslieferung prüfte das Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung (ASMW) unvoreingenommen und objektiv die Weltmarktfähigkeit des neuentwickelten Erzeugnisses. Mit Berücksichtigung der abschätzigen Ministermeinung war man aber zu dem Ergebnis gekommen, die Erteilung des Gütezeichens Q trotz der hervorragenden technischen Daten nicht verantworten zu können.

In der Regel erhielten Produkte, die im Vergleich mit Spitzenerzeugnissen des Weltmarktes günstigere Kennziffern und Gebrauchseigenschaften, also Weltniveau, aufwiesen, das Gütezeichen Q. Es war eine begehrte Trophäe für die Betriebe,  konnte man doch damit die Berichte an die vielen Leitungen in der Hierarchie der Volkswirtschaft ausschmücken und auch der Minister stach damit seine Kollegen aus. Auch von den Bürgermeistern waren Kindergartenplätze und Wohnungen für die Werktätigen des Betriebes leichter zu bekommen, wenn die Erzeugnisse des Betriebes ausweisbar auf dem Weltmarkt ‚mitmischten‘.

Wie erwartet hatte auf der Messe der Minister an mich die Frage gestellt: „Wenn du alle technischen Daten erfüllst, warum bekommst du kein Gütezeichen Q  für das Gerät?“ Meine Antwort war:
                                           „Daran sind Sie Schuld Genosse Minister“

Diese Aussage, die der Wahrheit entsprach, in der knappsten unmissver­ständ­lichen Form geäußert, kam mir nachträglich wie eine selbst verschuldete Hinrichtung vor. Am gleichen Tag, dem 8. März, fand traditionsgemäß die Feier zum Internationalen Frauentag mit den fälligen Auszeichnungen verdienstvoller Werktätige statt, diesmal natürlich ausschließlich für Frauen.

Nicht in der Lage die Auszeichnungen pflichtgemäß zu überreichen, schilderte ich meinem Parteisekretär den unangenehmen Vorfall auf unserem Messestand. Hatten Parteisekretäre im sozialistischen Betrieb die letzte Entscheidungs­hoheit, so war diese bewusstseinsbildende Veranstaltung seine Veranstaltung. Das Fernmeldewerk Nordhausen hatte damals einen weniger auf die betrieblichen Prozesse Einfluss ausübenden und deshalb auch in der Belegschaft geschätzten Parteisekretär. Auf meine pessimistische Schlussfolgerung, dass er bald einen neuen Betriebsdirektor begrüßen könne. erwiderte er: „Wir sind auch noch da.“

In die angespannte Funkstille zum Kombinat kam schließlich der Anruf aus dem Sekretariat des Generaldirektors. Mit diesem sollte ich morgen, an einem Sonntag, zum Minister kommen.
Der Direktor für Forschung und Entwicklung meinte, dass er mir jetzt aus der Patsche helfen müsse und übergab mir einige halbfertige - neben dem Plan - also illegal entwickelte Muster der Tastwahlapparate und die dazugehörigen Entwicklungsunterlagen für den unheilschwangeren Gang.

So ausgerüstet ging ich in eine Auseinandersetzung  in der die Chancen so ungleich verteilt waren.  Den Hintergrund dieser Problematik hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkannt, sonst wäre es meinerseits zu der Schuldzuweisung nicht gekommen.

Die vom Minister geforderten  Tastwahltelefone waren im  NSW vorhanden und allgemein, insbesondere aber unseren Fachleuten natürlich, bekannt.  Sie weckten Wünsche, konnte doch damit im eigenen Büro Eindruck und Neid beim Besucher geweckt werden. Sie konnten aber nur als  Erzeugnis aus dem sozialistischen Wirtschaftsgebiet installiert werden. Die Herstellung solcher Geräte, insbesondere die Produktion der Tasten, vor allem aber die Beschaffung der entsprechenden Schaltkreise im eigenen Lande, war das entscheidende Hindernis für die Entwicklung.

Zum Minister schritt mein erst  kurze Zeit zuvor berufener Generaldirektor voran, ohne von meinen Schwierigkeiten Notiz zu nehmen. Ich rang, die Ergebnisse ehrgeizigen Tüftlertums in beiden Händen haltend, mit der Doppeltür des Ministerbüros. Es gelang mir nicht, diese mit dem gebührenden Anstand zu überwinden. Es begann mit einer geharnischte Kritik des Ministers „an einem unfähigen, sich seiner politischen Aufgabenstellung nicht bewussten Betriebsdirektor“.

Endlos lang, fast eine Stunde, dauerte das Abkanzeln bis auch ich das Wort erhielt. Im Verlauf meiner Ausführungen wurde der Minister zunehmend kooperativer, denn dass unser Betrieb die 30 000 Valutamark für die benötigte einhundert Schaltkreise nicht erhielt, war weder mir noch dem Generaldirektor anzulasten. Schließlich verabschiedete  mich der Minister mit dem Hinweis: „Produziere schnellstens - innerhalb eines Vierteljahres - 100 Tastwahlgeräte, ich kümmere mich um die Schaltkreise“. Beim Verlassen des Ministerbüros hielt  der Generaldirektor mir die Türen auf und ich  kam glatt aus dem Ministerbüro. Vom unsicheren überforderten Generaldirektor mit einer nichtssagenden Bemerkung verabschiedet, musste ich die neue Situation erst einmal selbst verdauen. War das eben Erlebte ein Pyrrhussieg oder hatte die Vernunft gesiegt?

In unserer Messekoje hatte  inzwischen die Gerüchteküche für Stimmung gesorgt: Ich wäre abgelöst und weitere Betriebsdirektoren würden mein Schicksal teilen. Die Weinbrandflasche war zur Hälfte geleert, als der zuständigen Abteilungsleiter des ASMW am Telefon empört mitteilte die Prüfungen seien erst jetzt abgeschlossen, unser Telefonapparat  Alpha erhielte das Gütezeichen Q. Seine vorige Begründung  zur Nichterteilung des Gütezeichens Q hätte ich missverstanden. Auf unserem Messestand erstrahlte das goldene Q.

Tastwahltelefonapparate für Privilegierte

Dank der bereits entworfenen Prototypen wardie rechtzeitige Fertigstellung der 100 Tastwahlgeräte ein geringeres Problem, als die rechtzeitige Beschaffung der Schaltkreise. Erstmalig erhielt ich Einblick in die Praxis der ‚nicht planmäßigen NSW-Importe‘. Noch rechtzeitig erhielten wir die begehrten Mikrochips ohne Antrag und Bilanzanteil. Der besonderen Aktion geschuldet, versandte ich, eine vom Generaldirektor übergebenen Liste folgend, die Muster ordnungsgemäß mit Erprobungsvertrag an verschiedene Institutionen, um diese an der vorhandenen Vermittlungs-technik zu erproben.

Völlig überraschend stand kurz darauf eine Kontrollgruppe des Zentralkomitees der SED vor der Tür um zu prüfen, was mit den gelieferten Schaltkreisen geschehen sei. Mit dem für das interne Nachrichtenwesen des ZK verantwortlichen Leiter verstand ich mich bisher ausgezeichnet. Seine Sonderwünsche nach Ersatzteilen und Sonderanfertigungen bearbeitete ich persönlich und wir lieferten natürlich zur vollen Zufriedenheit seiner Auftraggeber. Nun inspizierte er im höchsten Auftrag.

Natürlich konnten Schaltkreise in der Entwicklungswerkstatt oder bei den Werktätigen nicht einfach verschwinden.  Das Protokoll über die Differenzstückzahl, die bei der Erprobung defekt und zerstört wurden, war korrekt, es nannte vollzählig die Gründe der Verschrottung, auch ich hatte unterschrieben. Jedoch, die ausgefallenen Schaltkreise waren nicht  aufzutreiben. Dass einige Schaltkreise an das Funkwerk Erfurt gegangen waren, in der Hoffnung dort eine Schaltkreisentwicklung anzuschieben, war in der Planwirtschaft nicht statthaft.

Beim Mittagessen im kleinen Kulturraum nach dem Genuss alkoholischer Getränke, sagte der Leiter der Kontrollgruppe: „Weißt Du was Du falsch gemacht hast? Du hast die Hierarchie nicht beachtet. Entweder hättest Du weniger oder mehr Geräte ins ZK liefern müssen.“ Ohne Kenntnis der verzweigten Hierarchie des ZK brachten zwanzig Erprobungsmuster, die offensichtlich genau beachteten Einflussebenen durcheinander.

Zusätzliche Geräte konnten wegen der fehlenden Schaltkreise nicht gefertigt werden. Es mussten mehr Geräte ins Zentralkomitee. Unvorstellbar war mir, dass in ‚Partei und Regierung‘ mit der Zuordnung der Testgeräte infolge kleinbürgerlichen Geist sich Rang und Einfluss verband. Im Ergebnis der Kontrolle gab es nur noch wenige Erprobungsmuster im Betrieb. Der Direktor für Forschung und Entwicklung und auch der Betriebsdirektor nahm an der Erprobung nicht mehr teil. Von den Institutionen, die die Erprobungsberichte hätten übergeben müssen, hörten wir nichts mehr; die Erprobungsmuster kehrten ebenfalls nicht zurück.

Späte Aufklärung

Es war deutlich, ein Tastwahlapparat, der zu den vorhandenen Vermittlungen passte, war von den individuellen Wünschen leitender Funktionäre abgesehen, zweitrangig. Erst später wurde klar, warum die DDR in der Fernsprechstellendichte als hochindustrialisiertes Land  international Mittelmaß war. Mein Vorschlag, den volkswirtschaftlich äußerst nachteiligen Zustand  wenigsten durch zeitweise Zuschaltung der vorhandenen moderne Vermittlungstechnik zahlreicher militärischer und anderer  Institutionen zu beheben, wurde als naiv abgetan. Die Überwachung eines kleineren Nachrichtennetzes war eben wesentlich einfacher.

In der Folge versuchte der Betrieb mit einer sowjetischen Lizenz Tastwahlapparate zu produzieren.  Deren Aufwand an Bauelementen und die Anpassung an unsere Standards waren sehr kostspielig und setzten der Fertigung Grenzen. Letztlich entscheidend für die Bevölkerung war jedoch die Tatsache, dass nicht der Telefonapparat,  sondern der Besitz eines Fernsprechanschlusses das entscheidendere Kriterium war. So  schleppten sich die Versuche, eine größere Produktionsstück-zahl aufzulegen bis Ende der 80er Jahre hin.

Nach der Wende lösten sich die Probleme durch Zugriff auf die inzwischen zur Massenware gewordenen Schaltkreise und zur modernen elektronischen Nachrichtentechnik fast von selbst. Die Telekom und andere Telefongesellschaften bauten das Telefonnetz zügig aus und stellten bald ausreichende Fernsprechanschlüsse für jeden zur Verfügung. Das Fernmeldewerk Nordhausen wurde nach der Wiedervereinigung von der Treuhand liquidiert.


März 2014

 



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