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Universität Leipzig

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Meine erste Arbeitsstelle im Jahre 1945 und ihr weiteres Schicksal

Ein Bericht von Dr. Hubert Marusch, Leipzig

In meiner Heimat in Schleife/Oberlausitz (in Niederschlesien an der Grenze zu Brandenburg an der Bahnlinie Cottbus - Görlitz gelegen) begann im Jahre 1935 in den nördlichen Kiefernwäldern auf einer Fläche von 150 ha der Bau einer Munitionsfabrik (Luft- Hauptmunitionsanstalt Weißwasser O/L), im Volksmund Muna genannt. Zunächst war alles sehr geheimnisvoll, und es hieß, dass hier eine Hühnerfarm entstehen würde. Allmählich sprach es sich herum, dass Flakmunition (Flak = Flugabwehrkanone) produziert wird.

Nach dem verlorenen Krieg besetzte die Rote Armee die Muna, die trotz der hier stattgefundenen Kampfhandlungen (17./18 4.1945) keine Schäden aufwies.

Im Juni 1945 gab es wieder elektrischen Strom, nachdem die 10- kV- Leitung von Döbern /Niederlausitz bis Schleife instand gesetzt worden war (in Döbern hatte die Rote Armee einen Flugplatz gebaut, dem die Strommasten weichen mussten).

Nun bekam auch die Muna Strom. Allerdings brauchte man einen Fachmann, der die Versorgung (elektrischer Strom, Wasser, Telefon) wieder in Ordnung bringen konnte. Im Hause meiner Eltern wohnte ein Elektromeister, der bereits früher hier gearbeitet hatte. Er nahm mich und einen Klempner mit. So begann für mich das Arbeitsleben, allerdings ohne Lohn, nur mit Verpflegung. Diese war zu dieser Zeit wichtiger als Geld!

Früh gingen wir zuerst in die Kantine und aßen eine Schüssel Brühkartoffeln. Mittags gab es wieder Brühkartoffeln, allerdings mit einem Kanten recht klitschigen Vollkornbrotes. Dazu erhielten wir noch eine Schüssel Kascha, eine Art Grützebrei mit Öl. Es schmeckte wunderbar!

Abends wurden wieder Brühkartoffeln mit Brot verzehrt. Natürlich nahmen wir etwas von dem Essen mit nach Hause. Die einfachen Soldaten erhielten das gleiche Essen. Dies ging tagein und tagaus so. Es gab keine Abwechslung, doch wir waren zufrieden! Die Offiziere hatten einen eigenen Koch, der immer ein Menü mit mehreren Gängen servierte.

Die Muna verband ein Anschlussgleis mit dem Bahnhof Schleife. Am Werkseingang befand sich das mehrstöckige Verwaltungsgebäude, in der Nähe gruppierten sich die Produktionshallen. Im Gelände verstreut lagen die Munitionsbunker, halb in die Erde eingegraben und mit einer dicken Erdschicht bedeckt. Darauf hatte man Kiefern gepflanzt.

Alle Bunker waren mit einem Netz von Betonstraßen verbunden. Als wir mit der Arbeit begannen, waren die meisten Hallen und Bunker noch verschlossen, d. h. sie befanden sich in dem Zustand, wie sie die Deutsche Luftwaffe verlassen hatte.

Weiter hinten wird über die komplette Zerstörung, die nachfolgende neue Besetzung und Verwendung als Tanklager sowie über die friedliche Nutzung nach der Wende berichtet /1/.

Unsere erste Aufgabe bestand darin, das Wasserwerk in Gang zu setzen und rings um das Gelände Telefonleitungen für die notwendigen Außenposten zu verlegen. Unser Ansprechpartner war ein Unterleutnant, der sehr gut deutsch sprach.

In einer großen LKW- Garage befand sich eine kleine Werkstatt, die wir mit Beschlag belegten. Hier stand auch ein Elektrokarren, den wir wieder herrichteten. Nun waren wir beweglich und konnten das große Gelände befahren. Bei diesem Karren stand der Fahrer vorn auf einem Podest und lenkte mit einem langen Hebel, der auf der rechten Seite angebracht war.

Im Verwaltungsgebäude standen im Sommer oft die Fenster auf, und wir konnten den Berliner Rundfunk hören, schließlich waren wir vom Weltgeschehen völlig abgeschnitten! So erfuhren wir, dass der britische Premier Winston Churchill die Unterhauswahlen verloren hatte und dass nun sein Nachfolger Attlee an der Potsdamer Konferenz der vier Siegermächte (17.7.- 2.8.1945) teilnehmen wird, und dass die USA eine Atombombe über Hiroshima abgeworfen hatten.

Natürlich gab es viele Gerüchte, z. B. die USA und Großbritannien würden einen Krieg gegen die Sowjetunion vorbereiten und benötigten dazu die Erfahrungen der deutschen Soldaten. Die Kirchturmuhr im Dorf zeigte die Moskauer Zeit an, d. h. sie ging gegenüber der mitteleuropäischen Zeit zwei Stunden vor.

Mitte Juni hingen in Schleife überall Plakate mit einem Aufruf der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) vom 11. Juni 1945 über die Zukunft eines antifaschistisch- demokratischen Deutschlands. Wir lasen die Plakate mit großem Interesse. Es war schließlich die erste Meinungsäußerung über die mögliche Entwicklung in Deutschland.

Aus der Sowjetunion kehrte der Kommunist Ferdinand Greiner, der wohl 1933 nach dort geflüchtet war, nach Weißwasser zurück. Er hatte am spanischen Bürgerkrieg als Offizier teilgenommen. Nun fanden mit ihm überall große öffentliche Kundgebungen statt, in denen er den Hitlerfaschismus geißelte.

Täglich kontrollierten wir das Wasserwerk. Darin war es in der Sommerhitze des Jahres 1945 angenehm kühl. Das Wasserwerk lag etwas abseits auf der Südseite des Geländes in der Nähe des Zaunes. Hier war der Zaun an einer Stelle aufgerissen, und wir konnten gelegentlich beobachten, wie Soldaten mit einem Ballen Seide (Stoff, aus dem die Säckchen für das Schwarzpulver in den Granaten genäht wurden) das Gelände verließen, um damit deutsche Freundinnen zu beglücken.

Die deutsch- sowjetische Freundschaft funktionierte bereits in dieser frühen Phase ohne die spätere Propaganda! Natürlich benutzten wir auch gelegentlich diesen "Eingang", um zur Arbeit zu gelangen.

Überall in den Hallen lag viel Werkzeug herum, und es gab auch andere Dinge, die zu Hause abhanden gekommen waren wie z. B. Spaten, Äxte, Sägen und Glühbirnen. So konnten wir uns auch mal bedienen!

Den größten Spaß, aber auch gelegentlich Ärger bereiteten mir die Fahrten mit dem Elektrokarren nach dem etwa 10 km entfernten Weißwasser. Ich war ja noch nicht 18 Jahre, doch wen interessiere das schon? Hier fuhr immer ein Sergeant mit. In Weißwasser hielten wir vor der Kommandantur.

Die Fassade dieses Hauses war mit einem überlebensgroßen Gemälde Stalins und mit vielen Bildern und Losungen ausgestaltet. Nachts wurde das Ganze mit Scheinwerfern angestrahlt. In der Kommandantur holte mein Sergeant eine Bescheinigung und dann ging es in die Schnitter- Brauerei. Hier wurden mehrere Fässer und Kästen mit Bier aufgeladen.

Kurz vor der Einfahrt zur Muna musste ich anhalten. Der Sergeant ging vor und guckte ob die Luft rein ist, d. h. keine neugierigen Blicke auf unsere Ladung fallen konnten. Erst dann ging es aufs Gelände vor das Verwaltungsgebäude, wo die Fässer und Kästen schnell entladen wurden.

Gelegentlich gab es eine Reifenpanne. Dann musste das Rad hochgebockt, demontiert und der Schlauch geflickt werden. Die russische Gummilösung aus Rohgummi und Benzin klebte sehr gut, so dass die Arbeit schnell erledigt war. Allerdings war das Aufpumpen des Reifens eine schweißtreibende Arbeit!

Einmal wollte unser Sergeant den Elektrokarren selbst fahren. In einer Kurve war er zu schnell, so dass ein Kasten Bier herunterfiel und natürlich einige Flaschen zu Bruch gingen. Diese warfen wir in den Straßengraben, und die restlichen Flaschen tranken wir aus. Der Alkohol wirkte in der Sommerhitze schnell und so ging es nicht immer geradeaus. Doch dies spielte keine Rolle, da die Straßen sowieso leer waren.

In Weißwasser nahm die Oberschule im Oktober 1945 den Unterricht auf, und ich fuhr wieder zur Schule. Mein zwei Jahre jüngerer Bruder übernahm nun meine Tätigkeit.

Im Nachhinein entstand für mich die Frage, wieso konnten wir als Deutsche unbehelligt und völlig frei ohne Ausweis und Kontrolle in einem von der Roten Armee okkupierten Objekt arbeiten? Ich habe bis heute keine Antwort!

Im Jahre 1946 begann die Demontage der Muna. Die Technik des Wasserwerks, Elektrokabel und vieles Andere wurden geborgen, in Holzkisten verpackt und nach der Sowjetunion abtransportiert. Danach sprengte man alle vorhandenen Bauten, Bunker und Betonstraßen. Nun wurde um ein ca. 70 ha großes Areal ein 3 m hoher Bretterzaun gezogen und an den Eckpunkten Wachtürme errichtet, natürlich alles in der von anderen Objekten bekannten Farbe grün gestrichen. Der Wald ist bis zu einem Abstand von 50 m abgeholzt worden.

Zum Beginn der 50er Jahre fing die Rote Armee mit dem Aufbau eines neuen Objekts an. Von außen konnte man beobachten, dass ein Wohnhaus für Offiziere und ihre Familien errichtet wurde. Später entstanden viele weitere Gebäude, u. a. auch Ställe für Schweine und Rinder.

Auf dem Bahnhof in Schleife kamen Güterzug um Güterzug beladen mit Tankbehältern an; dann waren es Güterzüge mit Kesselwagen. Damit war klar, dass ein riesiges Tanklager errichtet wurde. Gleichzeitig ging der Aufbau des Objekts weiter. Am 7.10.1974 übergab die SED- Kreisleitung Weißwasser der Garnison ein Kulturhaus, das von den Betrieben des Kreises finanziert wurde.

Im Sommer 1992 begann die Räumung des Objekts. Am 11.3.1993 verließen die Letzten das Gelände, das sie 48 Jahre "bewirtschaftet" hatten. Es wird eingeschätzt, dass auf dem Gelände bis zu 50.000 m3 Treibstoff (Benzin, Diesel, Kerosin) lagerten.

Bei dem Fassungsvermögen eines Kesselwagens von 50 m3 wären dies 1000 Wagen und bei 50 Wagen pro Zug 20 Güterzüge. H.M.

Am 6.3. 1998 unterzeichnete die Gemeinde Schleife den Überlassungsvertrag mit dem Bundesvermögensamt (BVA). Gleichzeitig wurden beträchtliche Bundesmittel zur Entsorgung des Geländes bereitgestellt.

So konnten 16,2 ha Ödlandfläche wieder aufgeforstet, ein Radweg quer durch das Gelände und mehrere Biotope angelegt werden. Es siedelten sich einige Firmen an. Ein Geflügelverein und der Schützenverein erhielten Grundstücke und Gebäude, nachdem sie in Eigeninitiative Aufbauarbeit geleistet hatten.

Damit ist einem Gelände, das einer Rüstungsproduktion für einen Krieg und einer nachfolgenden langjährigen Besatzung mit vielen Umweltschäden gedient hatte, neues und friedliches Leben eingehaucht worden.


Literatur
/1/ Hantscho, Helmut: Die Luft- Hauptmunitionsanstalt Weißwasser O/L

Gesamtherstellung: Lausitzer Druck- und Verlagshaus GmbH Bautzen 2005, 55 Seiten


Mai 2014

 



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