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Industrieforschung und -entwicklung in der DDR

- dargestellt am Beispiel des Mehrscheiben-Isolierglases -

Ein Bericht von Dr. Hubert Marusch, Leipzig


Die Forschung und Entwicklung in der DDR wurde sowohl in den einzelnen Industriebetrieben als auch in den den Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB) zugeordneten Forschungseinrichtungen (Institute oder Wissenschaftlich Technische Zentren WTZ) durchgeführt. Sie umfasste das gesamte Spektrum wirtschaftsspezifischer Grundlagenforschung bis zur Entwicklung von Erzeugnissen, Maschinen und kompletten Produktionsanlagen.

Unabhängig davon lief die Forschung in den Instituten der Akademie der Wissenschaften und einigen zentralen Instituten wie dem Zentralinstitut für Schweißtechnik Halle (ZIS) oder dem Forschungsinstitut Manfred von Ardenne (IvA). Allerdings gab es hier eine vielfältige Zusammenarbeit mit der Industrie.

Basis für die Forschung und Entwicklung waren immer die Pläne Wissenschaft und Technik.

Das Mehrscheiben-Isolierglas und seine Bedeutung

Mehrscheiben-Isolierglas ist ein Bauelement, das heute aus dem modernen Bauen nicht mehr wegzudenken ist. Je nach Aufbau kann es verschiedene bauphysikalische Funktionen erfüllen:
- Wärmedämmung
- Schallschutz
- Sonnenschutz (auch als Rollo im Scheibenzwischenraum)
- Brandschutz
- Angriffshemmung
- Verhinderung Durchsicht
- Dekoration (Sprossen, Wölbscheiben)
- Fotovoltaik (äußere   Glasscheibe)

Nutzen für den Fensterhersteller:
- Steigerung der Produktivität
- Materialeinsparung

Nutzen für den Anwender:

- Verbesserung des Komforts in Räumen und in Eisenbahnwaggons
   * kein Feuchtebeschlag im Scheibenzwischenraum und auf der Raumseite
   * erleichterte Scheibenreinigung, vereinfachter Rahmen- Farbanstrich.

Internationale Entwicklung

In Deutschland begannen in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts Versuche zur Herstellung eines Doppelglases durch Verkleben von zwei Scheiben auf Distanz mit Abstandshaltern aus Holz oder aus Glasstreifen mit Bitumen. Im Jahre 1934 erhielt der "Fliegende Hamburger" (Schnelltriebwagen Berlin-Hamburg) Doppelglasscheiben. Sollten sich Undichtigkeiten zeigen, wurden die Scheiben während anderer Reparaturen ausgewechselt.

Im Jahre 1950 wurde in den USA ein Patent erteilt, welches das Verlöten eines Bleiabstandhalters (150 g Blei pro laufenden Meter) mit verkupferten und verzinnten Scheibenrändern vorsah. Der geschützte Markenname war "Thermopane". Ab 1952 begann die Produktion dieser Scheiben in Deutschland (Glas- und Spiegelmanufaktur Gelsenkirchen-Schalke) nach einer Lizenz aus den USA. Thermopane war damals der Inbegriff hoher Qualität.
Parallel dazu wurde weiter an der Entwicklung geklebter Scheiben gearbeitet, sowie Verfahren zur Herstellung von Ganzglas-Isolierglasscheiben entwickelt.

Gegen Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts musste die Thermopane- Produktion eingestellt werden, da sich im Bleiband Mikrorisse zeigten, die zum Eintritt von Feuchtigkeit in den Scheibenzwischenraum führte. Auch waren die Produktionskosten höher als bei den geklebten Scheiben.

Entwicklung in der DDR

Ende der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts mehrten sich die Forderungen des Waggonbaus, des Kühlmöbelbaus, des Stahlfensterbaus und etwas später auch des Holz- und Kunststofffensterbaus auf Entwicklung einer Isolierglasscheibe. Im Herbst 1962 wurde eine kleine Versuchsproduktion im Flachglaswerk Radeburg aufgebaut.

Ich begann meine Tätigkeit im WTZ (Wissenschaftlich Technisches Zentrum) Bauglas Anfang 1964. Meine erste Aufgabe war die Erarbeitung einer Studie zur weiteren Entwicklung des Isolierglases in der DDR.

Das Verschweißen der Scheibenränder war problematisch (komplizierte Technologie, nur kleine Scheibenformate mit Scheinabständen von 6 bis 8 mm möglich). Das Thermopane-Verfahren ließ sich aufgrund der Mengen an Bleiband in der DDR nicht realisieren.  Deshalb blieb das Verkleben der Scheibenränder mit einem Dichtstoff die Lösung für die DDR.

Allerdings benötigten wir Abstandhalterprofile aus Aluminium, Klebebänder zur Fixierung der Abstandhalter, Trockenmittel (Kieselgel bzw. Molekularsieb) und Dichtstoffe.
Aluminium-Abstandhalterprofile waren nicht lieferbar, so dass wir in Eigeninitiative eine Profilieranlage zur Herstellung der Abstandhalter aus Aluminiumband entwickelten und bauten. Die Klebebänder wurden importiert. Kieselgel konnte nur in körniger Form und nicht in der richtigen Körnung geliefert werden, so dass das Gel gesiebt werden musste. Als Dichtstoff stand ein organisches Polysulfid aus dem Chemiewerk Greiz-Dölau zur Verfügung, allerdings wollte man nur das Grundpolymer liefern, so dass wir selbst die geeignete Rezeptur entwickeln mussten.

In der DDR hatte sich die Bezeichnung "Thermoscheibe" als Übersetzung des Begriffs "Thermopane" durchgesetzt. Ich wollte die in Westdeutschland übliche Bezeichnung Mehrscheiben-Isolierglas auch bei uns einführen. Der Vertreter des Instituts für Ausbautechnik der TU Dresden in unserer Arbeitsgruppe meinte, dass man Stromleiter isolieren kann, aber kein Glas. Diesem Argument hatte ich nichts entgegenzusetzen, so dass sich erst nach der Wende auch bei uns die Bezeichnung Isolierglas durchsetzte.

In den Jahren 1971/1972 wurde in einer neuen Halle im Flachglaswerk Radeburg eine komplette Horizontal-Fließlinie vom Auflegen der Einzelglasscheiben auf die Waschmaschine bis zum Absetzen der fertigen Isolierglasscheiben auf speziellen Paletten entwickelt und gebaut (Glasmaschinenbau Coswig und WTZ-eigener Ratiomittelbau).

Da die Aushärtung der Randabdichtung bisher 10 bis 20 Stunden beanspruchte und dies für eine Großproduktion zu lange dauerte, entwickelten wir eine Aushärtestrecke mit Infrarot-Strahlern, so dass die Aushärtung nur 2 x 10 Minuten dauerte. Nun konnten die Alu-U-Profile, die als Kantenschutz dienten, eingespart werden. Allerdings waren allein für die Elektrik mit mechanisch betätigten Endschaltern sieben große Schaltschränke für die Relais notwendig! Auch der Dichtstoff aus dem Chemiewerk Greiz Dölau wurde zunächst weiterhin nach einer Rezeptur aus dem Institut für Leichtbau Dresden selbst hergestellt, bis das Chemiewerk eine Fertigungsstätte für den Dichtstoff plus Härter in einem Schieferwerk in Lehesten an der Grenze zu Westdeutschland aufbaute.  

Wollte man dort hin, musste man allerdings bei der Polizei im Heimatort eine Genehmigung für die Einreise in die 5 bis 15 km breite Grenzzone zur Bundesrepublik beantragen.

Reklamationen

In der DDR wurden die Fenster in einem voll ausgefülltem Kittbett verglast. Allerdings wurde der Kitt allmählich hart und spröde, so dass Wasser in den Falz eindringen konnte und die Randabdichtung der Isolierglasscheiben löste. Unsere Forderung an den größten Fensterhersteller in der DDR, die Fensterverglasung auf einen dauerelastischen Dichtstoff umzustellen, scheiterte, einmal weil der Fensterhersteller meinte, er müsse auf diese Weise die Dichtheit der Isolierglasscheiben sichern und zum anderen weil einfach ein dauerelastischer Dichtstoff in den erforderlichen Mengen nicht zur Verfügung stand. In Westdeutschland hatte sich längst ein dichtstofffreier Falzgrund und eine Versiegelung mit einem dauerelastischen Dichtstoff durchgesetzt.

Im Frühjahr 1982 musste ich zu einer dringenden Reklamation nach München fahren. Es waren Isolierglasscheiben aus unserem Export in die Bundesrepublik aus dem Jahre 1975 undicht geworden. Bei der Besichtigung der Scheiben war ein Sachverständiger der Handwerkskammer München anwesend. Im Gespräch erklärte er mir, dass er sehr verwundert sei, da gerade an den Isolierglasscheiben aus der Produktion in der Bundesrepublik in der Zeit um 1975 viele Reklamationen angefallen seien. Natürlich wusste ich die Ursache, die in der unzureichenden Feuchtebeständigkeit der Randabdichtung lag, doch ich sagte nichts! Damit wusste ich nun, dass die Produzenten in der Bundesrepublik die gleichen Probleme wie wir hatten. Es war ein langer und komplizierter Weg, bis eine zufriedenstellende Lösung gefunden wurde.

Isolierglasscheiben mit doppelter Randabdichtung

Im Jahre 1969 sah ich anlässlich einer Dienstreise nach Mannheim zwecks Kauf einer Dichtstoff-Verarbeitungsmaschine auch die Isolierglasfertigung in einem Betrieb im Schwarzwald. Hier arbeitete man mit einer doppelten Abdichtung, indem auf das Abstandhalterprofil eine dünne Schnur eines Butyldichtstoffs aufgetragen und mit den beiden Glasscheiben verpresst wurde. Danach erfolgte die Abdichtung der Randnut mit Thiokol. Für mich war sofort klar, dass dies auch in der DDR die Zukunft sein würde. Allerdings begannen damit die Probleme: Wir brauchten Abstandhalterprofile mit einem anderen Querschnitt, Butyldichtstoff und dazu gehörige Verarbeitungsmaschinen sowie komplette Rahmen aus den Abstandhalterprofilen.

Im Jahre 1972 begannen wir mit den Entwicklungsarbeiten. Das Schwierigste war die Beschaffung eines Butylextruders, da er importiert werden musste. Für die eigenen Entwicklungsarbeiten bauten wir uns einen kleinen Handextruder. In der Zwischenzeit gelang es dem Flachglaswerk Aken eine neue Profilieranlage zu importieren, in der der Stoß der gefalzten Abstandhalter-Profile jetzt mittels Hochfrequenz verschweißt wurde. Auf der dem Scheibenzwischenraum zugewandten Seite ließen sich zwei Reihen von Perforierungen anbringen, auch war nun die Kennzeichnung der Scheiben durch Einprägung der technischen Daten möglich. Die zentrale Reinigung der Profile von den Ölrückständen ließ sich nicht realisieren, und so waren weiterhin Reinigungsanlagen in jedem Betrieb erforderlich.

Nicht lösbar war die Beschaffung von Aluminiumblechen aus einer biegefähigen Legierung. Wir mussten weiterhin mit Reinaluminium  arbeiten. Damit waren wir auf die Herstellung von Rahmen mit Einsteckwinkeln angewiesen.

Im Jahre 1975 gelang endlich der Import eines Butylextruders, so dass wir mit der Versuchsproduktion beginnen konnten. Doch nun kritisierte uns der Werksleiter des Werkes Radeburg, dass er für die Versuchsproduktion eine Arbeitskraft mehr benötige. Deshalb fuhr ich mit meinen Mitarbeitern mit zwei PKW nach Radeburg. Wir wiesen in einer Sonderschicht nach, dass für die neue Technologie kein Mehrbedarf an Arbeitskräften besteht.

In den Jahren bis 1980 konnte die gesamte Isolierglasproduktion der DDR, die inzwischen 2,5 Mio m2 pro Jahr erreichte, davon ca. 500.000 m2 Export - hauptsächlich in die Bundesrepublik - auf die doppelte Abdichtung umgestellt werden. Inzwischen lieferten eine Firma in Österreich und eine Firma in Westdeutschland komplette Fließlinien für die Produktion von Isolierglas, allerdings nun auf einer Rollenbahn mit einer Neigung von etwa 50 von der Senkrechten nach hinten für den Transport der Scheiben. Dem konnten wir in der DDR nichts entgegensetzen, so dass zunächst eine komplette Anlage importiert wurde. Allerdings traten nun Probleme mit der Maßhaltigkeit sowohl der Glasscheiben als auch der Abstandhalterprofile auf.

Ab 1986 wurde die Isolierglasfertigung im Flachglaswerk Torgau durch die Materialprüfungsanstalt (MPA) Darmstadt nach einer DIN-Norm überwacht.

Bei vielen F/E-Themen, die vorrangig auf die Realisierung neuer Anlagen und die Verbesserung bestehender Technologien zielten, wurde Neuland betreten. Die wirtschaftliche Situation in der DDR (kaum direkte Kontakte mit dem westlichen Ausland, Zusammenarbeit im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe mangelhaft, Zulieferindustrie in der DDR wenig leistungsfähig) erschwerte die F/E-Arbeiten und führte zu zahlreichen eigentlich nicht notwendigen Eigenentwicklungen. Dabei wurden wertvolle F/E-Kapazitäten unnötig gebunden.

Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut Manfred von Ardenne (IvA)

Im Jahre 1967 führten wir erste Gespräche mit dem Forschungsinstitut Manfred von
Ardenne zwecks gemeinsamer Forschungs- und Entwicklungsarbeiten. Die moderne Architektur mit der großflächigen Anwendung von Glas im Gesellschaftsbau hatte Probleme mit der Aufheizung der Räume. Deshalb begann nun die Entwicklung von Sonnenschutzgläsern.

Da uns Gold als Reflektionsschicht auf dem Glas nicht zur Verfügung stand, wurde die Entwicklung mit Kupfer als Reflektionsschicht begonnen. Inzwischen war im IvA anstelle der Hochvakuumbedampfung die Kathodenzerstäubung (Magnetron-Beschichtung oder Sputtern) entwickelt worden. Dieses Verfahren benötigte ein geringeres Vakuum und erreichte wesentlich höhere Leistungen. Auf dieser Grundlage wurde die erste Magnetron-Anlage in unserem Werk in Potsdam-Babelsberg aufgebaut.

Im Jahre 1972 begann die Versuchsproduktion des neuen Sonnenschutzglases, das in einem Isolierglas verbaut wurde. Bald sah man in repräsentativen Bauten sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik leicht violett schimmernde Isolierglasscheiben.

In der Folgezeit wurden mit der Magnetron-Technik verschiedenfarbige Spiegel entwickelt, die im Jahre 1985 im Farbenglaswerk Weißwasser in die Produktion überführt wurden. Im Jahre 1987 wurde die Produktion von Glaskippdächern für PKW mit einer Titannitrid-Beschichtung aufgenommen.
Zur Verbesserung der Wärmedämmung der Isolierglasscheiben begann die Entwicklung von silberbeschichteten Glasscheiben. Für die Fertigung dieser Scheiben wurden bereits Anlagenteile hergestellt. Doch nach der Wende waren diese wertlos, da jetzt Anlagen für größere Scheibenabmessungen benötigt wurden. Im Flachglaswerk Torgau konnte im Jahre 1992 die erste Beschichtungsanlage, jetzt von einer westdeutschen Firma, aufgebaut werden. Die Mitarbeiter von IvA waren hier nur Zaungäste. Dies sollte sich bald ändern, denn die aus dem IvA hervorgegangene "Von Ardenne Anlagentechnik" lieferte jetzt Anlagen, die führend im Weltmaßstab waren.

Zusammenarbeit im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW)

Im Rahmen des RGW war die Zusammenarbeit schwierig. So erarbeitete ich eine Technologie zur Isolierglasfertigung, die auf einer Beratung in Moskau verabschiedet und der Arbeitsgruppe Glasmaschinenbau des RGW übergeben wurde. Die Glasmaschinenbauer tagten noch einige Male in Moskau, doch zum Bau der Ausrüstungen kam es nie!

Die Vertreter verschiedener sozialistischer Länder besuchten uns oft zum Erfahrungsaustausch. Allerdings war ich entsetzt, als ich anlässlich von Dienstreisen im Jahre 1977 in Ungarn und Rumänien kleine Isolierglasfertigungen nach dem Thermopane-Verfahren sah. Die Anlagen verursachten beim Aufspritzen von Kupfer und Zinn auf die Scheibenränder einen gewaltigen Lärm, so dass die Arbeiter Gehörschutz tragen mussten.

Wie ging es nach der Wende 1989 weiter?

Die fünf Isolierglasproduzenten in der DDR hatten alle noch vor der Wende moderne Isolierglaslinien aufgebaut, so dass sie im Rahmen des neuen Eigners der Flachglasindustrie überlebten und weiter produzierten. Nun gab es keine Probleme mit den Zulieferungen mehr. Aluminium-Abstandhalter-Profile wurden bereits gereinigt geliefert. Das Biegen zu Rahmen war selbstverständlich. Trockenmittel standen nun in der gewünschten Korngröße und Qualität zur Verfügung. Die beiden Dichtstoffe (Butyl und Thiokol) lieferten nun Firmen aus Westdeutschland.

Inzwischen ging die Entwicklung besonders im Hinblick auf die Verbesserung der Wärmedämmung weiter. Anstelle der Aluminium- Abstandhalter setzte sich ein thermoplastischer Abstandhalter durch, der gleichzeitig das Trockenmittel enthält


Oktober 2014

 



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