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Schwierigkeiten bei der Planerfüllung in DDR Betrieben

Ein Bericht von Rainer Arnold, Leipzig


In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts kursiert bei den Betriebsdirektoren der DDR folgender Witz:

Ein Betriebsdirektor wird abgelöst! Er übergibt seinem Nachfolger 3 Briefe, gekennzeichnet mit den Ziffern 1 bis 3 und der Erläuterung: „Wenn du in Schwierigkeiten kommst und nicht mehr weiter weist, dann öffne die Umschläge in der vorgegebenen Reihenfolge“.

Als der Betriebsdirektor die erste schwierige Situation nicht meistern konnte, öffnete er den 1. Brief und las: „Schiebe alle Mängel und Schwierigkeiten auf deinen Vorgänger“.

Nach einiger Zeit wurde das nicht mehr akzeptiert und so griff er zum zweiten Brief. Er enthielt den Hinweis: „Schiebe alles auf die Materialprobleme“.

Der Betrieb kam nicht aus den roten Zahlen, so dass er den letzten Brief öffnen musste. Dieser enthielt die Aufforderung:  „Nun musst du selbst 3 Briefe schreiben.“

Die sozialistische Planwirtschaft war hinsichtlich der Materialbereitstellung auf langfristige Steuerung und volle Auslastung der entsprechenden Produktionseinheiten ausgerichtet. Durch veraltete Verwaltungsvorschriften, über sogenannte Materialdispositionskarteien, enge Ressourcen und Bilanzierungen von Engpassmaterialien entstanden gehäuft Fehler, die naturgemäß Produktionsstörungen verursachten.

Fehlendes Material war eine Begleiterscheinung der Produktionsvorbereitung und wurde üblicher Weise mit erheblichem Organisationsaufwand bewältigt. Schwer zu beschaffende Materialien waren über vorgegebene, sogenannte Bilanzanteile, eng kalkuliert. Ihre qualitäts- und termingerechte Bereitstellung erforderten einen hohen Zeitaufwand beim unproduktiven Verwaltungspersonal.  Die termingerechte Lieferung, besonders hochwertiger Zulieferteile, war  eine ständige Auseinandersetzung zwischen den betreffenden Leitern.  Der Bereich Materialwirtschaft im sozialistischen Betrieb hatte das mehrfache an Personalstärke im Verhältnis zum Absatzbereich.

Beginnend beim einfachen Meister bis zur Ministerebene hatte sich besonders bei eng bilanzierten Materialien eine Begründungsstrategie breitgemacht, die subjektiv bei allen Schwierigkeiten der Planerfüllung angewandt wurde: Produktionsrückstände mit fehlendem oder fehlerhaftes Material zu begründen wurde nie angezweifelt.

Das ging natürlich nur gut wenn als Verursacher ein Lieferant außerhalb der eigenen Struktur benannt werden konnte. Auch dann, wenn die Ursache objektiv  im Selbstverschulden, wie Mängel bei der Bestellung oder in der Bereitstellung lagen. Bis die Zusammenhänge aufgeklärt und die Ursache eindeutig war, verging genügend Zeit um die eigentliche, meist  im eigenen Verantwortungsbereich liegenden  Ursachen bei den Produktionsschwierigkeiten zu erkennen und zu beheben. Wenn diese behoben und beseitigt waren interessierte sich keiner der davon betroffenen  Leiter mehr für den Vorgang, da bereits neue Probleme anstanden.

Die  Planerfüllung wurde nicht nur von den übergeordneten zuständigen  Wirtschaftsorganen sondern auch von den territorialen Partei- und Staatsfunktionären beobachtet und kontrolliert. Gegenüber diesen Organen war zur Darstellung und Erläuterung der Rückstände bei der  Planerfüllung eine einfache einleuchtende Begründung notwendig.  Mit einem äußerst unproduktiven Zeit- und Verwaltungsablauf galt es die Ursachen allgemein verständlich, ohne Schuldzuweisung an die  in der Produktion tätigen Werktätigen, darzustellen. Das musste so geschehen, dass eine eventuelle Rückfrage nicht die eigentliche Ursache offenbarte.

In unserem Industriezweig existierte ein Betrieb, dessen Ökonomische Direktorin in die DDR- Volkskammer gewählt worden war.  Als Frau und biedere Genossin gelangte  sie sogar in das höchste Staatsorgan der DDR, den Staatsrat.  Ein Betrieb  mit einer solchen kompetenten Genossin durfte natürlich keine Planschwierigkeiten im eigenen Führungsbereich aufweisen. Die Direktoren  in diesem Betrieb verfuhren nach altbewährtem Muster und die Genossin, unerfahren in der täglichen Produktionspraxis, schrieb in einem Brief an den Minister. „Der Genosse Minister möge doch in seinem Verantwortungsbereich Ordnung schaffen und die laufenden Schwierigkeiten bei der Lieferung der elektronischen Bauelemente abstellen“.

Die  betreffenden Betriebsdirektoren unseres Kombinates wurden ins Ministerium beordert und fanden sich dort mit den Betriebsdirektoren der Betriebe für aktive und passive Bauelemente der Zulieferbetriebe ein. Pünktlich erschien der Staatssekretär mit dem uns bekannten Mitglied des Staatsrates.

Alle waren gespannt wer die Schuld wohl aufgebürdet bekam. Es kam aber anders.  Der Staatsekretär entschuldigte sich beim Mitglied des Staatsrates für die Handlungsweise unfähiger Wirtschaftsfunktionäre, die anstatt ihre Probleme zu lösen Staatsratsmitglieder mit Problemen konfrontierten, die deren wichtige Tätigkeit für das Allgemeinwohl der Werktätigen beeinträchtigte.

Danach begleitete er die Genossin aus dem Raum, um anschließend zu verkünden, dass wir ab sofort Zeit hätten mit unseren anwesenden Zulieferpartnern die Materialschwierigkeiten zu beseitigen.

Mit dem Absatzdirektor des Werkes für elektronische Bauelemente Teltow fuhr ich in ein riesiges Schichtwiderstandslager in der Nähe von  Potsdam. Schichtwiderstände bestehen üblicher Weise aus einem Keramikkörper, auf dem eine Kohleschicht aufgebracht wird. Diese bestimmt hauptsächlich den Widerstandswert. Vor dem abschließenden Lackieren wird der Widerstandskörper ausgemessen und seine genauen  Funktionaldaten durch Abschleifen hergestellt.

Der Genosse griff  für die von mir aufgeführten fehlenden Materialpositionen administrativ in den Produktionsablauf ein. Da er sich nicht für die Ursache der bei uns fehlenden Bauelemente interessierte, machte ich einige Zugeständnisse hinsichtlich der Toleranz und  des Liefertermins.

Wir unterschrieben anschließend ein Protokoll, dass keine Lieferrückstände  mehr bestehen.
Unsere Handlungsweise verursachte bei anderen Betrieben naturgemäß erhebliche Schwierigkeiten, da die geänderte von mir abgezogene Produktion dort erst einmal fehlte.

Wir hatten bei dieser Verfahrensweise kein schlechtes Gewissen, wurde doch unsere Handlungsweise durch das Ministerium gedeckt. Es galt den schwarzen Peter erst einmal von unseren Betrieben fernzuhalten.

 Als ich auf dem Nachhauseweg das Geschehen Revue passieren ließ, musste ich mir eingestehen, von ähnlichen Handlungen  auch selbst betroffen und diese auch selbst ausgelöst zu haben.  Ob dies der Staatsekretär wusste? Korruption, insbesondere persönliche Bereicherung, gab es in der sozialistischen Wirtschaft wenig. Beziehungen zu Verfügungsberechtigten von Engpassmaterialien brachten aber Zeit- und Prestigegewinn. Obwohl spaßhaft verwendet, war sie aber real: „Die strengste Bestrafung ist der Abbruch von Beziehungen“.

In unseren und in anderen  Betrieben lagerten erhebliche Überplanbestände an Lieferungen von Material. Produktionsveränderungen vor allem zur Qualitätsstabilisierung der Erzeugnisse oder fehlerhafte Bestellungen hatten diese erzeugt. Mein Vorschlag, die nicht mehr benötigten Materialien dem Herstellerbetrieb zurückzugeben fand kein Interesse. Das hätte die auf ständige Steigerung der Neuproduktion orientierten Kennziffern der Planerfüllung gefährdet und in der Konsequenz auch in  unserem Betrieb  keine Zustimmung gefunden.  So  durften und mussten diese regelmäßig per Jahresende abgeschrieben und ausgesondert werden.

Aber nicht nur die Erfüllung der industriellen Warenproduktion war eine beherrschende Kennziffer. Noch wichtiger war die Exportkennziffer in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet. Ende der 70er Jahre sollten durch Personalentscheidungen in der Wirtschaftsführung kurzzeitig dieselben durch qualifizierte Parteikader gelöst werden. In Betrieben mit Planerfüllungsschwierigkeiten wurden  Betriebsdirektoren durch Parteisekretäre aus Betrieben mit guter Planerfüllung ersetzt. Das solche Parteisekretäre eigentlich nur von ihrer Nichteinmischung in den betrieblichen Reproduktionsprozess profitiert hatten, wurde schnell erkannt.

In dieser Zeitspanne wurden Betriebsdirektoren des Bereiches Nachrichtenelektronik am Freitag zum zuständigen  Abteilungsleiter des Zentralkomitees der SED beordert. Der Genosse schilderte die Wirtschaftslage der DDR und verlangte Maßnahmen und Handlungsweisen zu konzipieren, damit die Rückstände bei den Lieferungen in das  NSW kurzfristig beseitigt werden. Die Genossen schilderten die objektiven Schwierigkeiten, die sie daran bisher gehindert haben. Neben den üblichen Materialproblemen war vor allem der Vertragsabschluss und die Zusammenarbeit mit dem NSW-Partner ein Hauptproblem.

Der Außenhandel nahm in der DDR das sogenannte leninistische Prinzip für sich in Anspruch. Lenin hatte dargelegt, dass der Außenhandel zentralisiert vom sozialistischen Staat geleitet werden müsse. Alle Aktivitäten, auch im Handel mit den befreundeten sozialistischen Staaten, wurden über und von diesem Organ geleitet. Es war für die Planerfüllung nicht primär zuständig  Seine Tätigkeit, besonders die Abwicklung der Devisengeschäfte und der Devisenrentabilität, wurden mit den betroffenen Betrieben nicht diskutiert.

Zunehmende Kooperationswünsche kapitalistischer Partner, Teile der gelieferten Erzeugnisse in  ihren Lande herstellen zu lassen, wurden abgelehnt. Ein Vertreter des Außenhandels entgegnete mir mit dem Argument: „Wir beuten doch nicht unsere Klassenbrüder aus.

Also wurden in Realisierung dieses Außenhandelsmonopols alle Kontakte mit den Kunden  federführend  über das Verwaltungsorgan Außenhandel abgewickelt. Die eigentliche Vertragsarbeit beim Kunden lag aber objektiv im Verantwortungsbereich der Betriebe. Zur Umsetzung der Planauflagen stellte der Außenhandel äußerst mannigfaltige Forderungen was Qualität, Menge und Preise der zu exportierenden Erzeugnisse betraf.  Besonders die Betreuung der Kunden im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet war hinsichtlich der für die Marktbearbeitung erforderlichen NSW- Reisekader durch die Betriebe ein Schwerpunkt.

Für die ungenügende Personalbereitstellung heftig kritisiert äußerte ich mich vertraulich gegenüber einem mit mir sympathisierenden stellvertretenden Minister: „Alle meine eingereichten Personalvorschläge werden von den Staatssicherheitsorganen abgelehnt, dieses Problem wird aber tabuisiert.“  Das liegt daran, so sagte der stellvertretende Minister, dass du für die Ausreise verantwortlich bist, diese Organe aber dafür dass deine Reisekader wiederkommen.

Bei einer Beratung konnte der Abteilungsleiter des ZK unsere mannigfaltigen Probleme nicht Herr werden. Er griff zum Telefon und bat einen „ Paul“ herüberzukommen. Alle waren gespannt wer erscheinen würde. Es war ein stellvertretender Minister, dem wir übergeben wurden und der uns in einen Versammlungsraum des Ministeriums brachte. Dort sollten wir eine Konzeption zur Aufholung der Planrückstände erstellen, die am folgenden Tage 11.oo Uhr dem Staatsekretär vorzulegen wäre.

Unser Generaldirektor versuchte mit rhetorischem Geschick und neuen bisher nicht aufgezeigten Ideen eine solche zusammenzubasteln. Kein Betriebsdirektor war aber bereit bisherige Liefertermine und Vertragszusagen zu verändern, da diese bereits äußerst gefährdet waren.

Im Hotel Stadt Berlin wurden Übernachtungen geordert. Gegen Mitternacht war ich nicht mehr in der Lage einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Durch Wanderungen zwischen den Stuhlreihen hielt ich mich wach um zu verhindern, dass in die  Konzeption eine Passage aufgenommen wurde die ich nicht realisieren konnte. Morgens ins Bett gesunken saß ich um 11.oo Uhr mit den anderen Genossen dem Staatssekretär gegenüber.

Der las uns den Leitartikel der Zeitung Neues Deutschland vor. Nach ein paar allgemeinen Sätzen konnten wir den Heimweg antreten. Gegen Nachmittag zu Hause wusste ich nicht, was ich am anderen Tag meinem Leitungskollektiv von dieser wichtigen Beratung vermitteln sollte.


Januar 2015

 



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