uni

Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

Berichte über Erlebnisse

Was wir wollen | Berichte schreiben | Chronik | Aktuelles | Impressum

Von der Machtergreifung Hitlers bis zur Kristallnacht

Ein Bericht von Gerda Lott, Leipzig

Als der Reichspräsident von Hindenburg am 30.Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte, war ich 18 Jahre alt und noch Schülerin. An diesem Tag fielen Hundertausende in einen Rausch von Siegestaumel und Hingabe, der noch lange anhalten sollte. Auch meine Mitschülerinnen wurden davon ergriffen; das wortwörtliche Bekenntnis einer möge das verdeutlichen :"Wenn Du dem Führer einmal in seine treuen blauen Augen geblickt hast, weißt Du, daß er immer recht hat!"

Gab es Zeichen für einen inneren Widerstand?

Da war mein Französischlehrer, ein kleiner, zarter, verwachsener Mann, der sich kurz vor den Märzwahlen 1933 vor der erregt debattierenden Klasse zur SPD als "einer wahrhaft demokratischen Partei" bekannte.
Da war der Fremde, der meinem Vater in der Straßenbahn ein Kuvert in die Hand drückte, "lesen und weitergeben" flüsterte und rasch ausstieg. Drin war ein Bericht über den Reichstagsbrand, aber in einer anderen Version als der amtlichen.
Da waren die Passanten in der großen Toreinfahrt, die gleich meinem Vater und mir hierher geflüchtet waren, um die Fahne einer draußen vorübermarschierenden Kolonne nicht grüßen zu müssen.

Das waren nur kleine Zeichen. Wenige Jahre später aber erlebte ich eine große, öffentliche Demonstration gegen das Regime von der ich jetzt berichten will.
Juden sind der "Todfeind der arischen Menschheit" hatte Adolf Hitler in "Mein Kampf" geschrieben.
"Deutschland erwache! Juda verrecke!" rief die SA, wenn sie auf Lastkraftwagen durch die Straßen fuhr.
In unserer Straße waren alle vier Leipziger Tageszeitungen ausgehängt, vor denen sich Gruppen von Arbeitslosen versammelten, um sich über die Tagesneuigkeiten zu informieren. Lange vor der Machtübernahme war eine fünfte dazu gekommen, vor der ich aber selten Leser stehen sah. Es war der "Stürmer", in dem Juden in Wort und Bild diffamiert wurden. Ein übles Blatt, fand ich. Nicht so der Direktor unserer Hochschule, der uns dessen Lektüre als Arbeitsmittel für das Fach "Rassenkunde" wärmstens empfahl.
Eine Episode aus der Zeit der Boykottierung jüdischer Geschäfte:
Eine der großen Schaufensterscheiben des Kaufhauses "Uri" - am ehemaligen Königsplatz zwischen Wächterstraße und Nonnenmühlgasse gelegen - war eingeworfen worden, was ich meiner Mutter aufgeregt zurief. Plötzlich drehte sich ein Zivilist in dem Menschenstrom um, versperrte mir den Weg und wies mich scharf zurecht: "Da ist eine Schaufensterpuppe umgefallen!" Ich war erschrocken, mehr aber noch verblüfft. Was für eine törichte Begründung , die keiner glaubt, dachte ich.

Am 7.November 1938 schoß ein junger Jude in Paris auf einen deutschen Diplomaten, der zwei Tage später seinen Verletzungen erlag.
Welch verheerende Folgen dieser Tod auslöste, wußte ich am Morgen des 10.November noch nicht, als ich meinen Weg in den Verlag antrat.
Die eingeworfene Scheibe eines kleinen Kurzwarengeschäftes in der Elisenstraße schob ich auf das Konto eines Einbruchs.
Im Laufe des Vormittags, lange nach Dienstbeginn, suchte ein Angestellter meinen Kollegen auf. Er war in SA-Uniform, strahlte vor Begeisterung und begann halblaut zu erzählen. "Große Fleischergasse, Juwelier" schnappte ich auf. Dann zog er den Ärmel über den linken Unterarm zurück und präsentierte stolz die Armbanduhren, die er vom Handgelenk bis zum Ellenbogen, eine neben der anderen, dort befestigt hatte.
Spontaner Volkszorn sei der Auslöser der Vorgänge in der Nacht gewesen, wurde später amtlicherseits mitgeteilt.

Am Abend ging ich mit meinen Eltern auf den Augustusplatz. Dort bewegte sich eine große Menschenmenge im Kreis, immer angetrieben von den Rufen: "Weitergehen! Nicht stehen bleiben!" Wir reihten uns ein. Wer waren unsere Antreiber, die unaufhörlich hin- und herliefen, um jede Stockung aufzulösen, jede Gruppenbildung von mehr als drei Personen auseinanderzujagen? Waren sie in Uniform, in Zivil? Ich weiß es nicht mehr.
Bei dem langsamen Laufen im Kreis wurden uns Informationen von hinten zugeflüstert, die wir nach vorn weitergaben. "Die Synagoge brennt!" Daran erinnere ich mich.
Aus dem großen Bekleidungshaus von "Bamberger & Hertz", Ecke Grimmaische Straße und Ring, drangen dicke Rauchwolken. Den Brand habe der Jude selbst gelegt, rief ein Provokateur. Das sei unmöglich, empörte sich eine Männerstimme halblaut hinter mir. Der sitze seit Jahren im Rollstuhl. Und wieder fragte ich mich: Warum diese törichte Lüge?

Das war die einzige öffentliche Protest-Demonstration im Dritten Reich, an der ich teilgenommen habe.

 



     Seitenanfang
Website der AG Zeitzeugen
Templates