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Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

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Meine Erinnerungen an die Zeit nach 1945 in Westfalen

Ein Bericht von Peter Niehus, Gütersloh

Die Zeit bis 1945

In der Nacht vom 7.Juli 1941 gegen 2.30 Uhr erfolgte durch die RAF (Royal Air Force) ein Luftangriff auf die Stadt Münster. Dadurch wurden wir, meine Mutter und ich, ausgebombt. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt Soldat als Funker bei der Luftwaffe. Die Evakuierung erfolgte noch in dieser Nacht nach Greffen (damals Kreis Warendorf) im östlichen Münsterland.

Eine Situation im Sommer 1944 ist mir als Besonderheit in Erinnerung geblieben. Ein Nachbarjunge, der ca. 8 -10 Jahre alt war, (ich war 4 1/2 Jahre) holte mich mit einem Herrenfahrrad ab und fuhr mit mir zum Rande des Dorfes. Dort lag ein abgestürzter Bomber (angeblich aus Kanada) auf einem Acker. Nach kurzer Zeit kam dieser Nachbarjunge - ich bin währenddessen bei seinem Fahrrad geblieben - mit einem mit Munition gefüllten Eimer zu mir zurück. Die Rückfahrt mit dem Rad war nicht einfach. Am Lenker hing der Eimer mit Munition und ich saß auf der Mittelstange, dazu die Dorfstraße, die mit Blaubasalt gepflastert war.

Ich war froh, als wir den Bauernhof dieses Nachbarungen erreichten. Umgehend holte er eine Zange aus dem Haus und begann sofort damit, die Geschoßköpfe zu entfernen. Das Pulver aus den Hülsen schüttete er sorgfältig in eine leere Konservendose. Während dieses Vorgangs - ich hatte keine Ahnung, was passieren würde - sprachen wir beide kein Wort. Ich glaubte an eine Überraschung. Mit der teilweise gefüllten Konservendose ging er dann zum Rande des Hofes. Dort schüttete dann den Inhalt auf einen Rest eines Betonsockels, der mit dem Erdboden abschloß. Während dieser Zeit mußte ich, seiner Anweisung gehorchend, weiter zurückgehen, aber so daß der Betonsockel immer im Blickfeld blieb. Im nächsten Augenblick gab es eine 5 -6 m hohe Feuersäule. Er hatte das Pulver entzündet. Es war zum Glück nichst passiert, aber die Feuersäule blieb immer in meiner Erinnerung.

Am Ostersonntag machte ich mit meiner Mutter einen Spaziergang zu einer Brücke, die über den Fluß Ems führte. Um diese Brücke zu erreichen, gingen wir über einen typischen Weg, der von Pferdefuhrwerken benutzt wurde. Daneben ein sogenanntes "Pättken" (ein schmaler Pfad aus festgefahrenem Sand, beidseitig mit Gras bewachsen), das nur von Radfahrern und Fussgängern benutzt wurde. In großer Höhe flog ein Bomberverband unbeirrt in eine Richtung, umgeben von kleinen Kampfflugzeugen, die sich mit anderen Kampfflugzeugen (evtl. vom Militärflughafen Gütersloh) ein Gefecht lieferten. Die Abschüsse der Bordwaffen waren deutlich zu hören. Wir haben uns dadurch aber nicht beunruhigt gefühlt. Der von uns benutzte Sandweg endete auf einer Straße, die zu dem Ort Beelen führte. Wir sind dann einige hundert Meter über diese Straße gegangen. Kurz vor der Brücke war diese Straße durch eine "Panzersperre" (gefällte Bäume wurden zu einer Palisade aufgerichtet, um den Vormarsch der Amerikaner zu stoppen) unterbrochen. Ein deutscher Soldat trat hinter der Absperrung hervor und sprach mit meiner Mutter. Ich bekam von ihm eine runde flache Blechdose, die mit Schokolade in Scheiben gefüllt war. An den Inhalt des Gespräches kann ich mich nicht mehr erinnern, denn ich war ganz mit dem Öffnen der Blechdose beschäftigt. Es gelang mir aber trotzdem nicht. Die Dose wurde erst auf dem Heimweg von meiner Mutter geöffnet. Es war für mich eine unerträglich lange Zeit.

Kurz vor unserer Wohnung überholte uns ein deutscher Soldat auf einem Fahrrad. Sein Tempo zeigte, dass er wahrscheinlich auf der Flucht vor den Amerikanern war. Ein weiterer Soldat kam laufend auf uns zu. Es war ein flaches Gelände und wir konnten ihn gut beobachten. Als er unsere Höhe erreicht hatte, erkannte ich diesen Soldaten wieder. Er hatte mir die Schokolade gegeben. Er rief: "Gehen Sie ins Haus, die Amerikaner kommen " und lief dabei weiter.
Bei uns, wie auch bei den Nachbarn, herrschte eine gespannte Stille. Einige gruben Erdlöcher auf ihren Grundstücken aus, um diverse Dinge zu verstecken. Aber die Amerikaner kamen an diesem Tag nicht mehr. Am ersten Ostertag drangen Motorengeräusche durch das geschlossene Fenster. Nachdem ich das Fenster öffnete, wurde dieses Geräusch wesentlich verstärkt. Es war ein gleichmäßiges mahlendes Geräusch, wahrscheinlich von einer größeren Kolonne. Obwohl wir im ersten Stock wohnten und das Gelände flach war, der weite Blick wurde nur durch kleine Waldstücke unterbrochen, waren keine Fahrzeuge zu erkennen. Lag es an der guten Tarnfarbe?

Es sollte noch lange dauern, bis die ersten Fahrzeuge dieser Kolonne auftauchten. Sie fuhren unmittelbar an unserem Haus vorbei, weiter über einen Acker, auf dem Roggen wuchs. Dieser Roggen war ca. 5 cm hoch, eine große grüne Fläche. Ein Panzer fuhr voraus, dahinter Lastwagen mit Doppelachsen. Alle Fahrzeuge hatten einen weissen Stern, nur eins hatte ein rotes Kreuz. Alle, das waren ca. zehn Fahrzeuge, fuhren ganz dicht zusammen. Die Kolonne bewegte sich wie ferngesteuert. Ich habe zu diesem Zeitpunkt keine Soldaten erkennen können. Vielleicht haben sie mit Gegenwehr gerechnet, aber das Dorf war vorher geräumt worden

Die amerikanische Kolonne hatte für uns Kinder ganz unbeabsichtigt für diesen Sommer einen sehr schönen Spielplatz hinterlassen. Der Roggen auf dem Acker wuchs natürlich immer weiter, bis er im Juli seine endgültige Höhe erreicht hatte. Nur die Spuren der Kolonne blieben frei. Hier war der Boden so verdichtet, dass kein Halm mehr wachsen konnte. Diese Situation kam uns so vor, wie eine Autobahn: In der rechten Spur konnte jemand laufen, ohne den anderen auf der linken Spur zu erkennen. Zwischen den Radabständen stand das Korn ja wieder in seiner vollen Länge. Nach der Ernte war dann leider alles vorbei.

Das Dorf, wir wohnten am Ortsrand, wurde nun von den Amerikanern besetzt. Einige Häuser mußten in wenigen Stunden für Soldaten geräumt werden. Im Dorf durchsuchten die Soldaten ein Haus nach dem anderen, vom Keller bis zum Boden,nach deutschen Soldaten. Ihre korrekte, aber trotzdem lässige Art war beeindruckend. Feind- oder Hassgefühle konnten wir nicht erkennen.

Am Anfang der Besetzung war der Anteil der schwarzen Soldaten sehr hoch. Ich war beeindruckt von ihnen, weil sie so gut klettern konnten. Eine in der Nachbarschaft gelegene Kornmühle war natürlich über Ostern geschlossen. Nur die Kette, mit der die Säcke in die jeweilige Etage befördert wurden, reichte bis zum Boden. So wurde ich Augenzeuge einer bemerkenswerten Situation. In wenigen Minuten - nur so zum Spass - kletterten schwarze Soldaten an dieser Kette hoch, um sich dann zu zweit pro Nische hinzusetzen. Es waren zwei Etagen, in der jeweils zwei Beinpaare schaukelten. Es gab die erste Bekanntschaft mit Kaugummi und Bonbons.

Bei den Soldaten war ein reges Kommen und Gehen. Viele waren nur wenige Tage hier und wurden immer wieder durch andere ersetzt. Der Anteil der Schwarzen, die so gut klettern konnten, wurde nach meiner Feststellung immer geringer. Evtl. lag es daran, dass ich von den ersten derart fasziniert war. Es dauerte noch einige Zeit, dann waren alle Amerikaner verschwunden: sie wurden durch Engländer ersetzt.

Die Zeit des Mangels

Obwohl wir auf dem Lande wohnten, war die Versorgung mit Lebensmitteln trotz Lebensmittelkarten schwierig. Um dieses Problem zu lösen, begann meine Mutter mit dem Stricken. Gesponnene Wolle wurde von den Bauern gebracht, daraus strickte sie unter anderem Pullover, Westen und Bettjäckchen. Als Vergütung gab es dafür dann Speck, Wurst, Kartoffeln und Holz als Brennmaterial. Im Winterhalbjahr, besonders in den Monaten November und Dezember, saß meine Mutter oft tagelang am Ofen, die Füsse in eine Decke gehüllt und strickte.

Tauschgeschäfte waren an der Tagesordnung und hatten die Reichsmark so gut wie verdrängt. Gegen Lebensmittel wurde fast alles getauscht. Besonders die Bauern waren jetzt auf der Sonnenseite. Die Hamsterbewegung aus den Großstädten nahm erschreckende Ausmaße an. Auf den Feldern sah ich Menschen, die nach der Getreide- und Kartoffelernte in Scharen über die Äcker gingen, um Reste zu suchen. Der Sack oder Rucksack, evtl. noch eine Handkarre waren ein sicheres Erkennungszeichen.

Eine Allee mit alten Buchenbäumen war wie ein Magnet für diese Menschen. In den Baumwipfeln turnten sie, schüttelten und rüttelten, bis die Bucheckern herunterfielen. Andere sammelten diese Bucheckern auf, um daraus später Oel zu pressen. Von Baum zu Baum gab es ständig Rufe nach der Leiter. Es gab nur eine, und diese mußte ständig ausgetauscht werden, damit diese großen Buchen bestiegen und wieder verlassen werden konnten. Da fast alle Tagesbesucher mit der Bahn gekommen waren und nur wenige Züge verkehrten, war der Zeitraum begrenzt. Zum nächsten Bahnhof waren es ca. 5 km.

Da auch meine Mutter mit mir einige Male nach Münster gefahren war, um auf Bezugsschein bestimmte Dinge zu besorgen, die es im Dorf nicht gab, habe ich erlebt, wie voll diese Züge mit Menschen und Säcken beladen waren. Ich hatte den Eindruck, jeder in Deutschland war unterwegs. Zwischen den überwiegend stehenden Erwachsenen konnte man als "Knirps" schon in Panik kommen. In Münster am "Prinzipalmarkt" habe ich ein Haus in Erinnerung behalten, - die Häuser dort waren viel höher als in unserem Dorf - das durch Bombardierung von oben bis unter halbiert worden war. Eigentlich nichts besonderes, denn alle Häuser im Umkreis waren zerstört. In der obersten Etage dieses Hauses waren allerdings zwei schneeweisse Gegenstände zu erkennen. Es war eine Toilette mit dem dazugehörigen Spülkasten, die beide noch irgendwie miteinander verbunden waren und sich im Wind leicht bewegten.

Wenn wir mal wieder in Münster waren, habe ich immer auf diese Besonderheit geachtet. Ich konnte sie noch lange beobachten.

Vater kommt aus der Kriegsgefangenschaft

Im Dezember 1945 - ich war mal wieder auf meinem geliebten kleinen Bauernhof in der Nachbarschaft - kam meine Mutter ziemlich abgehetzt zu mir und nahm mich mit in unsere Wohnung. Auf dem Weg dorthin erzählte sie mir, dass mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden ist. Sie war sehr aufgeregt. Wir gingen ins Schlafzimmer, wo mein Vater im Bett lag. Sein Gesicht war sehr schmal und er hatte große Augen. Er lächelte mich an, aber ich wußte nicht warum, denn ich kannte meinen Vater nicht.
Als er später aufstand sah ich, dass er sehr schwach und abgemagert war. Er war aus russischer Kriegsgefangenschaft wegen Krankheit entlassen worden. Nach einer Untersuchung in einem hiesigen Krankenhaus wurde als Ursache Malaria festgestellt. Seine Gesundheit besserte sich und während der Erholungsphase sprach er gelegentlich mit mir über seine Erinnerungen aus Krieg und Gefangenschaft.
Er war im Krieg als Funker in Riga und erwähnte häufig die Schönheit dieser Stadt. Während der Gefangenschaft war er in der Kalmükensteppe an der Wolgamündung bei einem Heukomando. Die Verpflegung während der Gefangenschaft war sehr schlecht. Davon betroffen waren aber auch die heimischen Kalmüken (Viehzüchtervolk an der Wolga). Um die Verpflegung zu verbessern, haben Gefangene häufig Hamster gefangen, was bei den Kalmüken, einer zum Islam gehörenden Volksgruppe, Verachtung hervorgerufen haben soll.

Wohnungsnot - Flüchtlinge und Evakuierte verändern das Dorfleben

Die dörfliche Struktur änderte sich 1945 und 1946 durch zusätzliche Evakuierte und Flüchtlinge gravierend. In fast jedem Haus wurden "Neue" untergebracht - in Häusern und Bauernhöfen, die z.T. überhaupt nicht für eine Teilung geeignet waren. Alles wurde improvisiert. In unserem Haus befanden sich acht Personen. Es war ein Einfamilien-Siedlungshaus. Wir wohnten im Dachgeschoss. Der Hausbesitzer hatte die Erdgeschosswohnung. In dieser befand sich eine Toilette, die wir gemeinsam benutzten. Der Weg dorthin mußte häufig mehrfach unternommen werden, um Erfolg zu haben. Für dringende Fälle gab es allerdings eine weite Landschaft oder den im wahrsten Sinne "berüchtigten" Eimer. Ansonsten waren wir schon gut ausgestattet - mit fliessendem Wasser und Kochstelle. Viele Bekannte haben uns darum beneidet.
Wir als "Altevakuierte" von 1941 hatten damals vielleicht doch noch bessere Voraussetzungen. Die ersten Evakuierten im Dorf kamen überwiegend aus dem Ruhrgebiet, dem Rheinland oder aus Münster: Da fast alle, wie wir, im Dorf katholisch waren, gab es hier keine Reibungspunkte.
In den Jahren 1945 und 1946 kamen viele Flüchtlinge aus Schlesien, die alle evangelisch waren und z.T. einen Dialekt sprachen, der für uns unverständlich war. Im Dorf wurde fast nur "münsterländisch Platt" (niederdeutscher Dialekt) gesprochen. Es gab allein dadurch immer wieder Konflikte - oder wollte man sich vielleicht nicht verstehen? Nach 1946 gingen viele ehemals Evakuierte in die alte Heimat zurück. Für Flüchtlinge wurden einfache Siedlungshäuser gebaut. Das dörfliche Zusammenleben besserte sich dadurch langsam aber stetig.

Eine bewegte Phase, in der es viel zu entdecken gab

Der kleine Bauernhof in unserer Nachbarschaft begeisterte mich so, dass ich fast täglich dort war. Irgendwie gehörte ich zu dieser Bauernfamilie. Diese war zwar mit vielen Kindern gesegnet, doch von der Altersstruktur hätte ich die Fortsetzung sein können. Während der Mahlzeiten hatte ich an dem langen Tisch in der Küche meinen festen Platz. Von diesem Platz aus konnte ich in einen Vorraum sehen, der gleichzeitig eine Verbindung zur Deele war. Die Tür zur Deele wurde während der Mahlzeiten geschlossen, damit Gerüche und Geräusche von den Tieren nicht in die Küche gelangten. Die Tür zum Vorraum konnte quasi gar nicht geschlossen werden, denn hier wurden Holzschuhe von allen abgestellt, die sich gerade am Küchentisch befanden. Da alle Holzschuhe trugen, waren es je nach Jahreszeit zwischen 10 und 15 Paar. Meine waren die kleinsten und daher hatte ich keine Probleme, diese wiederzufinden. Für die anderen war die Suche nicht so einfach und manchmal gab es darum kleine Streitereien. Nach dem Essen mußte alles sehr schnell gehen, jeder wollte seine Mittagsruhe genießen.

Der Bauer, der gleichzeitig auch Schreiner war, schnitzte gerade aus abgelagertem Eichenholz eine Jesusfigur für einen Altar, wie sie oft im Münsterland an Prozessionswegen oder vor Bauernhöfen stehen. Der halbfertige Korpus war immer in ein Tuch gehüllt und stand in der Werkstatt. Immer wieder zeigte er mir diese Figur. Vorsichtig schlug er den Stoff beiseite und ich konnte sehen, wie die Figur immer vollkommener wurde. Die Maserungen der Eiche waren deutlich zu erkennen und das Holz duftete angenehm. Ich war von seinen künstlerischen Fähigkeiten beeindruckt. Was mich an diesem Bauernhof faszinierte, war das Zusammenspiel von Menschen, Tieren und Jahreszeiten. Alles war organisiert. Fast alle Abläufe wiederholten sich in einem bestimmten Rhythmus.

Mein Vater hatte nach seiner Genesung eine Beschäftigung als Dolmetscher bei einer englischen Militäreinheit im Ort Harsewinkel gefunden. Es war eine Transporteinheit der Armee. Dort war auch "Bill", ein englischer Soldat, mit dem mein Vater befreundet war. Bill hatte ein Verhältnis mit einer Freundin meiner Mutter. Durch Bill und die "NAAFI" - Abkürzung für "Navy, Army and Air Force Institutes", das waren Läden, in denen britische Militärangehörige mit ihren Familien zollfrei einkaufen konnten - veränderte sich unsere Versorgungslage wesentlich. Mit einem Militärtransporter, der Zivilbeschäftigte regelmäßig zur Arbeit und zurück brachte, kam auch Bill oft in unser Dorf. Wenn ich meinen Vater von der Haltestelle abholte, war auch häufig Bill dabei. Seine Khaki-Uniform roch immer nach einem unverwechselbaren Desinfektionsmittel. Bill versorgte uns mit Zigaretten, Seife, Lebensmittel usw. Die Zigaretten waren ideale Tauschobjekte für Kartoffeln, Kohle, Mehl und andere Produkte aus der Landwirtschaft. Meine Mutter wurde durch diese Möglichkeit auch entlastet. Sie brauchte nicht mehr jeden Auftrag zum Stricken annehmen. Ich stellte fest, dass vieles im Leben zu zweit einfacher geht. Die deutschen Fahrer in dieser Transporteinheit setzten Benzin als Tauschobjekt ein. Alle britschen LKW's hatten nämlich Benzinmotoren. Es fiel den Fahrern nach Aussage meines Vaters nicht schwer, pro Tag einige Liter aus den LKW-Tanks abzuzapfen, ohne entdeckt zu werden. Ein Fahrer hatte sich damit schon 1946 in Eigenleistung ein kleines Haus am Waldesrand gebaut. Die Materialien dafür sollen gegen Benzin getauscht worden sein. Es war ein kleines Haus, mit einer Handpumpe für die Wasserversorgung. Da es keinen Stromanschluss hatte, flackerte abends eine Kerze in seinem Zimmer.

Mein Spielzeug, es wurde ausschließlich im Dorf hergestellt, war für mich ein wertvoller Besitz. Ein Schmied, mit deren Frau meine Mutter befreundet war, hatte mir einen Traktor und dazu einen passenden Anhänger aus Eisenblech hergestellt. Ein Schreiner ähnliche Dinge aus Holz. Auch in diesen schwierigen Zeiten gab es besonders für uns Kinder immer wieder hilfreiche Menschen. Kurz vor Weihnachten waren dann diese Spielsachen verschwunden und am Heiligabend standen sie wieder, mit neuem Farbanstrich versehen, unter dem Tannenbaum. Weihnachten 1947 gab es eine besondere Überraschung. Bill hatte für meine Eltern aus England eine Eisenbahn zum Aufdrehen mitgebracht und diese bekam ich dann zu Weihnachten geschenkt. Es war das erste mechanische Spielzeug in meinem Leben. Der Zug war eine Nachbildung des legendären "Flying Scotchman", eines schnellen Dampfzuges, der zwischen London und Edinburgh verkehrte. Die Dampflok im königlichem Rot und dazu gab es entsprechende "Pullmann"-Wagen.

Vor Weihnachten wurden Kinder, deren Eltern bei britischen Militäreinheiten beschäftigt waren, zu einer Weihnachtsfeier eingeladen. Ein großer Militärtransporter holte uns zu Hause ab und brachte uns anschließend wieder zurück. Allein die Fahrt war schon ein Erlebnis. Dort angekommen - wir waren etwa 30 Kinder- wurden wir in einen Raum geführt. Dieser war durch Kerzen hell erleuchtet. Der Baum mit Weihnachtsschmuck hatte für mich ungewohnte grelle Farben. Soldaten in Uniform gaben uns Kakao, Kekse und Geschenke. Ich war über ihre Liebenswürdigkeit überrascht.

Bill wurde später leider nach England versetzt. Seinen schneeweissen Hund - es war ein Spitz mit schwarzer Nase und schwarzen Augen - hat er bei uns zurückgelassen. Viele Jahre hat er noch bei uns gelebt. Es war der einzige Hund mit Namen "Bobby" im Dorf.

Einschulung im Jahr 1947

Durch die Einschulung im Frühjahr 1947 änderte sich mein Tagesablauf doch wesentlich. Die Stunden, die ich sonst überwiegend auf dem Bauernhof verbrachte, wurden weniger. An den Schultagen blieb mein Platz am Küchentisch des Bauernhofes leer. Unsere Schule war völlig überfüllt. Meine Klasse hatte 72 Schüler. Um einen einigermaßen Schulablauf zu gewährleisten, wurden Klassenräume in zwei Schichten benutzt. In der einen Woche ging ich morgens, in der anderen nachmittags zu Schule. Durch Zuzug von Evakuierten und Flüchtlingen hatte sich die Einwohnerzahl im Dorf auf ca. 2.000 Menschen verdoppelt.

Eine Besonderheit in der Schule war die Schulspeisung, eine nach dem Hoover-Plan durchgeführte Hilfsaktion für Kinder von 1947 bis 1951. Ein bestimmter Kreis von Kindern bekam während der Pause Kakao und mittags ein Essen - überwiegend Eintopf und Suppen. Gründe für die Schulspeisung waren z.B. dem Alter entsprechend zu geringes Gewicht oder Versorgung durch nur einen Familienangehörigen, weil der Vater gefallen oder sich noch in Gefangenschaft befand. Es gab auch noch weitere Gründe, die mir aber nicht bekannt sind. Kinder von Bauernfamilien bekamen diese Schulspeisung nicht, weil eine Versorgung dort gewährleistet war. Sie haben uns allerdings um unseren Kakao beneidet, den gab es auf den Bauernhöfen natürlich auch nicht. So wanderte so manche Blechdose von Mund zu Mund. Ich hatte Untergewicht und bekam diese Schulspeisung.

Kakao und Speisen wurden in Gasthöfen im Ort zubereitet und in Gefäßen zur Schule gebracht. Jeder Empfänger hatte eine Blechdose und einen Löffel bei sich. Die Blechdosen mit Drahthenkel baumelten auf dem Weg zur Schule und zurück überwiegend am Tornister. Nudeln und Reis waren bei uns nicht sehr beliebt. Die Reste wurden oft unschön auf den Toiletten oder auf dem Weg nach Hause an den Wegrändern verteilt. Zu besonderen Gelegenheiten - vor Ferienbeginn, Ostern, Weihnachten gab es Überraschungen.

So bekam ich einmal eine kleine flache Blechdose, die schon damals mit einem Schnellverschluss versehen war. Da ich die Schrift nicht lesen konnte, habe ich die Dose geöffnet. Es waren gesalzene Nüsse, deren Art ich aber nicht kannte. Unser Lehrer erklärte uns, dass wir Erdnüsse bekommen hatten. Sie schmeckten einfach fantastisch.

Eine mir unbekannte Frucht habe ich einmal auf eine erschreckende Art und Weise kennengelernt. Ein Jeep, besetzt mit Militärpolizisten, verfolgte zwei "Displaced Persons" (Personen aus dem Ausland; Arbeiter und ehemalige Kriegsgefangene aus besetzten Staaten), die sich nach dem Einmarsch der Amerikaner und Engländer im Ort frei bewegten. Sie müssen irgendwie negativ aufgefallen sein. Vom fahrenden Jeep aus wurde mit Gummiknüppeln auf die Laufenden eingedroschen. Es sollte wohl mehr eine Warnung sein. Nach wenigen Metern blieb der Jeep stehen. Die Verfolgten gingen langsam weiter. Wir waren dem Fahrzeug gefolgt und sahen, wie die Besatzung goldgelbe Früchte abpellte und die Schalen aus dem Wagen warfen. Wir waren neugierig, haben die Schale aufgenommen und daran gerochen. Sie roch gut, schmeckte etwas bitter. Wir haben sie gegessen. Es waren Apfelsinenschalen. Später erfuhr ich dann, dass der Inhalt noch besser schmeckt.

Durch den Schulbesuch lernte ich nun auch Kameraden kennen, die aus anderen Teilen des Dorfes kamen. Es gab Einzelbauernhöfe, die bis zu 4 km vom Ortskern, wo sich die Schule befand, entfernt waren. Fast alle hatten wie ich ein Fahrrad und damit ließen sich diese Entfernungen schon bewältigen. Im Winter, bei schlechten Witterungsverhältnissen, kamen sie zu Fuß oder wurden mit Pferdewagen oder Schlitten gebracht. Einige kamen auch gar nicht. Da wir uns gegenseitig besuchten, bekam ich Einblick in die Struktur dieses Dorfes. Außer Bauernhöfen gab es praktisch alle wichtigen Handwerksbetriebe, die ein Dorf benötigte. Meister, Gesellen und Lehrlinge erklärten mit Stolz ihre Werkstücke. Nach kurzer Zeit kannte ich aber auch Einzelheiten, wo in der Bäckerei Persipan (Ersatzstoff für echten Marzipan) gelagert wurde, wann in der Metzgerei an bestimmten Tagen die Fleischwurst gemacht wurde, bei welchem Bauer es nach dem Kartoffelsuchen die besten Pfannekuchen gab. In der Schreinerei konnte ich sehen, wie ein riesiger Küchenschrank für eine Bauernküche aus massiver Eiche hergestellt wurde. Im Dorf gab es außerdem auch eine Schuh- und Füllhalterfabrik. Diese waren aber für uns nicht so zugänglich.

Im Juni 1948 kam mein Vater in die Wohnung und wedelte mit Geldscheinen, die er in der Hand hielt. Es war die Deutsche Mark, die mit der Währungsreform am 18.Juni 1948 die Reichsmark ablöste. Für jede Person waren es 40 Deutsche Mark. Mein Vater sagte meiner Mutter und mir, dass es im August pro Person weitere 20 Deutsche Mark geben sollte.

Die Wirkung des neuen Geldes war beeindruckend. Läden und Schaufenster waren plötzlich mit Waren gefüllt. Händler müssen schon von der bevorstehenden Währungsreform gewußt und Waren bereits vorher gehortet haben. Eine so schnelle Belieferung in diesem Umfang wäre gar nicht möglich gewesen. Der Tauschhandel verlor plötzlich an Bedeutung.

Unsere Versorgungslage hatte sich auch dadurch verbessert, weil mein Vater von Bauern zwei kleine Grundstücke benutzen durfte, die diese als wertlos ansahen. In mühseliger Arbeit hat er diese Grundstücke urbar gemacht und in blühende Gärten verwandelt. Es gab Gemüse- und Blumenarten, die im Dorf unbekannt waren und Erstaunen hervorriefen. Vor dem Krieg war mein Vater Schlagzeuger in einer Tanzkapelle gewesen, die ständig in Deutschland und den Niederlanden auf Tournee war, und ich war überrascht, mit welchem Erfolg er diese Gartenarbeit beherrschte.

Brennmaterial u.a. Holzkisten und Bretter für unseren Ofen brachte er oft von seiner Arbeitsstelle mit. Mit diesem Holz muß auch versehentlich Munition in den Ofen gelangt sein, denn es kam zu einer heftigen Explosion. Meine Mutter, die Milch in einem Aluminiumtopf heiß machen wollte, hatte gerade den Küchentisch erreicht, als eine Explosion die kleine Küche erschütterte. Der Topf mit Milch war unter die Decke geflogen und im Deckenputz waren seine Abdrücke zu sehen. Die Milch hatte sich im Raum verteilt und war besonders an den Küchenscheiben zu sehen, an denen sie herunterlief. Die eisernen Ringe, die je nach Topfgröße benutzt wurden, lagen im Raum verteilt. Die Klappen vom Ofen und Backkasten waren von der Wucht aufgesprungen. Durch die Druckwelle war das Feuer im Ofen erstickt. Wir hatten noch einmal Glück gehabt, denn meiner Mutter und mir war nichts passiert.

Jugenderlebnisse


Mein Schulfreund hatte einen Zusatztank, der von einem Flugzeug abgeworfen worden war. Dieser Tank, in Form einer Zigarre, war aus Aluminium und wurde benutzt, um die Reichweite der Flugzeuge zu erweitern. Nach der Leerung wurden sie von den Flugzeugen abgeworfen. Der Tank sollte nun zu einem Boot umgebaut werden, denn in unserer Umgebung gab es reichlich Wasser in Flüssen, Bächen und Teichen. Der Vater von meinem Schulfreund hatte entsprechendes Werkzeug, und so wurde in diesem Tank ein ovales Loch geschnitten. Die Form des Bootes entsprach in etwa der Form eines Kanus. Voller Ehrgeiz haben wir dann unser Boot zu einem Bach geschleppt, um es auszuprobieren.

Schon das Einsteigen war ein Problem, das Boot war zu rund und kippte immer gleich seitlich weg. Der Uferbereich war flach und ich konnte mich mit den Händen noch abstützen, um ein Kippen zu verhindern. Durch mein Gewicht lag der Bootsrumpf bereits auf dem Grund des Baches. Mein Freund schob mich langsam in die Bachmitte. Das Boot schwamm! Es war ein erhabenes Gefühl, sich damit auf dem Wasser zu bewegen. Ein selbstgebautes Paddel, das zum Fortbewegen und Lenken gedacht war, denn ich wollte ja auch wieder zum Ufer zurück, berührte einen Stein. Sofort verlor ich mein Gleichgewicht. Das Boot drehte sich zur Seite, lief voll Wasser und ging mit mir unter. Der Bach war nicht tief und ich war schnell wieder an Land. Das Bergen des vollgelaufenen Bootes war dagegen wesentlich schwerer. Es hatte ja keine Auftriebskörper und wurde unterhalb der Wasseroberfläche durch die Strömung ständig weitergetrieben. Durch weitere Versuche und verbesserte Techniken gelang es mir, die Ems damit zu überqueren. Durch diese Erfahrung bin ich dem Wasser in vielfältiger Form immer treu geblieben. Bei verschiedenen Kenterungen habe ich fast nebenbei das Schwimmen gelernt.

Meine Eltern waren begeisterte Radiohörer. Mein Vater, der im Krieg Funker bei der Luftwaffe war, hatte ein Radio besorgt, das auch mit Kurzwelle ausgestattet war. Auf dem Dachboden befanden sich Drähte, die er als Antenne benutzte. Besonders an den langen Winterabenden suchte er nach Sendern aus der ganzen Welt. Manchmal stand er nachts auf, um Sender zu hören, die sonst nicht zu empfangen waren. Ich war überrascht, wie viele Sender Programme in deutscher Sprache ausstrahlten. Am Samstagabend haben wir oft gemeinsam vor dem Radio gesessen und "RIAS" Berlin (Rundfunk im amerikanischen Sektor von Berlin) gehört. Dieser Sender strahlte dann immer Kriminalhörspiele aus unter dem Thema "Es geschah in Berlin".

Der Flughafen in Gütersloh, auf dem die "Royal Air Force" stationiert war, übte auf uns eine große Anziehungskraft aus. Oft fuhren wir mit dem Fahrrad dort hin. Die Rollbahn ging bis unmittelbar an die Ems und wir drückten uns am Maschendraht die Nasen platt. Starts und Landungen waren von dort aus gut zu beobachten. Die stationierten Flugzeugtypen waren uns mit Namen bekannt. Im Jahr 1949 trat auch dort das Jet-Zeitalter an. "Vampire", Düsenjäger mit Doppelleitwerk, wurden 1951 abgelöst durch den Typ "Gloster Meteor" usw. Alle Strahlflugzeuge hatten eines gemeinsam. Sie machten einen Höllenlärm. Nicht nur bei Tiefflügen klirrten die Scheiben. In der Schule war oft für Minuten der Unterricht unterbrochen. Ich hörte oft am Geräusch der Düsen, welcher Flugzeugtyp uns diese Unterbrechung gerade bescherte.

Während der Berlin-Blockaden und anderen Ost/West-Spannungen war die Flugtätigkeit besonders stark. Große zwei- und viermotorige Flugzeuge starteten und landeten dann zusätzlich auf diesem Flughafen. Durch zusätzliche riesige Manöver der Armee - dadurch wurde unsere Dorfstraße von Kettenfahrzeugen völlig zerstört - entstand eine Spannung, die jeder spürte.

An der Ems war eine Verteidigungslinie aufgebaut und mit kanadischen Soldaten besetzt. Einige sprachen deutsch, weil sie nach Kanada ausgewandert waren und dann in Deutschland im Raum Soest/Iserlohn stationiert wurden. Diese Verteidigungslinie war in der Nähe der Stelle, wo deutsche Soldaten vor Ostern 1945 eine Panzersperre errichtet hatten. Ich hatte immer wieder den einen Gedanken: Wird es auch hier wieder Krieg geben? In Asien hatte er mit dem "Korea-Krieg" bereits begonnen.


Peter Niehus ist gelernter Einzelhandelskaufmann. Während seiner Berufstätigkeit war er überwiegend als Einkäufer und Abteilungsleiter in einem Warenhaus-Konzern tätig und ist seit dem Jahr 2000 Rentner.
Er ist Mitglied der Interessenvertretung im wissenschaftlichen Weiterbildungsprogramm STUDIEREN AB 50 der Universität Bielefeld. Herr Niehus hat an dieser Universität die Arbeitsgemeinschaft "Zeitzeugen" gegründet. Zeitzeugenberichte von acht Autoren sind unter dem Titel "ZeitZeugen - Autobiogrphische Zeitzeugnisse zur Geschichte in Deutschland seit Beginn des Zweiten Weltkrieges" - ISBN 3-98062 88-2-5 - erschienen.
Der vorstehende Bericht ist Bestandteil dieser Ausgabe.


 



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