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Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

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Die letzten Kriegstage im Frühjahr 1945 in
Schlöben bei Stadtroda (Thüringen)

Ein Bericht von Wolfgang Hirsch, Eilenburg

Im Frühjahr 1945 war ich ein kleiner Junge von fünf Jahren, der in einem Dorf mit ca. 250 Einwohnern in der Nähe von Jena aufwuchs. Mein Vater hatte dort seine erste Stelle als Gemeindepfarrer angetreten, aber er konnte seine seelsorgerische Tätigkeit nur kurze Zeit versehen – er wurde kurz von Beginn des zweiten Weltkrieges eingezogen. So kannte ich ihn kaum.

Eigentlich sind mir nur wenige Erinnerungsfetzen an ihn im Gedächtnis geblieben: Ein Besuch von uns im zarten Alter von etwa zwei oder drei Jahren in einem Lazarett in der Nähe von Köln, wo er von einer Schussverletzung auskuriert wurde, die er beim Frankreich-Feldzug erhalten hatte. Eine weitere Begegnung war, als er in seiner feldgrauen Uniform auf Fronturlaub von der Ostfront kam. Da muss ich ungefähr vier gewesen sein. Ich sehe noch vor mir, wie mein Bruder und ich mit wichtiger Miene mit der Schirmmütze meines Vaters auf dem Kopf durch das Wohnzimmer stolzierten.

Die dritte Begegnung war mehr indirekter Art und fand etwa Mitte Januar 1944 statt. Ein Mann kam durch unseren Vorgarten in das Pfarrhaus und überreichte meiner Mutter ein Schreiben. Sie fing sofort an zu weinen. Wir Kinder wussten nicht, was geschehen war. Der Gemeindediener hatte die Nachricht überbracht, dass mein Vater seit dem 4. Januar im Durcheinander des Rückzuges seiner Einheit am Mittelabschnitt der Ostfront, in der Nähe von Minsk, vermisst wurde. Das war und blieb trotz späterer jahrelanger Nachforschungen die letzte Nachricht, die unsere Familie von meinem Vater erhielt.

Im Frühjahr 1945 war der Krieg bis nach Thüringen gekommen. Wir erfuhren von den schweren Bombenangriffen auf Jena. Knapp über dem Horizont kreisten bedrohlich die Bomben- und Jagdflugzeuge und von den Höhen in der Umgebung sahen wir nordöstlich von uns den rötlich erhellten Nachthimmel. „Dort liegt Leipzig. Die Stadt brennt von den Bombenangriffen“, wurde uns erklärt.

Die Versorgung mit Lebensmitteln wurde in den letzten Kriegstagen und –wochen immer schwieriger. Meine Mutter musste ca. sechs bis sieben Kilometer zu Fuß bis in die Kreisstadt Stadtroda laufen, um die notwendigsten Einkäufe zu erledigen. Ich erinnere mich, dass sie eines Nachmittags völlig aufgelöst mit Brot im Rucksack zurückkam. Ihrem Bericht zufolge musste sie bei ihrem Einkaufsweg die Autobahn (die heutige A4) unterqueren. Diese auch strategisch wichtige Schnellstraße wurde zu dieser Zeit regelmäßig von englischen Jagdfliegern abgeflogen. Sie schossen auf alles, war sich in diesem Bereich bewegte. Meine Mutter hatte sich nur durch einen beherzten Sprung in das Gebüsch am Straßenrand retten können. Andere – Bauersfrauen und ältere, nicht mehr fronttaugliche Bauern, die ihre Felder bestellen wollten - hatten weniger Glück. So forderten die letzten Kriegstage auch in unserem Dorf mehrere Opfer.

Um den Luftangriffen zu entgehen, musste die Dorfbevölkerung in die Keller flüchten, die zu dem Schloss gehörten, das im Zentrum des Ortes lag. Wie viele Stunden oder auch Tage wir darin verbrachten, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass am Eingang zu den unterirdischen Katakomben plötzlich Schüsse zu hören waren und dass ihnen ein Dorfbewohner zum Opfer fiel.

Als wir wieder ins Freie durften, brannten im Ort mehrere Häuser. Es waren meist Scheunen oder Stallgebäude. Unser Pfarrhaus war zwar Gott sei Dank unbeschädigt, aber im Haushalt waren Plünderer am Werk gewesen. Ein Teil des Eingeweckten war weg. Besonders traurig war meine Mutter, dass unsere Schreibmaschine, eine Armbanduhr und der Fotoapparat auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren. An allen wichtigen Kreuzungen und Einmündungen sowie vor dem Schloss hatten sich amerikanische Truppen postiert.




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