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Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

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Der 80.Geburtstag meiner Mutter im "Westen"

Ein Bericht von Helga Brachmann, Leipzig
(aufgeschrieben im August 2002)

"Also, zu meinem 80. kommst Du doch! Setze alle Hebel in Bewegung! Jeder kann doch seine Verwandten im Westen besuchen. Warum solltest ausgerechnet Du nicht können. Klemm Dich nur ordentlich dahinter!"
Meine Mutter hatte dies in recht strengem Ton am Telefon gesagt - es war September 1983.
Natürlich wollte ich gern zu ihrem 80.Geburtstag nach Echterdingen bei Stuttgart kommen, um sie nach so vielen Jahren wiederzusehen. Vor allem aber hoffte ich, meine beiden "Westkinder" dort zu treffen. Meine 1983 nach dem "Westen" geflohene Tochter und meinen Sohn, den man 1977 direkt aus dem Ostberliner Gefängnis zum Checkpoint Charlie in Westberlin gebracht hatte.

Ich versuchte meiner Mutter zu erklären, daß mein Besuch zu ihrem 80.Geburtstag doch keine Frage des Wollens sei, sondern eine Frage des Könnens oder des Dürfens. Es könnte Schwierigkeiten bei der Beschaffung der Reiseerlaubnis nach der BRD geben wegen meiner beiden jüngeren Kinder.

"Das ist doch Unsinn! Das ist doch Jahre her, streng Dich nur ordentlich an. Andere reisen auch!"
Meine Eltern waren 1965 legal, samt Wohnungseinrichtung, von Dresden aus in die BRD umgesiedelt. Sie hatten anscheinend auch vergessen, wie unbeweglich die Behörden bei uns waren, wenn es um eine Reise nach Westdeutschland ging. Immer wieder hatten Bekannte meiner Eltern geschrieben, ich solle doch meine Tochterpflichten erfüllen und meine Eltern bzw. jetzt meine Mutter endlich besuchen. Wußten oder ahnten sie wirklich nicht, daß ich wahrscheinlich beobachtet wurde? Heute habe ich Teile meiner Stasi-Akte in der Hand und weiß jetzt, daß j e d e r Brief von und zu meinem Sohn zwischen Westberlin und Leipzig vorher abgefangen wurde - und das zwölf Jahre lang! Auch liegen mir heute polizeiliche Protokolle vor, daß man mich in der CSSR beobachtete und das Hotel ausfindig gemacht hatte, in dem ich mich mit meinem Sohn traf. Gut, daß ich das seinerzeit nicht gemerkt hatte, sonst wäre mir die Freude am kurzen Treffen mit meinem Sohn gründlich verdorben gewesen.

Ich versprach also bei jenem Telefongespräch im Herbst 83 meiner Mutter, mich um eine Reiseerlaubnis zu ihrem Geburtstag zu bemühen.

Zunächst brauchte ich eine Bescheinigung meines Arbeitgebers über 5 Tage Urlaub und die Versicherung, daß keine Bedenken gegen meine "Westreise" vorlägen. Diese Hürde war erfreulich schnell geschafft. Nun hieß es im Volspolizeikreisamt anstehen und nach etwa 30 Minuten bekam ich nach Vorlage meiner Hochschulbescheinigung ein Formular. Da wurde nach dem Grund der Reise gefragt. Ferner mußte man alle Verwandten angeben, die nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. dann in der DDR einmal gewohnt hatten und jetzt in der Bundesrepublik lebten. Name, frühere Anschrift, jetzige Anschrift, früherer und jetziger Arbeitgeber, Verwandtschaftsgrad und Geburtsdaten mußten eingetragen werden. Dann wurde ich aufgerufen in ein kleines Zimmer, wo ein junger Mann - etwa 30 Jahre alt - am Schreibtisch saß. Schräg hinter ihm nahm eine ältere Frau in Uniform Platz, wahrscheinlich seine Vorgesetzte, denn der junge Mann sah sich öfter fragend nach dieser Frau um, die nur schweigend mit dem Kopf Zustimmung oder Ablehnung signalisierte.
"Warum wollen Sie Ihre Mutter besuchen?"
"Nun, wie ich auf das Formular geschrieben habe. Sie hat ihren 80.Geburtstag!"
"Da kann Ihre Mutter doch herkommen. Da müssen Sie doch nicht in die BRD fahren! Wir haben festgestellt, daß Ihre Mutter Sie hier noch nie besucht hat!"
Meine Antwort, daß sie jetzt fast 80 Jahre alt sei, dazu sehr sehbehindert und daß sie seit dem Tod meines Vaters nicht mehr allein reise, schien den jungen Mann keineswegs zu beeindrucken.
"Aber Sie hatten doch schon Besuch aus der BRD! Wer ist Frau Pink, die im Sommer bei Ihnen war?"
´Oh, da klappt die Verbindung von Volkspolizeikreisamt zur örtlichen Meldestelle ja toll´ dachte ich und erklärte dann, daß Frau Pink die Tochter einer ehemaligen Schulkameradin von mir sei, die in der Bundesrepublik geboren sei.
"In Ordnung! Nun erzählen Sie uns mal, wie das war, als Ihre Tochter unsere Republik verlassen hat!"
"Du liebe Zeit" entfuhr es mir, "das ist jetzt genau 10 Jahre her und darüber sind doch seinerzeit genug Befragungen, Verhöre und Belehrungen für mich durchgeführt worden. Das muß doch alles in Ihren Akten stehen!"
"Steht es auch, aber wir wollen von Ihnen wissen, wie das damals war!"
Also erzählte ich möglichst genau und in der richtigen Reihenfolge, wie ich nach und nach herausgefunden hatte, daß meine Tochter aus Liebe zu ihrem späteren Ehemann die DDR verlassen hatte.
"Wie war der Fluchtweg?"
Mit gutem Gewissen konnte ich damals behaupten, daß ich das nicht wisse.
"Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Tochter?"
"Aber, das ist doch selbstverständlich! Außerdem hat sie mich ja nach der letzten Amnestie der DDR besuchen können, nach 9 Jahren Trennung!"
"Das wissen wir. Haben Sie Ihrer Tochter bei dem Besuch klargemacht, daß die Flucht ein Straftatbestand ist?"
"Meine Tochter hat inzwischen 2 Kinder und hat den Mann geheiratet, der sie zur Flucht überredet hat. Da ist es doch jetzt sinnlos, nach 10 Jahren Vorwürfe zu machen!"
"Na, das ist Ihre Meinung. Doch kommen wir jetzt zu Ihrem Sohn! Nun erzählen Sie mal, was da los war!"
Mein Einwand, dß die Verhaftung doch nun auch schon 6 Jahre zurückläge und daß es doch gewiß genügend Akten über seine Haft und seine Ausweisung - "Ausbürgerung!" wurde ich unterbrochen - gäbe, ließ man nicht gelten. Also fing ich an zu erzählen, daß ich von seiner Verhaftung erst nach einigen Tagen erfuhr.
"Was haben Sie da gedacht?"
"Natürlich bin ich furchtbar erschrocken. Das ist doch wohl verständlich, wenn man als Mutter hört, daß der Junge im Gefängnis ist!"
"Ich meine doch, wie Sie das politisch gesehen haben?"
Wahrheitsgemäß schilderte ich, daß mein Sohn, obwohl er damals erst 24 Jahre alt, schon 6 Jahre von zu Hause fort war, sodaß ich nur wisse, daß er als Liedermacher und Rocksänger wahrscheinlich auch Texte im Programm gehabt hätte, die mit der Linie der DDR wohl nicht zu vereinbaren gewesen wären. Ich überlegte mir jedes Wort und hoffte, nach diesem "Programmpunkt" sei ich entlassen. Aber nein!
"Warum haben Sie das Theater verlassen?" Damals galt es als nicht positiv, wenn man seinem Betrieb nicht treu blieb.
"Erstens habe ich ordnungsgemäß gekündigt und zweitens bin ich an der Hochschule für Musik künstlerisch mehr gefordert. Außerdem verdiene ich jetzt mehr und habe eine geregeltere Freizeit!"
"Ach so!" Also bei diesem Punkt war man anscheinend mit meiner Antwort zufrieden. Weiter ging´s:
"Sie leben jetzt 9 Jahre mit Ihrem Partner zusammen. Da gibt es doch bestimmt Probleme, Ärger und Differenzen! Verstehen Sie sich denn?"
"Wenn wir uns nicht gut verstehen würden, lebten wir wohl kaum zusammen!"
"Aber es könnte doch auch sein, daß Sie den Mann verlassen wollen und den Besuch Ihrer Mutter nur vorschieben, um nach "drüben" zu gehen!"
Das Gespräch wurde mir immer unbehaglicher. Aber ich bemühte mich natürlich höflich zu bleiben. Schließlich wollte ich zum 80.Geburtstag meiner Mutter fahren und meine Kinder wieder sehen! Trotzdem wagte ich die Bemerkung:
"Ich bin jetzt 55 Jahre alt. Glauben Sie denn im Ernst, daß ich da in der BRD jemals noch eine feste Anstellung fände?"
"Ach so, ja Ihr Beruf. Was machen Sie - wie heißt gleich das Wort - K o r r e p e t i t o r?"
"Nun, ich erarbeite mit den Studenten der Orchesterabteilung deren Vortrags- und Kammermusikstücke, die sie für Zwischenprüfungen, Examen, internationale Wettbewerbe und bei Probespielen brauchen und begleite dann die jungen Musiker zu diesen Gelegenheiten!"
"Aber Sie arbeiten auch außerhalb der Hochschule!"
Ich unterdrückte meinen Groll über diese Ausfragerei und erwiderte, daß ich für jede Einnahme bei musikalisch-literarischen Veranstaltungen die Steuer immer sofort abgezogen bekäme und außerdem alljährlich pünktlich die Steuererklärung einreichen würde.
"Das interessiert uns hier nicht. Wie schätzen Sie diese Arbeit ein?"
Mein Hinweis, daß man doch beim Kulturbund, bei Kreisbibliotheken oder den zuständigen Stellen für Schülerkonzerte nachfragen könne, ließ den Frager verdrießlich werden:
"SIE sollen Ihre Arbeit einschätzen!"
"Also, ich kann doch nicht mein eigenes Klavierspiel hier loben oder kritisieren!" Plötzlich die Frage: "Und wie denkt Ihre Mutter über unseren Staat?"
Ich war nervös geworden und machte jetzt einen Fehler.
"Meine Mutter spricht das Wort "DDR" eigentlich nicht aus, sie spricht immer von den "Kommunisten"".
Das hätte ich nicht sagen sollen! Ich hätte mich ohrfeigen können!
"Und trotzdem wollen Sie Ihre Mutter zum 80. besuchen?"
"Aber es ist doch meine Mutter!"
"Ihre Mutter kann Sie hier besuchen, da brauchen Sie doch nicht hinzufahren!"
"Aber sie ist doch jetzt eine alte, fast blinde Frau!"
"Blindsein ist nichts Lebensgefährliches. Andere reisen auch in die DDR, die schlecht sehen können!"

Was hatte ich nur für eine Dummheit gemacht. Andererseits hätte ich es kaum über meine Lippen gebracht, aus meiner Mutter eine "glühende Bewundererin der DDR" zu machen.
"Ach so! Warum sind Ihre Eltern 1965 in die BRD übergesiedelt?"
"Weil sie in Dresden eine Dienstwohnung im Gemeindehaus hatten, die nach der Pensionierung meines Vater geräumt werden mußte. Und wie die Wohnungssituation in Dresden 1965 war, ist ja bekannt!"
"Sie hören von uns!"

Nach 4 Wochen bekam ich eine Postkarte. Man bestellte mich wieder auf das Volkspolizeikreisamt, diesmal zu einer jungen uniformierten Frau.
"Ihr Antrag auf einmalige befristete Ausreise aus der DDR wegen dringender Familienangelegenheiten ist abgelehnt worden!"
"Aber warum denn das?"
Schnippisch wurde mir entgegnet: "Das darf ich Ihnen nicht sagen!"
"Aber wieso denn? Wo kann ich denn den Grund erfahren?"
"Da können Sie sich um einen Termin beim Genossen Leiter kümmern. Aber der sagt Ihnen auch nicht warum!"
Grußloß rauschte ich aus dem Dienstzimmer und traf einen Gewandhausmusiker, der sich erkundigte, was ich denn hätte, ich sei so anders als sonst. Naiv erzählte ich von der Ablehnung meines Reiseantrags und er zeigte viel Verständnis für meinen Zorn. Kurze Zeit später erfuhr ich, daß dieser Professor Parteimitglied der SED war. Aber er scheint mich nirgends angeschwärzt zu haben.

Nun mußte ich natürlich in der Hochschule Bescheid sagen, daß ich den genehmigten Urlaub nicht mehr bräuchte. Dabei verblüffte mich die Sekretärin des Rektors mit der Bemerkung, daß die Ablehnung meiner Reise nur zu meinem Besten sei, aus Sorge um meine Sicherheit.
"Wieso Sicherheit? So oft passieren doch keine Eisenbahnunglücke!"
Die Frau lächelte überlegen:"Nun, man hat schon Schlimmes gehört, was Bürgern der DDR in der Bundesrepublik passiert ist!"
Ich ersparte mir die Frage, was dies "Schlimme" denn sei.

Als auch mein Geburtstags-Besuchsantrag zum 81. und dann zum 82.Geburtstag meiner Mutter abgelehnt wurde, wagte ich im Gebäude der SED-Bezirksleitung anzurufen. Bekannte hatten mir den Namen BERGER als freundlichen Mitarbeiter genannt.
"Wir haben keinen Genossen Berger!". "Komisch", dachte ich.
Doch nach zwei Stunden rief ein Herr an: "Hier ist Berger. Sie wollten mich sprechen?"
Also hatte der Mann wohl zwei "Namen". Er verwies mich an einen "Genossen Müller" in der Staatssicherheitszentrale von Leipzig (heute ist es das Museum "Runde Ecke").
Nach vielem Hin und Her, langem Suchen und Warten fand ich dann den "Genossen Müller". Der zeigte sich für mein Anliegen sehr verständnisvoll und riet mir, persönlich an den "Genossen Honecker" zu schreiben. "Aber erwähnen Sie keinesfalls, daß der Rat von mir kommt. Ich darf Ihnen eigentlich so etwas gar nicht sagen!"

Also schrieb ich an Erich Honecker und bat um die Reiseerlaubnis. Innerhalb von 8 Tagen kam die Antwort, ich solle mich an die zuständigen "unteren Organe" in Leipzig wenden.
Nun, bei diesen unteren Organen war ich ja bereits dreimal auf Ablehnung gestoßen. Ich mochte da nicht nochmals den gleichen Antrag stellen.

Erst im Herbst 1987, kurz bevor ich Rentenempfänger wurde, durfte ich dann endlich meine Mutter besuchen - zum 84.Geburtstag.



Helga Brachmann ist Pianistin. Sie arbeitete von 1961 bis 1975 als Korrepetitorin an den Städtischen Bühnen Leipzig und war von 1975 bis 1988 Lehrerin im Hochschuldienst an der Musikhochschule Leipzig. Heute ist sie im Ruhestand.




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