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Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

Berichte über Erlebnisse

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Erlebnisse nach dem 2. Weltkrieg in Berlin

Ein Bericht von Dr. Rolf Beyer, Leipzig

Berlin erlebte insgesamt 310 Bombenangriffe der Alliierten mit bis zu 1.200 Flugzeugen bei einem einzigen Angriff. An der Schlacht um Berlin, von den Außenbezirken bis zum Führerbunker in der Stadtmitte, nahmen seitens der Sowjets rund 2,5 Millionen Soldaten mit über 6.000 Panzern sowie 7.500 Flugzeugen und über 10.000 Artilleriegeschütze teil. Gegen diese hatten rund eine Million deutsche Soldaten, Einheiten der Waffen-SS sowie Polizei und Volkssturm, mit noch etwa 800 Panzern, oft verbissen um jede Straße, manchmal auch um jedes Haus gekämpft.

Nach der Beendigung des Krieges mussten deshalb zuerst, bevor an Wiederaufbau überhaupt zu denken war, die Trümmer von den Straßen geräumt und dann der Schutt der zerstörten Häuser abtransportiert werden. Da es nur wenige Männer gab (im Krieg gefallen oder in Gefangenschaft) mussten diese Arbeiten überwiegend von Frauen geleistet werden. Diesen stand keinerlei Technik zur Verfügung um den Schutt auf meist alte LKW zu verladen. Ihre Werkzeuge waren meist die Hände, ein Hammer, eine Schippe und/oder eine Spitzhacke.

Zum Essen gab es damals für die Menschen auf Lebensmittelmarken nur sehr sehr kleine Rationen, so das manche froh waren, wenn sie z.B. mit Kartoffelschalen etwas den Hunger stillen konnten.

Unter diesen Bedingungen nahm das Aufräumen und die erste notdürftige Instandsetzung einer solch riesigen Stadt wie Berlin eine lange Zeit in Anspruch. Auch die Versorgung der Bevölkerung verbesserte sich nur sehr langsam. Und während dieser Zeit ging ich in Berlin in die Schule und später in die Lehre.

In der Schule

Wir wohnten im Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Bis ich dort 1948 aus der Schule kam erlebte ich Dinge, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Folgendes habe ich nie vergessen:

In unserer Klasse gab es Schüler, die aus den Kriegsgebieten kamen, lange Zeit keine Schule hatten, dafür aber unterwegs – vom Verhungern über Erfrieren bis zur Vergewaltigung – viel Böses erleben mussten, wovon sie manchmal erzählten. In unserer Klasse waren somit Schüler zwischen 13 und 18 Jahren, da auch die Älteren einen Schulabschluss haben wollten.

Wir hatten einen sehr alten Lehrer der schon Rentner war. Er gab aber noch Unterricht, da er so jeden Mittag an der Schulspeisung - dünne Suppen die heute auch bei großem Hunger wohl kaum jemand essen würde - teilnehmen durfte. In der Klasse saßen wir an zwei langen Tafeln aus zusammengestellten Tischen, da die älteren von uns nicht mehr in die Bänke passten. Machten wir Blödsinn, hatte unser Lehrer nur ein Mittel dagegen. Er nahm, obwohl er ein netter Kerl und bei uns beliebt war, den Rohrstock und schlug auf uns ein. Das machte allen Spaß. Unsere Köpfe verschwanden unter den Tischen. Der Rücken war geschützt, da wir die Jacken dort ausgepolstert hatten.

Dann erlaubten wir uns etwas, was mir noch heute leid tut. Unser Lehrer kam mit seiner Schulspeisung in einem Kochgeschirr in das Klassenzimmer, stellte dieses auf das Pult und ging noch einmal raus. Wir nahmen das Kochgeschirr, machten einen Bindfaden dran, hängten es aus dem Fenster, machten dieses zu und schnitten den Bindfaden innen ab. Als der Lehrer rein kam, war alles ruhig. Das war für ihn schon ein Alarmzeichen. Wir schauten alle zum Fenster. Als er dort hinging und draußen sein Essen sah, machte er sofort auf - und das Kochgeschirr mit dem Essen fiel runter auf den Schulhof. Hinterher erfuhren wir, dass die Schulspeisung für ihn das einzige Essen an diesem Tag gewesen wäre. Da schämten wir uns alle.

Vor dem Eingang unserer Schule hatte sich ein „Schwarzer Markt“ entwickelt. Die Menschen, meist mehrere Hundert, gingen hin und her und flüsterten, was sie tauschen, kaufen oder verkaufen wollten. Lies man sich auf ein Geschäft ein, musste man aufpassen, dass man nicht übers Ohr gehauen wurde. Wenn wir aus der Schule kamen hörten wir täglich, dass z.B. ein Brot gerade 280 oder 300 Mark und eine einzelne Zigarette 7 oder 8 Mark kostete. So waren damals die Preise. In Abständen machte die Polizei dort Razzia. Kam die Polizei, rannten die Menschen in alle Richtungen davon. Der Polizei ging es vor allem um die, die nicht arbeiteten und nur vom Schwarzhandel lebten. Wurde bemerkt, dass eine Frau für ihre Kinder nur etwas zum Essen besorgen wollte, ließen sie diese laufen. Alle anderen, die sie erwischten, wurden auf LKW geladen und mitgenommen.

Fußball und Konfirmation

In unserer Freizeit hatten wir nur eine Beschäftigung und die war Fußball. Nach Schulschluss, etwa 13.oo Uhr, brachten wir unsere Schulsachen nach Hause und gingen dann möglichst schnell auf den Humannplatz. Dort markierten wir mit Steinen zwei Tore und los ging es. Wir bolzten täglich bis zum Abend.

Ich hatte manchmal ein Problem, da ich öfter meinen Bruder Klaus im Kinderwagen spazieren fahren musste, damit unsere Mutter bei ihrer Heimarbeit als Schneiderin auch einmal Ruhe hatte. Da ich aber spielen wollte, stellte ich den Wagen neben das Tor. Heulte Klaus, musste der Torwart, wenn der Ball auf der anderen Seite war, den Wagen schaukeln. Als das meine Mutter erfuhr, tauchte sie plötzlich auf und ich bekam eine Tracht Prügel. Gut war aber, ich brauchte Klaus danach nicht mehr so oft spazieren fahren.

Mit 14 Jahren stand dann die Konfirmation vor der Tür. Wir mussten deshalb zum Konfirmationsunterricht. Dieser begann um 18.00 Uhr. Von uns Fußballern mussten 3 Spieler daran teilnehmen. Um 18.00 Uhr läuteten die Kirchenglocken und vom Humannplatz bis zur Kirche waren es noch etwa 4 Minuten.

Aber mitten im Spiel will man einfach nicht weg. So fehlten wir einmal ganz und beim nächsten Mal kamen wir sehr spät und waren auch noch sehr dreckig vom Fußball. Unsere Ausrede war: „Wir haben einer alten Frau noch Kohlen aus dem Keller nach oben getragen.“ Vom Pfarrer wurden wir für diese gute Tat noch gelobt. Einige Konfirmanden feixten, da sie wussten wo wir her kamen. Aber es ging alles gut.

Da wir auch faul beim Lernen waren, hatten wir dann vor der Konfirmationsprüfung, die im Beisein der Eltern erfolgte, großen Bammel. Aber auch hier half uns „der liebe Gott, bzw. in seinem Auftrag der Herr Pfarrer“. Beim letzten Unterricht sagte er: Jeder muss eine Frage beantworten. Wenn ich etwas frage hebt der, der die Antwort weiß, die rechte Hand. Wer sie nicht kennt, die linke Hand. Melden müssen sich aber immer alle. Da ich einmal etwas wusste „kam meine Rechte“ und ich war durch. Übrigens: Da niemand durch die Prüfung fiel, wurden auch alle vom Herrn Pfarrer konfirmiert. Als ich volljährig war, trat ich dann aus der Kirche aus.

Meine Lehre und die große Politik

Im Fernmeldeausbildungsamt Berlin, dass sich in Tempelhof (Westberlin) befand, begann ich im September 1948 die Lehre als Fernmeldebauhandwerker. Dort wurde ich mit den Auswirkungen der großen Politik konfrontiert, ohne jedoch die Zusammenhänge richtig zu begreifen. Die sowjetische Besatzungsmacht hatte als Reaktion auf die von den Westmächten durchgeführte einseitige Einführung einer neuen Währung in Westdeutschland und Westberlin (wodurch der Osten mit den Beständen der alten Reichsmark überschwemmt wurde und diese dort Versorgungsprobleme verursachte) von Juni 1948 bis Mai 1949 alle Wege von Westdeutschland nach Westberlin geschlossen (Berlin-Blockade). Deshalb erfolgte die Versorgung Westberlins durch die Westalliierten mit Flugzeugen, bekannt als „Berliner Luftbrücke“.

Ich fuhr nun täglich zu meiner Lehrstelle mit der S-Bahn von Prenzlauer Berg (Ostberlin) nach Tempelhof (Westberlin). Vom Bahnsteig des S-Bahnhofs Tempelhof, der höher gelegen war, konnte man den gesamten Flugplatz Tempelhof übersehen. Und auf diesem Flugplatz landeten – manchmal im Takt von etwa zwei Minuten – alle Flugzeuge, die Versorgungsgüter für Westberlin brachten. Diese kamen über die etwa 120 Meter vom S-Bahnhof entfernt stehenden Wohnhäuser. Um richtig auf der Landebahn aufsetzen zu können, kamen sie in einer Höhe von etwa 5 bis 10 Meter über die Dächer der Häuser. Das war ein großes Schauspiel. Deshalb war der Bahnsteig auch immer voller Menschen, die auch heftig über die Gründe der Luftbrücke diskutierten.

Anfang 1949 kam es dann zur Spaltung Berlins. Wir Lehrlinge aus dem Ostsektor wurden informiert, dass im Ostteil der Stadt ein neues Fernmeldeausbildungsamt gegründet wurde und aufgefordert, unsere Lehre dort fortzusetzen. Bei einer Versammlung mit unseren Eltern ergab sich, dass auch viele Lehrausbilder aus Tempelhof im neuen Ausbildungsamt (in der Scharnhorststraße) anfingen. So wechselten fast alle Ostler. Auch der neue Direktor kam aus Tempelhof.

Von meiner Lehre selbst sind mir besonders folgende zwei Dinge im Gedächtnis geblieben.

„Praxiserfahrungen“ als Lehrling

Wir Lehrlinge mussten auch Erfahrungen in der Praxis sammeln und dort selbständig arbeiten lernen. So ging u.a. auch jeder von uns kurze Zeit mit einem Entstörer eines Fernmeldeamtes zu den Kunden (Entstörer war die damalige Berufsbezeichnung der Mitarbeiter für die Instandsetzung). Bei den Kunden wurden sowohl die Telefone als auch die Anschlussleitungen von den Verteilern bis zu den Häusern bei Ausfall repariert.

Damals gab es keine neuen Telefongeräte. In Betrieb waren noch die verschiedensten alten Modelle, für die es jedoch kaum noch Ersatzteile gab. So musste bei Störungen fast immer improvisiert – meist gelötet - werden. Das Improvisieren war auch bei den Anschluss- leitungen notwendig. Berlin lag noch in Trümmern und die Telefonleitungen wurden meist provisorisch über Mauerreste zerbombter Häuser usw. gezogen. Fiel eine Mauer um, war auch die Telefonleitung hinüber.

Telefonzellen gab es nach dem 2. Weltkrieg auch noch nicht und das Handy zum mobilen telefonieren wurde erst 1983 – also über 30 Jahre später – erfunden. Damals waren auch die Telefone mit Tasten noch unbekannt. Gewählt wurde, indem man eine Scheibe drehte.

Telefone hatten damals fast nur Geschäftsleute. War dort etwas kaputt, kam es zu folgendem Ablauf (den mir der Entstörer als erstes beigebracht hatte): Auf dem Weg zum Kunden erhielt ich ein bestimmtes Ersatzteil, dass ich gut wegsteckte. Kamen wir dann z.B. beim Bäcker an, öffnete der Entstörer das Telefon und stöhnte, dass ein Teil kaputt ist, welches nicht mehr zu reparieren ist. Mit Sicherheit jammerte dann der Bäcker, dass er ohne Telefon nicht sein kann. Der Entstörer erinnert sich dann plötzlich, dass ihm eine Stelle bekannt ist, die alte Telefone ausschlachtet. Dort könnte man versuchen ein Teil zu bekommen. Da ich der Lehrling war wurde ich dort hingeschickt. Ich ging also etwas spazieren und kam dann mit dem mir vorher übergebenen Teil zurück. Wenn wir die Bäckerei verließen, hatten wir jeder ein halbes Brot oder eine Tüte mit Brötchen. Darüber freute sich auch meine Mutter mächtig.

Zu unserer Schande muss ich gestehen, dass wir einmal früh, als wir „Knast“ hatten, von einem Fleischer den Anschluss im Verteiler abklemmten. Mittags erhielten wir dann den Auftrag für die Reparatur des Telefons beim Fleischer. Nach der „Reparatur vor Ort“ erhielten wir - wie erhofft - etwas Wurst als „Lohn“.

Wie meine Lehrzeit endete

Unsere Lehre dauerte drei Jahre. Anfang des dritten Lehrjahres wurde ein anderer Lehrling und ich plötzlich zum Direktor bestellt. Im Zimmer befand sich außer dem Direktor auch unser Lehrausbilder. Der andere Lehrling musste zuerst rein. Ich saß draußen und hörte wie er wegen irgendwelcher Sachen fürchterlich zusammengefaltet wurde. Ich überlegte hektisch, was ich in der letzten Zeit alles angestellt hatte. Dann ging die Tür auf, der andere Lehrling kam raus und ich musste rein. Ich glaubte es kaum, aber die beiden Vorgesetzten wurden plötzlich freundlich und machten mir folgenden Vorschlag:

Es läuft ein Versuch die Lehrzeit zu verkürzen. Die Lehrlinge, die ein halbes Jahr vor mir begannen, haben morgen theoretische Prüfung und können nach der folgenden praktischen Prüfung zwei Monate früher auslernen. Da ich der beste Lehrling des nachfolgenden Lehrjahres war, kann ich morgen auch an der theoretischen Prüfung teilnehmen. Bestehe ich diese und auch die anschließende praktische Prüfung, kann ich 8 Monate früher auslernen, bestehe ich nicht, gilt das nur als Test ohne Konsequenzen.

Ich überlegte nicht lange. Im 1. Lehrjahr erhielt ich monatlich 60,- Mark, im zweiten 80,- und im dritten Lehrjahr 100,- Mark. Als Fernmeldebauhandwerker betrug mein Anfangslohn 270,- und nach 3 Monaten 310,- Mark. Das lockte. So sagte ich sofort zu und bestand ohne Probleme die theoretische und später auch die praktische Prüfung. So hatte ich bereits mit 16 Jahren, am 31. Januar 1951, meine Lehre abgeschlossen.



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