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Das erste Mal von Ost nach West: Kulturschock

Ein Bericht von Elke Rau, Leipzig

Ich gehörte seit 1986 einem Zirkel "Schreibende" an, der von einer Absolventin des Leipziger Literaturinstituts geleitet wurde. Jedes Jahr hatten wir eine öffentliche Lesung, auf der ausgewählte Beiträge von den Teilnehmern selbst vorgetragen wurden. Nach einer solchen Veranstaltung kam ein Kulturfunktionär mit der Frage zu mir, ob ich nicht mit meiner Kurzgeschichte an einem Literaturwettbewerb für Laien teilnehmen wolle. Ich sagte zu.
Lange hörte ich nichts und vergaß über den bewegenden politischen Ereignissen des Oktober ´89 die Angelegenheit. Da erhielt ich Anfang November unverhofft ein Schreiben des Kulturministeriums mit dem Inhalt, dass ich zu den Preisträgern gehöre und dies mit einer Einladung am 18.11.89 ins Maxim-Gorki-Theater zu einer Auszeichnung verbunden sei. Ich freute mich sehr darüber.
Als dann am 9.November die Mauer fiel, konnte ich mir kaum vorstellen, dass noch alles wie geplant stattfinden würde - aber eine telefonische Nachfrage zerstreute meine Bedenken.
So fuhr ich am 18.11. morgens 6.30 Uhr zum Hauptbahnhof und traute meinen Augen kaum: Der Bahnhof schwarz voller Menschen, die alle irgendwo mit Kind und Kegel ihr Empfangsgeld abholen wollten. Am Bahnsteig nach Berlin ging kein Apfel zur Erde, geschweige denn, in den Zug hineinzukommen.
Mit meinem "Ministerbrief" in der Hand fing ich den Schaffner ab und wurde nach langer Diskussion zusammen mit einer jungen Frau und deren Kindern in sein Dienstabteil eingeschlossen. Da der Zug total überfüllt war, hielt er nirgends unterwegs und war relativ pünktlich.
Im Maxim-Gorki-Theater trudelten nach und nach die Preisträger mit unterschiedlicher Verspätung ein. Es waren Sänger, Tänzer, Volkskünstler, Musiker, Bastler, Maler, Schreibende, Handarbeitszirkel usw., alles erste bis dritte Sieger. Langsam füllte sich der Saal, ein Jugendorchester nahm Platz, die Lichter erloschen und die Feierstunde wurde mit Beethovens Coriolan-Ouverture eröffnet. Danach würdigte der Staatssekretär des Kulturministers das hohe Niveau der Ergebnisse des ausgeschriebenen Wettbewerbs und vergab die Auszeichnungen.
Im Anschluss an die Feierstunde gab es im Foyer ein luxuriöses kaltes Buffet, wo man mit anderen und dem Staatssekretär ins Gespräch kommen konnte. Aber irgendwie kamen wir uns gespalten vor; hier im Haus lief alles so ab, als hätte es vor 9 Tagen den Mauerfall nicht gegeben, während draussen auf der Strasse die Menschen gen Westberlin strömten.
Gegen Mittag schloss auch ich mich dem Strom an und wurde an der Mauer durch eine niedergerissene Öffnung an den Volkspolizisten vorbei in den Westen geschoben. So stand ich nach 30 Jahren das erste Mal auf Westberliner Boden von lärmenden Menschen umgeben. Plötzlich hielten unweit von mir 3 Lastkraftwagen, öffneten ihre Laderampen und warfen kistenweise "Mon cherie" in die Menge. Ich stand zum Glück etwas abseits und musste mit Entsetzen beobachten, wie sich die Menschen ohne Rücksicht auf Verluste auf den Pralinenregen stürzten, als hätten sie 40 Jahre nichts Süsses zu essen bekommen.
So sehr ich oft im Interzonenzug von Erfurt nach Leipzig ältere Damen, die von ihrem Westbesuch zurückkamen, um Fruchtjoghurts und Schoko-Riegel beneidet hatte, hier verging mir der Appetit! Vielleicht war diese in doppelter Hinsicht unwürdige Szene die Ursache dafür, dass ich zu den wenigen gehöre, die sich nie ihre 100 DM Begrüssungsgeld abgeholt haben.
Da ich nicht gegen den Strom schwimmen konnte, entfernte ich mich seitlich von den Massen in den Tiergarten. Von Euphorie beim Übertreten der Grenze, die mir später von anderen geschildert wurde, gab es bei mir keine Spur. Der erste Eindruck hinterliess einen Schock.
Noch in Gedanken versunken über das eben Erlebte und die im Gegensatz dazu stehende Feierstunde stand ich plötzlich vor einem Gebäude, das mir aus dem Westfernsehen bekannt vorkam und sich als die Berliner Philharmonie herausstellte. Ich sah im Inneren Licht und hoffte, dass die Türen geöffnet seien. Ein Druck auf die Klinke - und sie gab nach! Wie in Trance betrat ich den Musentempel, von dem ich nie geglaubt hätte, dass er sich vor dem Eintritt ins Rentenalter - ich war noch 10 Jahre davon entfernt - mir öffnen würde. Da ergriff mich eine tiefe innere Freude im Sinne des "res severa verum gaudium" darüber, dass ich ohne zu suchen ein anderes Gesicht der Maueröffnung gefunden hatte, das den ersten Eindruck milderte. Allerdings hatte ich in diesem Moment keine Ahnung davon, dass alle die Dinge, die mir bisher das Leben ausserhalb des Berufes lebenswert gemacht hatten - Bücher, Theater, Konzerte, Schallplatten - eine Frage des Geldes werden sollten.
Inzwischen, im vereinten Deutschland angekommen, kann ich Prioritäten setzen und mich zwischen 10 Schachteln "Mon Cherie" und einem guten Buch entscheiden.



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