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Berichte über Erlebnisse

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DDR-Rentnerin reiste in den Westen

Ein Bericht von Helga Brachmann, Leipzig

In dem nachstehendem Beitrag wurde bei bestimmten Aussagen die Form der wörtlichen Rede mit An- und Ausführungsstrichen gewählt. Es handelt sich dabei nicht um Zitate. Das mit der wörtlichen Rede verbundene Anliegen ist, frühere Erlebnisse anschaulicher darzustellen.

Wiederholt war mir eine Fahrt zu meinen Verwandten in der Bundesrepublik nicht genehmigt worden. Deshalb sah ich mit Spannung meinem 60. Geburtstag entgegen, denn im Allgemeinen bekam man dann als Frau einen Reisepass und durfte sich im Jahr insgesamt 4 Wochen im "Westen" aufhalten. Männer erhielten mit 65 Jahren diese Dauerreiseerlaubnis. Und so hatten mein Sohn Christian und ich seit 11 Jahren fast jeden Brief mit dem Satz beendet: "Auf Wiedersehen am 19. Mai 1988 in Berlin-West!" Am 18. Mai war mein 60. Geburtstag, am 20.Mai war mein Sohn geboren.

Beim Ausfüllen des Antrages auf einen Reisepass konnte man bis zu 3 "Westadressen" angeben. Da ich ängstlich war, ob ich den Ausweis auch wirklich erhalten würde, hatte ich für Berlin vorsichtshalber die Adresse meiner 18jährigen Enkelin angegeben; denn mein Sohn war durch seinen Einsatz für Wolf Biermann 1976 in der DDR in großen Schwierigkeiten gewesen. Der lang ersehnte Tag kam heran! Bei der Pass- und Zollkontrolle im Bahnhof Berlin-Friedrichstrasse musste ich den gesamten Inhalt meiner Handtasche ausbreiten.

"Warum haben Sie Autopapiere und Ihre Fahrerlaubnis bei sich?"
"Nun, ich wohne in Wahren, das ist am Stadtrand von Leipzig und da bin ich mit dem Auto zum Hauptbahnhof gefahren und stehe auf dem Parkplatz Gerberstrasse!"
"Und wozu haben Sie dann Straßenbahnfahrkarten bei sich?"
"Weil mein Trabi manchmal bockt, er ist schon 11 Jahre alt."
"Warum haben Sie Ihren Hochschulausweis einstecken?"
"Ich arbeite noch bis Semesterende!"
"Da hätten Sie doch den Ausweis zu Hause lassen können!"
"Ich war gestern noch abends in der Hochschule und übermorgen unterrichte ich wieder!"
"Na, das nächste Mal packen Sie vorher den Dienstausweis aus!"
"Und wer ist das da auf dem Foto?"
"Das ist mein langjähriger Lebenskamerad!"
"Wo wohnt der?"
"Na in Leipzig, in unserer Wohnung!"
"Aber dieses Passbild wurde im Westen aufgenommen!"
"Ja, der Mann ist 8 Jahre älter als ich und durfte schon ein paar Mal seine Verwandten auf Sylt besuchen!"
"Und warum hat er sich da fotografieren lassen?"
"Das weiß ich nicht so genau. Wahrscheinlich für seine alte Mutter, die ist 91 Jahre alt!"
"So, und nun öffnen Sie mal den Kulturbeutel!"
"Wissen Sie, mir wäre es eigentlich lieber, wenn ich den Inhalt einer Dame zeigen könnte!"
"Das können Sie haben. Dann warten Sie bis eine Kabine frei wird zur Leibesvisitation!"

Ich erschrak. Mein Sohn und ich hatten uns am U-Bahnhof Uhlandstraße verabredet und ich hatte nur ein paar Groschen Westgeld in der Tasche. Was sollte ich ohne Fahrgeld in Westberlin anfangen falls wir uns verfehlten? Also meinte ich: "Na, so geheimnisvoll ist mein Täschchen ja auch nicht. Bitte, sehen Sie hier!" Endlich war die Durchsuchung geschafft! "Weitergehen, der Nächste!"

Ich packte schnellstens alles ein und atmete erleichtert auf als ich den U-Bahn-Bahnsteig erreicht hatte. Ich war in WESTberlin, wo ich vor dem Krieg - als die Stadt noch ungeteilt war - zur Schule gekommen war! Heimatliche Gefühle kamen auf, die Vorfreude auf meinen Sohn wuchs! Merkwürdig, fast unheimlich wirkten die geschlossenen Untergrundbahnhöfe, ich glaube Berlin-Mitte war es. Dann: Uhlandstraße! Zwei Ausgänge, aber ich wusste ja, wo wir uns treffen wollten. Doch kein Christian zu sehen! Schnell zur Telefonzelle! Kartentelefon! Und ich hatte doch keine West-Telefonkarte! Zur Straße geeilt! Zum Glück, da stand ein Häuschen mit dem Schild "Münzfernsprecher" doch ich fand keine Schlitze für meine Groschen. Ich fragte zwei vorbeikommende junge Mädchen, die mir die Groschen-Schiebe-Einrichtung erklärten und sich liebevoll über mich unwissende "Osttante" amüsierten. Da hupte es, mein Sohn kam im Mietwagen angebraust, ich hatte es geschafft! Große Freude! Große Erleichterung! Meinem Sohn schien es auch nichts auszumachen, in der finsteren und feuchten Hinterhauswohnung in Kreuzberg zu leben, wo sich kein Sonnenstrahl hin verirrte, wo es nur ein winziges Waschbecken gab. Wir gingen dann in ein kleines Restaurant und ich sah erstaunt die zahlreichen kopftuchbedeckten Frauen mit ihren niedlichen kleinen Kindern.

"Hier wohnen eine Menge Türken" erklärte Christian und fuhr fort: "Ich mag das bunte Treiben, wo sich das Leben zum großen Teil auf der Straße abspielt." Die Speisekarte wurde gebracht. "Such Dir was aus, Mama!" Nun, ich wollte etwas essen, was ich nicht kannte. "Artischocke- was ist das? Und hier, Kiwi-Eis--- was ist das?" Christian wunderte sich, dass ich so unwissend war. "Nun, schließlich lebst Du hier seit 11 Jahren---- und ich bin mal gerade eine Stunde da!"

Abends trafen wir uns mit Enkelin Denise in einem kleinen Kellerlokal und tranken um 24Uhr einen Schluck auf den Geburtstag meines Sohnes. Am nächsten Morgen schlug Christian vor: "Wir fahren jetzt zum Rathaus Kreuzberg, holen Deine "Begrüßungskohle", dann geht es in ein Kaufhaus, vielleicht erwischt Du ein Schnäppchen. Damit Du nicht immer so langweilig aussiehst, Rock, Bluse, das war's dann!" Was ist ein "Schnäppchen"? Lachend erklärte es mir mein Sohn. Ich wollte natürlich meinen "Ostkindern" und auch den Enkeln etwas mitbringen. Im Sozialamt Kreuzberg legte ich meinen Pass vor. "Das ist nicht bei uns!" Der Mann war wenig freundlich. Christian fragte: "Wieso"?

"Ihre Mutter will wohl zweimal Geld haben! Hier im Pass steht die Adresse Denise K., Nassauische Straße, das ist Charlottenburg. Wir sind Kreuzberg!" "Aber könnten Sie nicht vielleicht in Charlottenburg anrufen und sagen, dass Sie mir das Geld gegeben haben? Dann brauchen wir nicht erst noch woanders hinfahren, ich muss heute noch nach Leipzig zurück!" Das interessierte den Mann herzlich wenig. "Es muss alles seine Ordnung haben!" Nun, also mussten wir nach Charlottenburg fahren. So sehr weit war es gar nicht. Aber mein Sohn war wütend: "Immer Du mit Deiner Scheißbehördenangst! Ich hab' mir meinen Geburtstag anders vorgestellt, als von einer Behörde zur anderen zu gondeln! Warum hast Du denn nicht meine Adresse als "den Besuchenden" angegeben?"

"Chris, ich hatte Sorge, dass man mir den Reisepass nicht aushändigen würde, wenn Deine Adresse auf dem Antrag stünde" "So ein Blödsinn! Das mit dem Knast ist doch über 11 Jahre her! Und Dir als Rentnerin steht doch der Pass zu!" - "Also, ich weiß von Freunden, dass sie auch als Rentner ihre Kinder im Westen nicht besuchen durften, wenn es sich um "Dissidenten" handelte! Deswegen habe ich vorsichtshalber die Anschrift von Denise aufgeschrieben!" "Blöde Behördenangst"---- aber langsam beruhigte sich mein Sohn, in Charlottenburg ging es schnell, ich erhielt das Geld und wir kauften die Mitbringsel für die Familie zu Hause und für mich ein Paar leichte Sommersandalen. Ich hatte nun gesehen, wie ärmlich mein Sohn lebte und wollte ihm den Rest des Geldes geben, es waren noch etwa 45,-- Westmark, aber das ließ sein Stolz nicht zu. Wir verabschiedeten uns dann nachmittags wieder am Untergrundbahnhof Uhlandstraße, Christian wollte nicht bis zur Grenze mitfahren. "Die Grenzer da in Uniform will ich nicht sehen!" Der Abschied war herzlich, die Kontrolle in der Friedrichstraße problemlos. Und im Ganzen gesehen, war es ein schönes Treffen gewesen.

Ich besuchte dann meinen Sohn wieder im Herbst und dann im Frühjahr 1989. Ich konnte nun auch meine sehr alte Mutter immer mal ein paar Tage in der Nähe von Stuttgart sehen, ich sah meine Geschwister wieder und ich lernte das Umfeld meiner jüngsten Tochter kennen, die 15 Jahre vorher aus der DDR geflohen war.

Als Mitbringsel kaufte ich in Leipzig immer Bildbände oder versuchte, erzgebirgische Schnitzkunst oder auch Glasbilder zu bekommen. Mit dem Bargeld - ich meine Bargeld in harter Währung - war es immer knapp. Ich weiß noch, dass ich mich am 2. Weihnachtsfeiertag 1988 mit meiner "Westtochter" auf dem Bahnhof in Gießen verabredet hatte. Kurz vor meinem Umsteigebahnhof FULDA merkte ich, das der Zug aus Leipzig eine gewaltige Verspätung hatte. Was sollte ich machen, wenn ich den Anschlusszug in Fulda nicht bekam? Ich hatte wieder nur noch ein paar Groschen, wie sollte ich meine Tochter im Westerwald benachrichtigen, wovon sollte ich das Geld nehmen die etwa 100 km von Gießen aus zu ihr zu fahren falls ich zu spät ankam? Hinterher wurde ich belehrt, ich hätte mich an das Rote Kreuz wenden können, aber auf diese Idee kam ich in jenen Minuten gar nicht. Ich stürzte in Fulda aus dem Zug, rannte mit dem Koffer den Bahnsteig entlang, Treppe hinunter, Treppe hinauf, kaum hatte ich meinen Zug erreicht, fuhr er schon ab. Ich war gerettet!

In Gießen dann beobachteten Wartende die stürmische Begrüßung mit Tochter, Schwiegersohn und den drei "Westenkeln". Dann wurde ich angesprochen: "Sie kommen auch aus dem Osten? Wir sind so in Sorge, unsere Mutter sollte jetzt auch in diesem Zug sein, aber sie ist es nicht! War irgendetwas an der Grenze? Verhaftungen? Oder so etwas?" Ich beruhigte die Fremden. "Es war diesmal eine ganz normale Passkontrolle! Ich habe auch Niemanden entdeckt, der aus dem Zug aussteigen und mit den Grenzsoldaten in das Bahnhofsgebäude gehen musste. Ist Ihre Frau Mutter älter als ich oder gehbehindert?" "Ja, wieso? Sie geht am Stock!" "Dann ist das d i e Erklärung! Ich habe den Zug in Fulda nur bekommen, weil ich gerannt bin. Wenn Ihre Mutter das nicht mehr kann, liegt die Verspätung daran, dass die Bahn nicht auf alle Umsteigenden gewartet hat!" "Unmöglich" -fand das, das fremde Ehepaar. Dem hatte ich nichts hinzuzufügen. Ihre Mutter kommt bestimmt mit dem nächsten Zug!"

Es kam der 9.November 1989. Mir wurden vier Zähne gezogen, der ganze Mund tat noch weh - da hörten mein Partner und ich in den Abendnachrichten, dass die "Mauer" geöffnet worden sei! Bald folgten die ersten Bilder von jubelnden Menschen die das Bauwerk hinauf kletterten, man sah wie sich Ost- und Westberliner in den Armen vor Freude lagen. Unglaublich! Würde die Grenze offen bleiben? Für immer? Würden die Kontrollen nun wegfallen? Konnte man nun - und zwar auch die Nicht-Rentner - nach dem "Westen" fahren, wann immer sie wollten?

Damals war es mit den Telefonverbindungen zwischen Ost und West noch sehr schwierig. Hatte man "dringend, gegen doppelte Gebühr" angemeldet, konnte es passieren, dass man Stunden warten musste. Manchmal kam die Verbindung auch erst nachts zustande. Und tatsächlich, in der nächsten Nacht - etwa 3 Uhr - war mein Sohn am Apparat. "Mutter, wollen wir bei unserem Treffen bleiben? Es ist Wahnsinn hier jetzt, alles ist voll, die Leute strömen wie verrückt über die Grenze!" Ich meinte: "Ach, weißt Du, ich habe mich so auf Dich gefreut, ich habe auch schon die Platzkarten, meine Zahngeschichte ist jetzt erträglich, nächste Woche arbeite ich. Lass uns an der Verabredung festhalten!" "Na schön. Treffpunkt wie immer, U- Bahnhof Uhlandstraße!"

Ich hatte nicht geahnt, auf was ich mich da eingelassen hatte! An meinen Sitzplatz im Zug kam ich gar nicht heran, ich war schon froh, auf meiner Reisetasche Platz zu finden. Noch voller war die Berliner S-Bahn, sämtliche Mantelknöpfe wurden mir förmlich abgedreht. Kurz vor dem Bahnhof Friedrichstraße hieß es: ALLES AUSSTEIGEN! BAUARBEITEN!

Die Menschenmassen drängten, wir passierten irgendeinen ehemaligen Grenzübergang. "Nur die Ausweise hochhalten" riefen lachende Grenzsoldaten, niemand kontrollierte, es war eine fröhliche Stimmung, beim Überqueren einer Brücke knallten Sektkorken, es war der 11.11.1989 um 11Uhr 11 !

In Westberlin nun zu Fuß angekommen fragte ich nach dem nächsten U-Bahnhof. Doch ich kam gar nicht mehr in den überfüllten Zug hinein. Ich eilte zur nächsten Station - wieder kein Mitkommen! So schnell ich konnte ging es zum nächsten U-Bahnhof, schließlich wartete mein Sohn an der Uhlandstraße! Da ertönte die erlösende Durchsage: "Zurücktreten vom Bahnsteig! Es wird ein Sonderzug eingesetzt!" Ich hatte es geschafft! Fröhlich waren die Menschen die da in Richtung Berlin-Mitte fuhren aber auch übermütig. Mich entsetzte dass leere Bierbüchsen auf die Gleise flogen! Ich schämte mich für meine Landsleute. Riesenschlangen vor Gebäuden die nach Behörden aussahen! Aha, sicher die Auszahlungsstellen für das Begrüßungsgeld!

Mein Sohn brummte: "Du bist über eine halbe Stunde zu spät, ich wollte gerade gehen" - aber natürlich verstand er warum ich nicht pünktlich war. Kaum in seiner Behausung in Kreuzberg angekommen, riefen Rundfunk- und Fernsehstationen an. Man wollte ihn als ausgewiesenen "Dissidenten" für eine Lifeshow anlässlich der Grenzöffnung für den Nachmittag engagieren. So konnte ich mich in der leeren Wohnung erst einmal von den Reisestrapazen ausruhen. Gegen Abend wollten Christian und ich dann für die Leipziger Enkel Bananen und Gummibärchen, Apfelsinen und Kaugummis kaufen - aber alle Kreuzberger Geschäfte waren ausverkauft! "Wie das heute hier aussieht, dieser Dreck, können die Ostler sich nicht anständig benehmen? monierte Christian. Wie ein Schwarm Heuschrecken!" Mir war es außerordentlich peinlich wie die Straßen mit Bananenschalen und Verpackungsmüll übersät waren.

Ich beschloss, am nächsten Tag - es war ein Sonntag - so zeitig wie möglich nach Hause zu fahren. Meine Rechnung dass um diese Zeit noch niemand aus Westberlin aufbrechen würde, ging zwar nicht ganz auf, aber ich bekam diesmal sogar einen Sitzplatz. In mir war eine Mischung aus Freude, Besorgnis und Scham. Freude, weil man von nun an unkontrolliert jederzeit zu seinen Lieben fahren konnte; Besorgnis, wie es in der damals noch bestehenden DDR wirtschaftlich und politisch weitergehen würde; Scham, wenn ich an die z. Teil betrunkenen DDR-Menschen dachte, die in Westberlin in großem Ausmaß Müll aller Art einfach auf die Straßen hingeworfen hatten!




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