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Universität Leipzig

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Der Hausklub

Ein Bericht von Gerda Lott, Leipzig

Im Dezember 1980 erhielten mein Mann und ich vom Rat des Stadtbezirkes West die Zuweisung für den Erstbezug einer Drei-Raum-Wohnung im Neubaugebiet Grünau. Die Wohnung lag in einem 16-geschossigen Hochhaus in der Grünauer Allee, Nähe der Lützner Straße.
Anlässlich der Schlüsselübergabe erfuhren wir Mieter zu unserer Überraschung, dass der VEB (Volkseigene Betrieb) Kommunale Wohnungsverwaltung Klubräume bereit stelle, die von gesellschaftlichen Organisationen und Mietern -zum Abhalten von Familienfeiern- unentgeltlich genutzt werden können.
Der Klub bestand aus zwei übereinander liegenden Drei-Raum-Wohnungen; die untere mit Einbauküche, Herd, Kühlschrank, Toilette und Abstellkammer wurde von der 15. Etage betreten - bis hierher fuhr der Aufzug. Die obere mit Bad und Toilette war nur über eine interne Treppe zu erreichen.
Die Wohnungen waren möbliert; es gab sogar ein Sitzungszimmer mit Clubsesseln und -tischen. Die Küche war mit allem ausgerüstet was zur Bewirtung einer großen Gesellschaft erforderlich ist. Für geselliges Beisammensein und Lichtbildervorträge waren Schallplattenspieler, Projektor und Projektionswand vorhanden.

Die Bewohner der 132 Wohnungen, darunter 28 Einraumwohnungen, befanden sich nach Abschluss der Umzugsphase in einem Zwischenstadium; sie hatten ihre bis dahin vertraute Umgebung, ihre Nachbarn verloren und mussten nun neue Beziehungen knüpfen. Der gegebene Ort dazu war der Klub. Engagierte Bewohner, darunter mein Mann und ich, gründeten deshalb einen Klubrat und stellten mit diesem Arbeitspläne auf. Wir griffen dabei auf bewährte Veranstaltungsmuster zurück;
Kaffeestunden für Rentner, Spielabende, Lichtbildervorträge und Hausfeste (der Jahreszeit entsprechend). Dabei forderten wir die Bewohner auf, weitere Vorschläge zu äußern und sich an der Ausgestaltung von Veranstaltungen zu beteiligen.
So erschien zu einer Kaffeestunde eine Bewohnerin, ihren weißen Angorakater im Arm, und erzählte über ihre Tätigkeit als Sängerin an den Opernbühnen in Halle/Saale und Leipzig. Zum Abschluss sang sie einige Stücke aus ihrem Repertoire. Es war ein Riesenerfolg, die Zuhörer waren begeistert.
Das Monatsprogramm des Klubs wurde an der Anschlagtafel ausgehängt und von den Bewohnern eifrig studiert. Der Klub kam "ins Gespräch", auch in den umliegenden Häusern.
Eine Kindergärtnerin hatte für die Kinder und Enkel der Bewohner eine Weihnachtsfeier durchgeführt und ein Reporter der "Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten" (Organ der National- Demokratischen Partei Deutschlands) in Wort und Bild darüber berichtet. Dabei hob er die vorbildliche Arbeit des Klubrates hervor. Diese unsere Aktivitäten wurden nicht überall im Haus mit Wohlwollen betrachtet. Ein Genosse der SED teilte uns mit, dass für die kulturelle Betreuung der Rentner die "Volkssolidarität" zuständig sei und nicht der Klubrat. Diese Aufgabe würde ab sofort eine Genossin übernehmen. Das war das Ende unserer Arbeit, wir traten zurück, denn Genossen hatten wir nicht unter uns. Ein neuer Klubrat nahm seine Tätigkeit auf. Ende des Jahrzehnts spielte der Klub angesichts der zu erwartenden politischen Veränderungen kaum noch eine Rolle.

Am 14. März 1990 wurde in Leipzig die Arbeiterwohlfahrt (AWO), dieser große, der SPD nahe stehendem Verband, neu gegründet. Während der Feier meldeten sich spontan Männer und Frauen zur Mitarbeit, darunter war auch ich.
Der Kreisverband der AWO errichtete Sozialstationen, wo professionelle Kräfte für unterschiedliche Dienste, z.B. Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen, stationiert waren. Die Aufgabe von uns Ehrenamtlichen hingegen war die Betreuung von Senioren. Doch vorher mussten wir erst Ortsvereine und Stützpunkte gründen und Mitglieder gewinnen. Den Wohlfahrtsverbänden wurde damals für ihre Arbeit bestimmte Territorien im Stadtgebiet zugewiesen; der AWO u.a. Grünau.
Ich wohnte seit 10 Jahren hier, kannte das Umfeld und gründete am 4. November 1990 einen Stützpunkt in einem Hochhaus der Grünauer Allee. Unsere Gründungsversammlung feierten wir in den altbekannten Räumen des Klubs.
Wir hatten nun öfter Gäste im Klub: kompetente Referenten, von der Geschäftsleitung vermittelt, klärten uns auf über Pflegeversicherung, evtl. Erhöhung der Mieten usw., Dinge die uns so verunsichert hatten. Ein Stadtrat informierte uns über die Arbeit im Stadtparlament. Wichtig aber blieben die Zusammenkünfte bei einer Tasse Kaffee oder einem Gläschen Wein, wo die Mitglieder Ansprechpartner und Zuhörer fanden, denn fast alle wohnen jetzt allein in einer Wohnung. Wir machten unsere kleinen Wanderungen, deren Ziele mit der Straßenbahn zu erreichen waren. Wir hatten nicht genügend Geld, einen Bus zu mieten, denn der Rücklauf aus Mietgliederbeiträgen war gering. Wir besuchten die Musikalische Komödie und sammelten Kleidung und Spielzeug für die Gastkinder aus Tschernobyl.
Inzwischen war eine gravierende Veränderung eingetreten: Am 1. März 1991 wurde der Klub aufgelöst, die Räume als Wohnung vermietet, das Inventar der AWO übergeben. Nach langen, zähen Verhandlungen stellte uns die Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft mbH zwei Kellerräume unentgeltlich zur Verfügung. Noch einmal erlebten wir, was Nachbarschaftshilfe bedeutet: Bewohner tapezierten die rohen Wände; die Tapeten dazu hatte uns ein einschlägiger Betrieb aus der Lützner Straße geschenkt. Die Einrichtung kam aus dem Fundus der AWO. Aber heimisch wurden wir hier nicht. Die Apparate einer über uns liegender Zahnarztpraxis waren so laut, dass wir uns nur noch an Freitagnachmittagen treffen konnten, da war keine Sprechstunde. Die Räume hatten keine Heizung. In der kalten Jahreszeit mussten wir in den Seniorenklub der AWO in der Ludwigsburger Straße ausweichen. Den Transport der Gehbehinderten übernahm die Fahrbereitschaft der Sozialstation.

Seit 1992 besaß der Stützpunkt 25 Mitglieder. Ihr Durchschnittsalter betrug 76 Jahre, 8 Mitglieder waren 80 Jahre alt und darüber. Einige Zeit stagnierte die Mitgliederzahl, da wir keine Neuzugänge hatten; neue Bewohner des Hauses gehörten jüngeren Jahrgängen an - dann begann sie zu schrumpfen.
Einige Mitglieder wechselten die Wohnung und zogen in die Nähe von Kindern oder Verwandten, einige gingen in ein Altersheim. Der Kassierer wurde blind, eine Frau musste wegen geistiger Verwirrtheit in ein Heim eingewiesen werden. Sechs Mitglieder starben, drei von ihnen gehörten zu meinen aktivsten Helfern. Ersatz gab es für keinen und allein konnte ich die Arbeit nicht bewältigen. So löste ich im Einverständnis mit dem Kreisverband per 01.01.1995 den Stützpunkt auf, überführte die verbliebenen Mitglieder in den Ortsverein Grünau und gab die Einrichtung an die AWO zurück.

An den Klub erinnerten nur noch die tapezierten Wände zweier leerer Kellerräume. Das Hochhaus wurde "leergewohnt" und 2003/2004 abgerissen.

 

 



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