uni

Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

Berichte über Erlebnisse

Was wir wollen | Berichte schreiben | Chronik | Aktuelles | Impressum

Die Werktätigen erstürmen die Höhen der Kultur

Ein Bericht von Helga Brachmann, Leipzig

Das war eine ernstgemeinte Losung und auch gewiss eine gute Absicht in der damals noch jungen DDR, dass alle Menschen Zugang zur Kunst finden sollten. Und um die Schwellenangst, z.B. beim Besuch eines klassischen Konzerts den Arbeitern zu nehmen, fing man etwa 1950 an, in den Betrieben Veranstaltungen zu organisieren, wo Klassiker-Jubilare vorgestellt wurden, erst einmal in kleiner Besetzung, stets mit einem Sprecher, der biografische Hinweise gab und vorab versuchte, die Musik zu erläutern.

Ich selbst besinne mich neben einem Franz-Schubert-Programm zum 125. Todestag an eine Konzertreihe 1953 zum 200.Geburtstag von W.A. Mozart. In den 50er Jahren wurden diese einstündigen Vortragsfolgen noch in die betriebliche Arbeitszeit gelegt, so dass der Besuch gewährleistet war. Es gab sehr herzliche Reaktionen, wo man als Ausführender tatsächlich den Eindruck hatte, Kunst vermittelt zu haben.

Damals gab es aber auch Betriebe, wo es sehr schwer war, die Menschen zu gewinnen. Ab Mitte der 6oer Jahre durften während der Arbeitszeit keine Veranstaltungen mehr stattfinden. Trotzdem war der Besuch meist zahlreich, weil jede Abteilung im sozialistischen Wettbewerb stand und um Sieger zu werden, gehörte auch der Besuch einer Kulturveranstaltung dazu. Ich hörte aber mal eine Textilarbeiterin zur Kulturleiterin sagen: Wenn Du nichts zu trinken organisierst bei Deiner Kultur, kommt niemand das nächste Mal!

Größere Betriebe hatten Kulturhäuser und es gab gewisse Vorgaben, was an Programmen durchzuführen sei. Ich erinnere mich an die Brikettfabrik in Profen, südlich von Leipzig, wo man zum 150. Todestag von Beethoven 1977 um ein Programm bat. Nun, wir hatten den Liederkreis An die ferne Geliebte dabei, die Arie des Rocco aus dem Fidelio, das Heiligenstädter Testament sollte vorgelesen werden und einige Briefe Beethovens. Um etwas möglichst Leichtverständliches zu spielen, hatte ich die Wut über den verlorenen Groschen vorbereitet, ein Klavierstück, das Beethoven geschrieben haben soll, als er sich über eine Magd ärgerte, die zu teuer auf dem Markt eingekauft hatte. Bekanntlich war Beethoven noch nicht 40 Jahre alt, als er taub wurde und dadurch auch sehr misstrauisch.

Also, mein Partner und ich fuhren nach Profen, wo ein guter Flügel stand. Aber - was war das? Im Saal waren Tische festlich gedeckt mit Wein-, Sekt- und Schnapsgläsern! Ein Mann kam und fragte, was wir denn für seine Leute im Programm bringen würden, es sei die Auszeichnungsfeier seiner Gleisrückbrigade, die im sozialistischen Wettbewerb einen Ehrentitel erworben habe. Und er sei der Brigadier. Nun, ich erwiderte, der Kulturhausleiter hat unser Beethoven-Programm ausgewählt. Was für ein Idiot schnaubte der Mann, wissen die bei der Kultur denn nicht, was für eine Knochenarbeit meine Leute beim Gleisrücken leisten müssen? Dauernd müssen die Gleise für den Abtransport der Braunkohle hier im Tagebau verlegt werden! BEETHOVEN! Und das zur Brigadefeier! Meine Leute, das sind die vorzeitigen Schulabgänger. Die hart mit den Händen zupacken! BEETHOVEN! Habt Ihr denn nichts Lustiges? Nun zum Glück konnten mein Partner und ich allerhand auswendig, und wir einigten uns dann mit dem Brigadier auf Titel aus MY FAIR LADY, auf lustige Volkslieder, auf Bekanntes von Wilhelm Busch und ich spielte statt des Beethovens die 2. Ungarische Rhapsodie von Franz Liszt. Und macht mir nicht länger als höchstens 30 Minuten Kultur, meine Leute wollen feiern! verlangte der Mann.

Mit etwas bänglichem Blick auf die vielen Trinkgläser begannen wir dann - und wir waren überrascht, wie diszipliniert die Menschen zuhörten. Der Brigadier hatte seine Leute tatsächlich gut im Griff, bedankte sich hinterher überschwänglich und lud uns zur Feier ein. Wir mussten aber ablehnen, denn im benachbarten ZEITZ war Beethoven dann am Abend im Kulturbund gefragt - wo nur halb so viele, aber sehr musikbegeisterte Hörer auch wirklich Beethoven hören wollten!
.



     Seitenanfang
Website der AG Zeitzeugen
Templates