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Wie ich Leipzig als Musikstadt im NS-Staat erlebte

Ein Bericht von Helga Brachmann, Leipzig

Das faschistische Regime unter Adolf Hitler in Deutschland wird heute oft kurz die NS-Zeit genannt (NS = Nationalsozialismus).
Den zweiten Weltkrieg begannen die Nazis im Jahr 1939. Ich lebte damals mit meinen Eltern und Geschwistern in Berlin. In den ersten drei Jahren verfolgte ich das Kriegsgeschehen an den Fronten im Berliner Lokalanzeiger, aber für die Schülerin einer Oberschule für Mädchen verlief das Leben zunächst noch recht normal. Von den vielen Grausamkeiten erfuhren wir erst später. Es gab zwar häufig Fliegeralarme, aber die Bombeneinschläge waren anfänglich noch eine „Sensation“ und wir Schüler suchten oft nach Granat– oder Bombensplittern als Souvenir!

Nach unserem Umzug 1942 nach Leipzig erlebte ich dort den ersten schweren Bombenangriff am 4. Dezember 1943, der zahlreiche Menschenleben kostete und viele Wohnhäuser zerstörte oder beschädigte. Natürlich waren auch öffentliche Gebäude betroffen wie das Universitätshauptgebäude, das Museum der Bildenden Kunst und die Oper. Die Lebensmittel waren wie überall in Deutschland rationiert, aber wir hatten schon immer sehr sparsam gelebt.

In Leipzig besuchte ich von August 1942 bis 1944 die „Musikschule für Jugend und Volk“. Einzelinstrumentalunterricht einmal pro Woche und eine Stunde Gehörbildung kosteten im Monat 12.- Mark. Da ich aber noch 2 Geschwister hatte und mein Vater nur ein schmales Gehalt bezog, hatten wir alle Drei eine halbe Freistelle. Meine Eltern zahlten also 18.- Mark im Monat für uns. Dann wurde ich nach 2 Jahren als Studentin der staatlichen.Hochschule für Musik aufgenommen.
Die „Musikschule für Jugend und Volk“ benutzte Räume der Hochschule für Musik in der Grassistr. 8, wo sie (die Hochschule) ja heute noch als Hochschule für Musik und Theater F.- Mendelssohn-Bartholdy fungiert. Der Hochschulsaal, in dem ich als 15jährige 1943 noch auftrat mit den Händelvariationen von Brahms, brannte im Krieg aus.

Ich glaube nicht, dass noch Musikschul- oder Hochschullehrer für Musik aus der NS-Zeit leben. Direktor der Musikschule war Paul Schenk, durch seine musiktheoretischen Arbeiten heute noch jedem Musikstudent bekannt. Er gründete noch in den Kriegsjahren viele Zweigstellen der Musikschule, mir gegenüber mit der Bemerkung - ausnahmsweise benutze er ein Bibelzitat - nämlich: was nützt es, die ganze Welt zu erobern, wenn Ihr Schaden nehmt an Eurer Seele. An der Musikschule hatte ich Klavierunterricht, meine Schwester spielte Geige, mein kleiner Bruder wurde von Eva Klengel (Cello)unterrichtet, die damals im Krieg - jedenfalls für ein junges Mädchen - schon „uralt“ war.

Als ich Anfang 1944 in der Hochschule für Musik meine Aufnahmeprüfung mit 16 Jahren bestanden hatte, war die Freude darüber nur kurz, denn im Sommer 1944 wurde die Hochschule des „totalen“ Krieges wegen geschlossen. An Studiengebühren in dieser kurzen Zeit kann ich mich nicht besinnen, wohl aber daran, dass mein Klavier–Professor, Siegfried Grundeis, mir weiter Unterricht in seinem möblierten Zimmer gab, das er nach der Ausbombung zugewiesen bekommen hatte. Außer einem großen Konzertflügel war nur ein verdecktes Bett in dem sehr dunklen Raum zu erkennen. Er unterrichtete umsonst bis zum Kriegsende, wovon er gelebt hat, wusste ich nicht. Damals getraute man sich auch nicht, so etwas den Professor zu fragen.

Da man im NS-Staat mit 14 (es war Vorschrift und Pflicht) in den BDM (Bund Deutscher Mädchen) aufgenommen wurde, riet mir Paul Schenk meinen „Dienst“ in der „Bannmädelsingschar“ zu absolvieren. Das war ein Mädchenchor, der von einer jungen Klavierlehrerin geleitet wurde. Die „Bannmädelsingschar“ übte vor allem Volkslieder, die wir dann - meistens sonntags am Vormittag - in Leipzigs Lazaretten für verwundete Soldaten sangen. Konkret kann ich mich an das Lazarett in der heutigen Georg-Schumann-Straße besinnen, wo jetzt auf dem Gelände die Angestelltenversicherung und das Arbeitsamt sind. Meine Schwester spielte mit in der „Bannmädelspielschar“ unter der Leitung der schon erwähnten Eva Klengel.(Cello). Sie reizte uns junge Mädchen in ihrer BDM-Kluft (wie man das damals nannte) immer zum Lachen , denn sie war schon hoch in den Fünfzigern. Ich besinne mich an ein großes Konzert für Arbeiter in den Munitionsfabriken, wo außer Bannmädelspiel- und singschar auch die Thomaner in Hitlerjugenduniform auftraten. Aber im Gegensatz zu den anderen Hitlerjungen ohne Koppel. Zu meinem Ärger mußten wir Musikschüler auch bei jedem Einzelvorspiel (z B. für Eltern) in BDM-Kluft auftreten und durften uns nicht verbeugen, sondern hatten stattdessen mit dem Hitlergruß zu danken.

Trotz des Krieges wurden im Herbst 1942 und 43 noch „Gauwettbewerbe“ durchgeführt, es waren Instrumentalwettbewerbe für Schüler. Als „Gausiegerin“ bekam ich eine Urkunde, dass ich nach dem Krieg am „Reichswettbewerb“ teilnehmen dürfe - der natürlich nie mehr stattfand.
Einmal hörte ich im Krieg Elly Ney im Kristallpalast einen Abend mit Beethovensonaten spielen. Unvergesslich ist mir, wie die Pianistin mit wallendem Kleid und gewaltiger Mähne v o r dem Spiel aus Feldpostbriefen vorlas, in welchen Soldaten ihr geschrieben hatten, dass Elly Neys Interpretation von Beethoven ihnen Kraft im Kampf gegeben habe!?

Damals war der Konzertsaal im Städtischen Kaufhaus schon zerstört, wo ich vorher - zusammen mit meiner Mutter - noch Paul Riebesahm mit sämtlichen 32 Beethovensonaten (an 6 Abenden) hörte. Es muss vor dem ersten schweren Angriff auf Leipzig am 4.12.43 gewesen sein.
Im Opernhaus am Augustusplatz war ich auch einmal vor der Zerstörung am 4. Dezember 1943, ich sah etwas von Werner Egk. Und auch das „Alte„ Gewandhaus durfte ich einmal als Schülerin besuchen, kurz bevor es am 2o.2.1944 ausbrannte. Das Konzert - im Wesentlichen für Schüler - war nachmittags um 3 Uhr. Damals waren abends die Heimwege nicht etwa gefährlich wegen Handtaschenräubern, die ich heute besonders im Dunkeln fürchte. Im Krieg musste die Stadt völlig verdunkelt sein um den feindlichen Flugzeugen kein Ziel für ihre Bomben zu bieten. Deshalb brannte keine Straßenlaterne und aus den Fenstern durfte kein Lichtschimmer nach draußen dringen. An sternenlosen Tagen war es stockdunkel, außerdem wollte man abends wegen der zu befürchtenden Fliegeralarme lieber im eigenen Keller sitzen als unterwegs irgendwo unterzukriechen.

Die Leipziger Oper musste beim „totalen Krieg“ dann geschlossen werden, nachdem nach der Ausbombung ein provisorischer Spielbetrieb in einem Vorort-Variete` (den drei Linden) aufgenommen worden war, wo ich eine mich damals sehr beeindruckende Aufführung des FIDELIOS sah. Um das Stück inszenieren zu können, war vorher ein Aufruf in der Zeitung erschienen, die Bevölkerung möchte doch Kleidung spenden, zum mindesten für den Gefangenenchor!

Als einzige Kulturinstitution spielte das Gewandhaus weiter und zwar im großen Saal des Kinos Capitol. Ich weiß noch genau, wie sich Hermann Abendroth, der damalige Gewandhauskapellmeister, vor Beginn der Musik ans Publikum wandte. Er würde bei VORALARM das Konzert abbrechen. Er habe zwar aus dem Publikum Post erhalten, die Straßenbahn führe ja auch bei "Voralarm" weiter, aber Musiker seien keine Straßenbahn, keine Maschinen, und das anständige Musizieren unter der Nervenbelastung, die ja auch ein Voralarm darstelle, sei nicht vertretbar .Der Voralarm wurde ausgelöst, wenn die feindlichen Flugzeuge noch recht weit weg waren, es aber zu befürchten war, dass sie den Raum „Halle - Merseburg“ anfliegen würden. Manchmal passierte es, dass ein Voralarm widerrufen wurde, es war aber selten.

Es kam der 18.April 1945. Abends war ein Gewandhauskonzert angesagt. Tagsüber waren durch Leipzigs Straßen Lautsprecherwagen gefahren, der „Feind“stünde am Stadtrand, die Bevölkerung solle sich im Keller für einige Wochen bevorraten. Es gäbe im Voraus jetzt noch die Lebensmittelrationen für die nächsten 4 Wochen. Nun gab es damals noch keine Supermärkte, die kleinen Einzelhandelsgeschäfte waren den plötzlichen Anforderungen gar nicht gewachsen, die Vorräte für 4 Wochen waren einfach nicht verfügbar - und so stand auch ich am Nachmittag des letzten Kriegstages von Leipzig stundenlang vor dem Milch- und Käsegeschäft - und ging nicht ins Konzert. Ich weiß auch gar nicht, ob an dem Abend überhaupt im „Capitol“ noch gespielt wurde. Ich weiß nur, dass wir ganz andere Sorgen hatten, wobei neben der Angst vor dem „Feind“ der große Hunger begann, der uns noch viele Jahre hindurch zu schaffen machte.

 



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