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Universität Leipzig

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OST - WEST - Begegnungen in Echterdingen bei Stuttgart

Ein Bericht von Helga Brachmann, Leipzig

Es ist sicherlich allgemein bekannt, dass DDR-Bürgerinnen mit 60 Jahren Rentner wurden und damit gleichzeitig einen Dauerreisepass beantragen konnten für Besuche in der Bundesrepublik, während die Bevölkerung im berufstätigen Alter für jede Fahrt zu den westlichen Verwandten einen neuen Reiseantrag bei der Polizei stellen musste. Bei mir fiel mein Übergang in das Rentenalter in das gleiche Jahr, in dem meine Mutter ihren 85. Geburtstag feierte. Als Pfarrerswitwe wurde sie vom Pastor der Evangelisch-Methodistischen Kirche zu solchen Anlässen besucht, und so lernte ich 1988 einen freundlichen, älteren Geistlichen kennen, der wissen wollte, wie es mir in der DDR erginge. Dass meine jüngste Tochter 1973 in den „Westen“ geflohen war und dass mein Sohn 9 Monate in Berlin in Stasi - Haft gesessen hatte, ehe er direkt vom Gefängnis aus nach Westberlin gebracht worden war, hatte meine Mutter dem Pastor schon vorher erzählt und so sprach ich von meinen beiden Töchtern und deren Familien, die in der DDR lebten und erzählte von meiner Arbeit als Pianistin und als Lehrerin im Hochschuldienst. Wir hätten alle unser Auskommen, und nun, wo ich Rentnerin sei, könne ich meine beiden „Westkinder“ jederzeit sehen, was mir natürlich eine große Freude sei, denn nun hätte ich ja die Erlaubnis, jederzeit über die deutsch-deutsche Grenze zu fahren. Der Pastor betrachtete mich kopfschüttelnd. Also, ich sei der erste Mensch aus der DDR, der „trotzdem“ fröhlich und zufrieden sei, alle anderen Besucher hätten stets nur gejammert und geklagt. Ich schämte mich für meine Landsleute, verschwieg natürlich auch nicht, dass die jahrelange Trennung von meinen beiden „Westkindern“ sehr schmerzhaft gewesen war.

Zwei Jahre später am Geburtstag meiner Mutter im Oktober 1990 kam der neue Pastor aus Echterdingen zum Gratulieren, ein sehr lebensfroher, noch sehr junger Mann. Er ließ sich gerne mit Torte und Kaffee bewirten, dann kam die Frage an mich, was ich denn nun von der soeben vollzogenen Deutschen Einheit für Vorteile hätte. Nun, antwortete ich, als bereits im Ruhestand lebend, hatte ich keine beruflichen Probleme, ich hielt mich kurz bei den nun so erfreulich bestückten Obst -und Gemüsegeschäften auf und kam dann natürlich auf die neuen Reisemöglichkeiten, auf die Eisenbahnfahrten zu meinen „Westkindern“ zu sprechen, wo man nun nur noch eine Eisenbahnfahrkarte benötigte, keine Grenzkontrollen mehr habe und wo nun z.B. mein Sohn uneingeschränkt nach Leipzig kommen könne, was zu DDR-Zeiten nur einmal in 12 Jahren mit großen Auflagen möglich gewesen war. Wieso hätten meine Kinder und ich uns nicht einfach „so“ normal besuchen können, wollte der junge Pastor wissen. Ich versuchte ihm zu erklären, dass Republikflucht, wenn sie entdeckt wurde, in der DDR ein Strafbestand war, dass meine Tochter 1973 durch private Schleuser im Kofferraum eines Lieferwagens über die Grenze geschmuggelt wurde, und dass ihr damaliger Freund und späterer Ehemann dafür 10.000. D-Mark bezahlt habe. „Und so war es wohl auch bei Ihrem Sohn“ erkundigte sich der junge Mann. Nun musste ich ihm ausführlich erzählen, dass mein Sohn im Zusammenhang mit der Biermann - Affäre 1976 verhaftet wurde und man ihm „Boykotthetze“ vorwarf. Sowohl die Geschichte mit Biermann als auch den Begriff „Boykotthetze“ musste ich erst einmal erklären. Dann erzählte ich, dass ich von meinem Sohn nach der Wende erfahren hatte, dass die Bundesrepublik 50.000 DM bezahlt habe, um ihn aus dem Gefängnis heraus zu kaufen und dass er von der Ehefrau des Rechtsanwaltes Professor Vogel persönlich im Privatauto zum Grenzübergang “Check Point Charly“ in Westberlin gebracht worden war.

Plötzlich fing der junge Pfarrer an zu lachen, klatschte sich mit den Händen auf die Oberschenkel und meinte: “Das ist wieder mal der beste Beweis dafür, dass Privatwirtschaft billiger arbeitet als staatliche Stellen!“ Und kurz danach fügte er hinzu „Warum haben Sie denn Ihre anderen Kinder nicht auch für die billigere private Art weggegeben?“ Zunächst verschlug es mir die Sprache! Meine Versuche, dem Pastor zu erklären, dass man erstens seine Kinder nicht für Geld in ein anderes Land „weggibt“, dass zweitens es ja „D-Mark“ waren, die ich nie hatte, dass drittens meine beiden anderen Kinder bereits 1965 bzw. 1968 Familien gegründet und beide erfreulicherweise ihre berufliche Laufbahn an der Universität in Leipzig gerade begonnen hatten, dies alles schien der junge Mann überhaupt nicht aufzunehmen, ja er schien mir gar nicht mehr zuzuhören, wiederholte nur lachend dauernd, wie preiswert man doch arbeiten könne, man müsse nur privat handeln!

Die Naivität und die Unwissenheit des Pastors erschreckten mich, ich spürte, dass es noch sehr, sehr viel zu erklären, zu erzählen und aufzuschreiben gab, bis die Menschen, die 40 Jahre in zwei verschiedenen Staaten gelebt hatten, einander verstehen, genug von einander wissen würden.

Auch meine Mutter blickte einigermaßen verständnislos auf den lachenden jungen Mann, und sie begann, ihm von Leipzigs berühmten Kirchen zu erzählen, von Johann Sebastian Bach, vom weltberühmten Thomanerchor. Davon hatte der Pastor noch nie gehört, und während meine 87jährige Mutter ihn auf Lücken in der Allgemeinbildung hinwies, versuchte ich es anders und schlug vor, doch mal Leipzig und überhaupt die „neuen Länder“ zu besuchen, ich würde ihm viel Interessantes zeigen können, z.B. würde ihn doch gewiss als evangelischen Theologen auch die nahe Lutherstadt Wittenberg interessieren. „Na, frühestens in zehn Jahren mal“ war die für meine Mutter und mich verblüffende Antwort! Vorher wolle er „Näherliegendes“ (so sagte er wörtlich!) besuchen, vor allem wolle er endlich Mallorca kennen lernen!



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