Ute Tartz
Wilhelmine Elise Hofmann-Bosse
Wilhelmine Elise Bosse stammte aus einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus. Geboren wurde sie am 25. März 1880 in Leipzig. Ihr Vater, Friedrich Bosse, zählte zu den bekanntesten Funktionären der Arbeiterbewegung. Er war Mitbegründer und Vorsitzender des Fortbildungsvereins für Arbeiter, einer Nachfolgeorganisation des 1878 infolge des Sozialistengesetzes verbotenen Arbeiterbildungsvereins. Außer Kursen für Rechnen, Buchführung, Rhetorik und Fremdsprachen organisierte er Vorträge zu kunsthistorischen, literatur- und naturwissenschaftlichen Themen und schrieb auch kleine Theaterstücke, die vielfach aufgeführt wurden. Sein Ziel war, das Bildungsniveau der Arbeiter zu erhöhen. Die Stadt Leipzig ehrte sein Wirken 1966 mit der Benennung einer Straße nach ihm.
Es verwundert nicht, dass Elise Bosse bereits in jungen Jahren Interesse an der Arbeiterbildung hatte. Nach dem Schulbesuch erhielt sie eine zweijährige Ausbildung am Kindergärtnerinnenseminar des von Henriette Goldschmidt 1871 gegründeten Vereins für Familien- und Volkserziehung in Leipzig. Ab 1896 arbeitete sie als Erzieherin, u.a. war sie Leiterin des Betriebskindergartens der Leipziger Baumwollspinnerei.
Am 1. Juli 1906 begann sie als Volontärin an der Freien öffentlichen Bibliothek Dresden-Plauen, die von Walter Hofmann geleitet wurde. Sie wurde schnell seine Erste Assistentin und am 1. April 1913 Bibliotheksleiterin. Sie widmete sich intensiv der Kinder- und Jugendschriften-Abteilung, organisierte Leseabende insbesondere für junge Mädchen und nahm an den Sitzungen des Arbeiter-Lesebeirates teil.
1914 wurde sie die zweite Ehefrau von Walter Hofmann.
Walter Hofmann gilt als Wegbereiter für das Öffentliche Bibliothekswesen. Er wurde zum Reformer der Leipziger Bibliothekslandschaft. Leipzig war damals die bedeutendste Buchstadt Deutschlands, aber das Bibliothekswesen war, abgesehen von wissenschaftlichen Bibliotheken wie der Universitätsbibliothek, noch unterentwickelt.
1912 hatte Hofmann der Stadt ein Gutachten zur Umgestaltung der hiesigen Volksbibliotheken vorgelegt, und die Stadt stimmte 1913 der Errichtung von vier städtischen Bücherhallen zu. Die erste eröffnete 1914 im Osten in der Grenzstraße 3, die zweite 1915 im Süden in der Zeitzer Straße 28 (heute Karl-Liebknecht-Straße), die dritte 1925 im Norden in der Richterstraße, die vierte 1929 im Westen in der Zschocherschen Straße 14a. Walter Hofmann konzipierte und entwickelte als Direktor der Städtischen Bücherhallen das Netz der Leipziger Städtischen Büchereien.
Durch die Eröffnung der Bücherhallen entstand der Bedarf an Volksbibliothekaren. Am 12. Oktober 1914 gründete Walter Hofmann mit seiner Frau Elise Hofmann-Bosse, die nach ihrer Heirat mit Hofmann als Zweite Bibliothekarin der Städtischen Bücherhallen nach Leipzig gewechselt hatte, die "Fachschule für Bibliothektechnik und -verwaltung" an Leipzigs Henriette-Goldschmidt-Schule (damals Hochschule für Frauen). Die Fachschule wurde der von Hofmann ins Leben gerufenen "Zentralstelle für Volkstümliches Büchereiwesen" angegliedert. Sie war die erste vorbildliche Ausbildungsstätte für Bibliothekare in Deutschland. Elise Hofmann-Bosse wurde die Studienleiterin der Fachschule.
Um 1921 wurde die Fachschule in "Deutsche Volksbüchereischule" umbenannt. Sie wurde von Elise Hofmann-Bosse geleitet.
Seitdem werden in Leipzig kontinuierlich Bibliothekare ausgebildet.
1991 wurden die Ausbildung wissenschaftlicher Bibliothekare (an der Deutschen Bücherei) und die Ausbildung von Volksbibliothekaren zusammengeführt und 1992 mit der Gründung der Hochschule für Technik und Kultur auch im Studiengang Bibliotheks- und Informationswissenschaft vereint.
Elise Hofmann-Bosse musste am 1. Mai 1933 ihr Amt als Studiendirektorin aufgrund der Doppelverdienerkampagne1 zwangsweise aufgeben. Walter Hofmann trat an ihre Stelle als Studiendirektor der Volksbüchereischule.
Leipzigs Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler verhinderte, dass auch Walter Hofmann entlassen wurde. Die Nationalsozialisten zentralisierten ab 1933 die gesamte Kultur- und Bildungspolitik. Die Auflösung der Leipziger Zentralstelle und die Überführung der getrennten deutschen Fachzeitschriften in eine einzige nationalsozialistisch geprägte beraubten Hofmann seines Publikationsorgans. Auch musste er gegen immer neue Säuberungsaktionen in den Leipziger Bibliotheksbeständen kämpfen. Nach Goerdelers Entlassung 1937 wurde er als Bibliotheksdirektor abgesetzt. Außerdem entband ihn das Reichserziehungsministerium von der Leitung des Instituts für Leser- und Schrifttumskunde. Seine berufliche Karriere war damit beendet. Nach dem Krieg erhielt er 1946/47 von der Sächsischen Landesregierung einen Lehrauftrag zur Leserkunde an der Universität Leipzig. 1952 verstarb er.
Elise Hofmann-Bosse konnte von 1946 bis 1949 auf ihren Posten als Leiterin der Leipziger Fachschule zurückkehren und erwarb sich große Verdienste beim Wiederaufbau der Schule. 1952 wurde sie zum Ehrenmitglied des Vereins Deutscher Volksbibliothekare ernannt.
Nach dem Tod ihres Mannes lebte sie zwar zurückgezogen, beschäftigte sich aber weiterhin mit Fragen des Bibliothekswesens, ordnete den Nachlass ihres Mannes.
Hofmanns und damit auch ihr Verdienst als Lebens- und Werkgefährtin besteht darin, ein eigenständiges, geschlossenes, bis ins Detail durchdachtes Bibliothekskonzept geschaffen, sich konsequent für die Schaffung eines eigenständigen Volksbüchereiwesens neben dem wissenschaftlichen Bibliothekswesen eingesetzt und eine Bibliothekarschule eingerichtet zu haben. Nach ihren Vorstellungen sollte der Bibliothekar einen Bildungsauftrag haben, er sollte seinen Lesern die besten Erzeugnisse der Literatur nahebringen und die Leser zur Ästhetik erziehen. Die Bibliothek sollte den Massenbetrieb und die Massenausleihe vermeiden, stattdessen eine Art Bildungsaristokratie erziehen. Hofmanns Gegner kritisierten, dass er Elitenförderung statt breiter Literaturversorgung wolle und dass der Bibliothekar den Leser bevormunde.
Elise Hofmann-Bosse starb am 12. Dezember 1954 in Leipzig.
(Februar 2015)
1 Die politische Atmosphäre 1933 eröffnete die Möglichkeit, mit großer Radikalität gegen Doppelverdiener vorzugehen. Als Doppelverdiener wurden Personen bezeichnet, die von mehr als einem Verdienst lebten, vor allem aber berufstätige Ehefrauen, deren Mann ein als ausreichend angesehenes Einkommen bezog.