Ute Tartz
Marie Lomnitz-Klamroth
Marie Lomnitz-Klamroth 1 |
Marie Lomnitz-Klamroth war Gründungsmitglied und langjährige Direktorin der Deutschen Zentralbücherei für Blinde (DZB) und verhalf dieser zu Weltgeltung, was sich in zahlreichen Besuchen von Blindenanstaltsdirektoren, Blindenlehrern, Professoren des In- und Auslandes widerspiegelt.
Nach ihrem Ausscheiden 1936 geriet sie aber zunehmend in Vergessenheit. Sogar im Haus Gustav-Adolf-Straße 7, dem heutigen Standort der DZB, wurde erst 1992 ein von Sigurd Rosenhain gezeichnetes Porträt von ihr im Foyer angebracht.
Geboren wurde sie am 14. 12. 1863 in Moskau. Sie war die Tochter von Karl Klamroth, dem deutschen Konzertmeister der Kaiserlich Russischen Großen Oper zu Moskau. 1869 übersiedelte die Mutter mit den Kindern Marie und Anton nach Gotha. Ab 1885 studierte Marie Klamroth am Leipziger Konservatorium Klavier und Orgel, legte 1890 ihre Prüfung ab. Sie wurde Pianistin und die erste Organistin Deutschlands und begann mit Erfolg eine Künstlerlaufbahn.
1892 heiratete sie den Verlagsbuchhändler Ferdinand Lomnitz, der seit 1. Februar 1891 Inhaber des berühmten Verlages Georg Wigand in Leipzig war.
Im November 1894 nahmen sie und andere engagierte Leipziger Frauen im Leipziger Marthahaus in der Löhrstraße 9 an einem Vortrag des Blindenlehrers und Direktors der Dresdener Blindenanstalt Hofrat Büttner über die Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten von Blinden teil. Es gab zwar Blindenanstalten in Deutschland, aber öffentliche Leihbibliotheken für Punktdruck, die allen Blinden offen standen, gab es bis dahin nicht. Resultat der Veranstaltung war die Gründung des "Vereins zur Beschaffung von Hochdruckschriften und von Arbeitsgelegenheiten für Blinde" am 12. November 1894, der Gründer und Träger der Deutschen Zentralbücherei für Blinde wurde. 1895 kam zur DZB noch eine eigene Druckerei für Blindenbücher dazu.
Marie Lomnitz gehörte von Beginn an neben drei anderen Frauen und einem Mann zum Vorstand des Vereins. Um die Jahrhundertwende war der Vorstand um "männliche Kompetenz" (u.a. mit Ferdinand Lomnitz) erweitert worden, weil Frauen allein zu dieser Zeit wahrscheinlich nicht ernst genommen worden wären. Im Grunde leisteten die Frauen die Arbeit, während die Männer wichtige Förderer (weil sie Einfluss in der Stadt hatten) und Berater waren.
1901 übernahm Frau Lomnitz im Verein endgültig die Leitung der Bibliothek mit dem Ziel, daraus die Zentralbücherei für Blinde zu machen. Es war ihr persönlicher Ehrgeiz, die Leipziger Bibliothek als die zentrale im gesamten deutschsprachigen Raum zu profilieren.
Am 1. August 1913 vermerkte das "Börsenblatt für den deutschen Buchhandel": "Die Deutsche Zentralbibliothek für Blinde, die in Leipzig ihren Sitz hat und unter der selbstlosen und nimmermüden Leitung von Frau Marie Lomnitz in aller Stille seit dem Jahr 1901 zu einer Blüte gekommen ist, wie keine andere Blindenbibliothek Deutschlands, hat soeben ihren Katalog erscheinen lassen..." und weiter "...daß die Aufgabe der Deutschen Zentralbibliothek für Blinde auch darin gesehen wird, Kulturarbeit für die Blinden zu leisten und sie teilnehmen zu lassen an den Errungenschaften der Menschheit...". Die Zentralbibliothek für Blinde in Leipzig sei "...das Beste, was bis jetzt auf diesem Gebiet überhaupt vorhanden ist. Hoffen wir, daß Leipzig den Ruhm der bestgeleiteten und größten Blindenbibliothek für alle Zeiten sich erhält."
Frau Lomnitz hatte die Leitung nach ihren eigenen Worten "...unter der Bedingung, alles Bestehende, mir persönlich nicht Zusagende umstoßen zu dürfen, um von Grund auf neu aufzubauen." übernommen. Sie kaufte amerikanische Hall- und deutsche Picht-Schreibmaschinen zur Übertragung von Büchern in die Braille'sche Blindenschrift, mit denen man auf die fünffache Schreibgeschwindigkeit gegenüber der Methode mit Tafel und Griffel kommen konnte. Sie vergrößerte die Gruppe der Abschreibekräfte, wobei sie auch Übertragungsaufträge an Blinde in Heimarbeit vergab, sie erweiterte die übrigens unentgeltliche Ausleihe in den gesamten deutschsprachigen Raum. In der Druckerei entstanden Werke bedeutender Dichter und Schriftsteller sowie Nachschlagewerke in mustergültiger Qualität. In der Bibliothek gab es Werke, die zum Bestand aller Bibliotheken gehörten, nicht nur Belletristik, sondern auch wissenschaftliche Werke und sogar Musikalien, was sonst nirgends der Fall war. Die Zahl der Ausleihen und der Nutzer stieg ständig.
Marie Lomnitz schuf eine systematische Punktschrift-Typographie zur originalgetreuen Wiedergabe der Literatur in Blindenschrift, die auch 1930 als Lehrbuch erschien.
Viele Jahre kämpfte sie um Geld, geeignete Räumlichkeiten und Anerkennung.
1913 starb Ferdinand Lomnitz. Für den Verein und die DZB trat durch den Tod des Vorsitzenden und durch den Ersten Weltkrieg eine fatale personelle und finanzielle Lage und für Marie Lomnitz eine deprimierende persönliche Situation ein. Bis dahin hatte sie alle Arbeit ehrenamtlich verrichtet. Der neue Vorstand, Bürgermeister Dr. Weber, forderte nun eine angemessene Bezahlung für Frau Lomnitz-Klamroth. Erst 1914 wurde die Öffentlichkeit auf sie und ihr Wirken aufmerksam, als sie den Ehrenpreis der Stadt Leipzig anlässlich der Weltausstellung BUGRA erhielt. Als dann 1916 der "Verein zur Förderung der Deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig" gegründet worden war, begann die Blütezeit der DZB.
Anzeige in den "Nachrichten für die Blinden und Blindenfreunde im Freistaat Sachsen" |
1918 führte die Druckerei der Zentralbücherei als einzige Blindendruckerei der Welt den plattenlosen Druck ein, der eine absolute Genauigkeit des Zwischenpunktdrucks und Gleichmäßigkeit und Klarheit der Schrift bei gleichzeitiger Erhöhung der Wirtschaftlichkeit durch Wegfall der teuren Metallplatten garantierte.
Als ab 1916 Tony Mahler, die Nichte von Marie Lomnitz-Klamroth, als Bibliothekarin mit beachtlichen technischen Fähigkeiten in der DZB tätig wurde, richtete Frau Lomnitz-Klamroth auch noch eine Lehrmittelwerkstatt ein, um Blindenhilfsmittel selbst entwickeln zu können.
In den 20er Jahren und in der Weltwirtschaftskrise brach die Förderung der DZB fast vollständig zusammen. Die Leiterin und die Mitarbeiter retteten die DZB durch Weiterarbeit ohne Entlohnung. 1934 erfolgte die nationalsozialistische Gleichschaltung. Offenbar war Marie Lomnitz-Klamroth anfänglich von der nationalsozialistischen Idee begeistert. Vielleicht wurde sie dadurch veranlasst, Hitlers "Mein Kampf" bereits in den zwanziger Jahren drucken zu lassen. Später hat sie sich von der nationalsozialistischen Politik immer mehr distanziert.
Wie groß die Verdienste von Marie Lomnitz-Klamroth waren, zeigt die Liste ihrer Ehrungen:
- 1897 erste Ehrung auf der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbe-Ausstellung
- 1914 Ehrenpreis der Stadt anläßlich der Weltausstellung BUGRA, auf der sie eine Ausstellung "Blindenschrift und Blindendruck" arrangierte
- Carola-Medaille in Silber und Maria-Anna-Orden von der sächsischen Regierung
- im Wintersemester 1925/26 Verleihung der Würde einer Ehrenbürgerin der Leipziger Universität anlässlich ihres 25-jährigen Jubiläums in der Zentralbibliothek
- 1928 Ehrensenatorin der Universität Leipzig
- Diplom auf der Internationalen Presseausstellung in Köln 1928
In L e i p z i g wurde die systematische Punktschrift-Typographie als unerlässliche Grundlage des Blindenbüchereiwesens geschaffen und erstmalig eingeführt.
In L e i p z i g wurde erstmalig Blinden ein neuer Erwerbszweig erschlossen durch Übertragen von Büchern nach Diktat.
In L e i p z i g wurde die Bedeutung des plattenlosen Blindendrucks erkannt und das neuzeitliche Druckgerät (System Haake) gebaut.
In L e i p z i g wurde die erste Zentralauskunftsstelle für das gesamte Blindenbüchereiwesen gegründet.
IN L e i p z i g wurde die Arbeitsgelegenheit für Blinde erstmalig vielseitig ausgestaltet.
In L e i p z i g wurde eine Verkaufsstelle von Arbeiten Blinder eingerichtet, die sich als erste lebensfähige erwiesen und vorbildlich gewirkt hat, selbst über die Grenzen Deutschlands hinaus, so in Russland und in Amerika.
In L e i p z i g wurden erstmalig grössere Kurse zur Ausbildung Blinder in der Massage eingerichtet und als neuer Erwerbszweig eingeführt."
In den 20er Jahre traten statt einer für alle förderlichen Zusammenarbeit tiefe Zerwürfnisse mit anderen Blindenbibliotheken ein. Z.B. entstanden mit der 1905 gegründeten Hamburger Centralbibliothek für Blinde kleinkarierte Streitereien, wer die erste und wer die größte sei. Besonders ihr Anspruch auf die geistige Urheberschaft und Allgemeingültigkeit ihres Systems für den Blindendruck stieß auf Widerstand von anderen Blindenbibliotheken. Sie verteidigte ihr System aggressiv und rechthaberisch und sprach sogar Blindenbüchereien, die ihre systematische Punktschrift-Typographie nicht anwandten, die Daseinsberechtigung ab. Damit schuf sie sich natürlich im Blindenwesen auch Feinde.
Es klingt fast anmaßend, wenn sie in ihrer Festrede sagt: "Meine Hauptaufgabe sah ich darin, mit dem Dilettantismus im Blindenbüchereiwesen zu brechen .... Was unsere Bücherei von den anderen unterscheidet, ist der Umstand, daß sie n i c h t den Charakter einer Sammelstelle trägt von zumeist willkürlich hergestellten Übertragungen, wie es andernorts mehr oder minder der Fall ist, sondern daß u n s e r e Bücher systematisch hergestellt sind, d.h. nach einer e r s t m a l i g von mir geschaffenen und eingeführten systematischen Punktschrift-Typographie und nach fachtechnischen Erfahrungssätzen auch in bezug auf die Schriftkunst, die es dem Blinden ermöglichen, sich in unseren Büchern leicht orientieren und lange und ohne zu ermüden lesen zu können."
Sie sperrte sich auch gegen eine Zusammenarbeit mit den anderen Blindenbüchereien, die sie als unliebsame Konkurrenten betrachtete, so dass in den Bücherlisten, die in der Zeitschrift "Blindenwelt" regelmäßig veröffentlicht wurden, die Bestände der DZB lange Zeit nicht auftauchten.
Auch in ihrer Tätigkeit als Leiterin ließ sie offenbar keinen Widerspruch zu, wie ein Absatz aus ihrer Festrede andeutet: "Ich danke nicht nur für die treue, durch viele Jahre hindurch währende Mitarbeit, sondern vor allem für das jederzeit gezeigte wohltuende Verständnis für meine offene Kritik, ..., und ich danke auch für die Bereitwilligkeit, meinen Hinweisen unbedingt Folge zu leisten. Dieser gesunde Standpunkt meiner Mitarbeiter hat mir die Arbeit wesentlich erleichtert."
Herta Fröhlich, Mitarbeiterin der DZB von 1926 bis 1955, charakterisierte Marie Lomnitz-Klamroth in der Zeitschrift "Die Gegenwart" mit folgenden Worten: "Überschaut man das Leben dieser bedeutenden Fau, so sieht man viel Kampf für ihr Werk und manches persönliches Leid, doch ihre starke Persönlichkeit meisterte beides. Wer sie gekannt hat, weiß, daß man sie verehren mußte, selbst wer nicht in allen Dingen mit ihr einig ging. Der Grundzug ihres Wesens war Güte, doch hatte sie einen klaren Verstand, der sie befähigte, die Dinge sachlich zu durchschauen und ihre Ziele zu erreichen. Große Ehrungen wurden ihr zuteil, doch blieben ihr schwere Kränkungen nicht erspart. Die Blindenschaft aber wußte ihr Dank für ihr Schaffen. ..."
Marie Lomnitz-Klamroth starb am 17. Mai 1946 in Leipzig. Sie hatte noch die völlige Vernichtung ihrer persönlichen Habe und Wohnung sowie der DZB miterleben müssen. Auf dem Leipziger Südfriedhof fand sie bei ihren Angehörigen die letzte Ruhestätte.
Heute ist die Grabstelle verschwunden. Niemand hatte es für nötig befunden, das Grab zu erhalten.
(Februar 2011)
1 Bildquelle: Helmut Schiller "100 Jahre DZB", Verlag Deutsche Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig 1994
2 Aus der Praxis für die Praxis: Berichte der Deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig. 2. Bericht Januar 1920