uni

Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenstudiums

Berichte über Erlebnisse

Was wir wollen | Berichte schreiben | Chronik | Aktuelles | Impressum

Als Kanonier der NVA am 13. August 1961 in einem Leipziger Artillerieregiment

Ein Bericht von Wolfgang Hirsch, Eilenburg

Der 13.August 1961 war für die Bürger der damaligen DDR ein besonderes Datum. An diesem Tag ließ der damalige Parteichef der SED und Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht eine Mauer errichten, die den Ostteil Berlins vom westlichen Teil trennte. Von da an war es 28 Jahre lang für DDR-Bürger fast unmöglich, ihre Bekannten, Verwandten und Freunde im anderen Teil der Stadt zu besuchen.

Auch wenn die DDR-Propaganda etwas anderes behauptete, so beabsichtigte die damalige Staatsführung mit dieser Maßnahme, die wegen der immer schwieriger werdenden Lebensverhältnisse und der zunehmenden politischen Indoktrination immer stärker anschwellende Fluchtbewegung nach Westdeutschland über diesen einzigen noch verbliebenen Korridor endlich in den Griff zu bekommen. Wie ich als 22jähriger diesen Tag erlebt habe, davon soll im folgenden berichtet werden.

Mitte August 1961 herrschte in Leipzig schönes, warmes Spätsommerwetter. Ich war als Angehöriger der Nationalen Volksarmee der damaligen DDR in einer Artilleriekaserne im Norden Leipzigs stationiert. Weil es Sommer war und also auch Urlaubszeit, war einem Teil der dienst tuenden Soldaten ein Urlaub genehmigt worden. Am Sonnabend, dem 12. August 1961, waren sogar noch weniger in der Kaserne in der Leipziger Olbrichtstrasse, weil sich einige von uns im Wochenendurlaub an ihren Heimatorten befanden.

Für die verbliebenen Kanoniere lief der allgemeine Dienstbetrieb so ab, wie meistens an den Wochenenden: Wecken, Toilette machen, Frühsport, Frühstück und dann auf dem Kasernengelände Exerzieren und verschiedene weitere Ertüchtigungsübungen, die nur von den Mahlzeiten unterbrochen wurden.
So verging der Tag, wie jeder andere in diesem Sommer. Abends gegen 22 Uhr verkündete der diensthabende Hauptfeldwebel wie immer lautstark auf dem Korridor der Kaserne, dass nun die Nachtruhe anzutreten sei. Wir zogen uns in unsere Stuben zurück und kletterten in unsere eisernen Doppelstockbetten mit den blauweiß gewürfelten Bezügen und schliefen, wie immer nach dem anstrengenden Dienst, schnell fest ein.

Plötzlich erwachten wir, weil auf dem Korridor eine Stimme brüllte: „Alarm, Alarm – fertig machen zum Heraustreten“. Schlaftrunken erhoben wir uns. Ein Unteroffizier lief von Stube zu Stube, knipste das Licht an und brüllte: „Das ist keine Übung, Felddienstausrüstung anlegen !“ Ich sah auf meine Armbanduhr. Es war Sonntag, der 13. August, drei Uhr morgens. In diversen Alarmübungen hatten wir das schnelle Anlegen unserer Felddienstausrüstung schon ausführlich trainiert. So dauerte es nur wenige Minuten, als der nächste Befehl „Heraustreten zum Waffenempfang“ gebrüllt wurde, bis wir in voller Ausrüstung mit unseren Schaftstiefeln, den „Knobelbechern“, in Kampfanzug, mit Stahlhelm und Tornister auf dem langen schmalen Korridor der Kaserne Aufstellung nahmen.

Die Waffenkammer wurde aufgeschlossen. Wir mussten einzeln herantreten, und jeder bekam seine Kalaschnikow ausgehändigt, dazu abgezählt für jeden 60 Patronen. Damit mussten wir zwei Magazine für unsere Handfeuerwaffe füllen. Eins kam an die Maschinenpistole, das andere wurde als Reserve am Koppel befestigt.

Als das erledigt war, marschierten wir zu den Garagen, in denen unsere Geschütze und die Artilleriezugmaschinen untergebracht waren. Die Zugmaschinen waren Diesel getriebene ungepanzerte Kettenfahrzeuge sowjetischer Bauart mit einer geräumigen 6-Mann-Kabine und einer Ladefläche, auf der weitere Kanoniere zur Geschützbedienung und ausreichend Munition mitgeführt werden konnten. In der Morgendämmerung ging es mit diesen Fahrzeugen zunächst zu den Bunkern, in denen die Munition gelagert wurde. Jede Bedienung musste für ihr Geschütz wenn ich nicht irre, etwa 15 - 20 Granaten verladen (einen so genannten „Kampfsatz“). Das waren ca. 45 kg schwere Artilleriegranaten vom Kaliber 152 mm zuzüglich der dazugehörigen Kartuschen aus Messing mit der benötigten Treibladung, die sich in stabilen hölzernen Munitionskisten befanden.

Danach ging es zurück zu den Garagen, und wir hingen unsere Geschütze an.
In dieser kompletten felddienstmässigen Ausrüstung standen wir auf dem Hof unserer Kaserne in Bereitschaft und warteten ab. Stundenlang. Gerüchte machten die Runde. Unsere Offiziere schienen auch nicht mehr zu wissen, als wir. Ihre Auskünfte beschränkten sich auf allgemeine militärische Parolen in der Art, dass der „Klassenfeind bis an die Zähne bewaffnet an unseren Grenzen stehe, um uns zu bedrohen“. Dann kamen etwas genauere Nachrichten: „Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse haben endlich Schluss gemacht mit der offenen Grenze zwischen der Hauptstadt der DDR und Westberlin. Aber man muss befürchten, dass der Klassenfeind diesen Schlag nicht ohne weiteres hinnehmen wird. Deshalb müssen wir wachsam sein und ihn, wenn nötig, auf seinem eigenen Territorium schlagen“, hieß es.

Wir saßen da und konnten nur hoffen, dass diese Krise einen günstigen Ausgang nehmen würde und wir wieder zurückkehren konnten zu unserem allgemeinen Dienstbetrieb.

Inzwischen fanden sich auch die Soldaten wieder nach und nach ein, die sich in Urlaub oder auf Wochenendurlaub an ihren Heimatorten befunden hatten. Man hatte sie zurück in ihre Dienststelle befohlen. Etwa um die Mittagszeit hatten wir unsere volle Einsatzstärke erreicht. Die Motoren wurden angelassen und wir fuhren los – wohin, wussten wir nicht. Wir saßen mit sehr gemischten Gefühlen auf unseren Zugmaschinen, sahen die schweren Geschütze hinter uns am Zughaken hängen und hingen unseren Gedanken nach. Nach einer Runde durch den Leipziger Nordosten und einem kurzen Ausflug in die Umgebung kehrte die lange Kolonne wieder zurück in die Kaserne. Gott sei Dank. Mit laufenden Motoren standen wir dort noch eine ganze Weile und warteten auf den Einsatzbefehl. Doch der kam nicht.

Endlich, am späten Nachmittag oder frühen Abend wurde der Alarm beendet. Wir verbrachten unsere Waffen und die übrige Ausrüstung wieder in die Garagen, Bunker und Waffenkammern und kehrten in unsere Kaserne zurück.


Website der AG Zeitzeugen
Templates