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Die Staatlichen Qualitätsinspektionen (SQI)
in den Kombinaten der DDR

Ein Bericht von Peter Hobe, Leipzig


Der „Ruf“ in die SQI des Kombinates Medizin- und Labortechnik 

Noch ganz beeindruckt von der gewaltigen Rüge, die er im  zuständigen Ministerium wegen unserer laschen Kontrolltätigkeit einstecken musste, berichtete unser Chef über einen unverzeihlichen Zwischenfall. Wir, die für die Qualität im Kombinat Medizin- und Labortechnik verantwortlichen SQI-Inspektoren, hatten die ‚Beschlüsse für die Erhöhung der Qualität der Erzeugnisse‘ in den Betrieben nicht umgesetzt – wir hatten versagt.

Ein Jahr vor diesem Ereignis, Ende 1985, veränderte ein Telefonanruf mein berufliches Leben nachhaltig: „Willst du nicht wieder mit mir zusammenarbeiten, es war doch eine schöne Zeit damals?“. Gemeinsam mit dem Anrufer hatte ich einige Jahre medizinische Geräte im Kombinatsbetrieb Medizintechnik Leipzig entwickelt, wechselte dann aber den Arbeitsort. Vor Jahren hatte ein Beschluss der DDR-Regierung Volkseigene Betriebe (VEB) mit ähnlichem Produktionsprofil einer Branche in Kombinaten gebündelt und kürzlich mit einem weiteren Regierungsbeschluss Kontrollorgane für die Durchsetzung der staatlichen Qualitätspolitik in diesen  Kombinaten geschaffen. Meinen Kollegen berief man gemeinsam mit unserem damaligen Chef in die neu gebildete Staatliche Qualitätsinspektion (SQI) des Kombinats. Und dort gab es nun eine freie Stelle. Sein Vorschlag: „Melde dich rein zufällig aus alter Verbundenheit und äußere nebenbei dein Interesse an einem veränderten Arbeitsgebiet.“ Diese etwas umständliche „Bewerbung“ war den besonderen Umständen in der sozialistischen Industrieorganisation geschuldet.

In die SQI trat man nicht auf eigene Initiative ein. Die Mitarbeiter wählte man nach fachlichen und gesellschaftlichen Kriterien der ‚Nomenklatur‘ aus, d.h. sie mussten vor allem zuverlässig  die Interessen von ‚Partei und Regierung‘ in den Kombinaten vertreten und dort die Durchsetzung der staatlichen Qualitätspolitik kontrollieren. Den Kombinatsbetrieben selbst traute die Partei- und Staatsführung offenbar nicht zu, in Eigenverantwortung Erzeugnisse mit Weltniveau auf den Markt zu bringen.

 Nach der entsprechenden, verdeckt abgelaufenen Prüfung erhielt ich meine Berufung dann zum Januar 1986. Und ich war gewillt, mein Bestes zu tun.

Schon bald musste ich jedoch feststellen, dass meine neue Arbeitsstelle nicht dem ‚planmäßigen Aufbau des Sozialismus‘ entsprang. Der prosperierende Welthandel im NSW, dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, diktierte diesen Schritt. Wer Waren auf dem Weltmarkt absetzen will, kommt an einer angepassten Wirtschaftsstrategie nicht vorbei. Es reichte nicht mehr aus, allein qualitativ hochwertige Erzeugnisse anzubieten, jetzt wollten die Kunden auch wissen, ob die ganze Wertschöpfungskette stabil funktioniert und somit langfristig Geschäfte versprach. Zukünftig würden dauerhafte Beziehungen ein objektiv bewertetes, ein von einer unabhängigen Organisation zertifiziertes Managementsystem voraussetzen. Andernfalls, ohne Zertifikat, wären die Handelsbeziehungen ins NSW wohl zum Erliegen gekommen. Und um zu verhindern, dass in Zukunft ‚kapitalistische Organisationen‘ in den VEB prüfen und zertifizieren, sollten DDR-Inspektionen die Betriebe überwachen, und diesen ein effizientes Qualitätsmanagement-System bestätigen.

Mit den schwierigen Bedingungen, unter denen neue Erzeugnisse entwickelt und produziert wurden, war ich vertraut. In der Regel sicherten Fachkenntnis und Einfallsreichtum der Mitarbeiter auch gebrauchsfähige Erzeugnisse. Am Monatsende jedoch trat die Erzeugnisqualität in den Hintergrund, sie verblasste während der Sonderschichten zur Planerfüllung. Nicht selten und oft in der allerletzten Stunde des Tages, wurden die in der Endprüfung durchgefallenen Geräte immer wieder der ‚Technischen Kontrollorganisation‘ (TKO)  vorgestellt. So oft, bis sich schließlich ein positives Prüfergebnis einstellte. Den sich jeden Monat wiederholenden Rhythmus von ‚Warten-auf-die-Vorprodukte‘ zu Beginn und hektischem ‚Planerfüllen‘ am Monatsende kannte ich aus vielen ‚Produktionseinsätzen‘ selbst zur Genüge.

Nun aber sollte, so die Idee hinter dem Kontrollbeschluss, mit Elan ‚Weltniveau‘ in die sozialistischen Betriebe einziehen  -  wieder einmal. Laut Regierungsbeschluss waren „mit Unterstützung der SQI im gesamten Herstellungsprozess die Bedingungen für hochwertige Erzeugnisse zu schaffen“.


Der Zwischenfall im OP-Raum 

Um den Ruf der DDR als einer der größten Industriestaaten nicht zu gefährden, wies das Büro des Vorsitzenden des Ministerrates die SQI mit einen ‚Auftrag zur Sicherung der Qualität‘ an, ‚die Bedingungen für hochwertige Erzeugnisse in den Kombinatsbetrieben‘ zu sichern.

Was war geschehen? Die ursächliche Quelle der Empörung war eine undichte Plasmakanüle, durch welche das Blut  aus der Infusionsflasche über einen Schlauch zum Patienten fließen sollte. In diesem Fall lief das Blut aus der gerissenen Schweißnaht jedoch in den Behandlungsraum, und eine geharnischte Beschwerde des Chefarztes landete auf dem Tisch des Vorsitzenden des Ministerrates. Solche Eingaben direkt an höchste Stellen wurden oft genutzt, um irgendwelche Wünsche besonders dringlich vorzubringen. Genützt hat es meist nicht viel. Doch hier sollte es anders sein, waren doch kürzlich  die Staatlichen Qualitätsinspektionen in den Industriekombinaten gebildet worden. Und so wurde ich in den dramatischen Lauf der darauf folgenden Ereignisse einbezogen.

Die geharnischte Beschwerde nahm nun in Gestalt einer Inspektion der SQI ihren weiteren Weg in das „verschuldende Kombinat“ und schließlich in den herstellenden Betrieb. Im Original hieß es: „… der Direktor des Kombinats hat zugelassen, dass …“. Und weil ein so hoher Befehl auch eine ebenso große Wirkung haben muss, forderte man gleich von allen Betrieben des Kombinats eine das Weltniveau sichernde Qualitätsoffensive. Wohl eingedenk der Tatsache, dass die ‚Plasmakanüle‘ nicht das einzige beanstandungswürdige Erzeugnis war. Die SQI-Inspekteure schwärmten aus.


Dem Auftrag gemäß: eine unnachsichtige Qualitätsoffensive 

Der Wind pfiff mir um die Ohren auf dem engen Sitz im Fond. Viel lieber wäre ich mit dem Zug gefahren und hätte mich dann vom Betrieb abholen lassen, so wie wir es immer hielten. Mein Chef fuhr aber diesmal selbst mit seinem Trabant und wie gewöhnlich mit weit geöffneten Seitenscheiben. Eine Dienstreise im privaten Pkw unterstrich die außerordentliche Bedeutung unseres Auftrages.

Dem Betriebsleiter des im Erzgebirge um die Planerfüllung ringenden Kombinatsbetriebes musste ich die für beide Seiten peinliche Frage stellen: „Welche Maßnahmen plant und wie realisiert der Betrieb diese, um die neuen höheren Anforderungen an die Qualität der Erzeugnisse zu erfüllen?“ Die Peinlichkeit ergab sich aus der offenkundigen Tatsache, dass allen die prekäre Lage der Betriebe unter den planwirtschaftlichen Randbedingungen bekannt war. Mit den am Monatsende üblichen Sonderschichten unter Einsatz entsprechender materieller Hebel am ‚Kampfplatz für Frieden undSozialismus‘ gelang es schließlich immer wieder, die geplanten Injektionskanülen für den Export und das heimische Gesundheitswesen bereitzustellen.  Den Ausschlag bei der Planerfüllung gaben aber letztendlich die ebenfalls geplanten und bilanzierten Geldprämien für die ungeplanten Produktionseinsätze. Wie sich noch herausstellen sollte, waren diese der Knackpunkt bei unserer Kampagne.

Reklamationen bezüglich der Kanülenqualität erhielt auch der erzgebirgische Betrieb des Öfteren. Die Ingenieure und Facharbeiter kannten die Schwachstellen zur Genüge. Doch mangelhaftes Ausgangsmaterial, unzureichend geeignetes Werkzeug und fehlende moderne Prüfmittel ließen sich der bilanzierten finanziellen Ressourcen und Zulieferer wegen nicht immer kompensieren. Im Kampf um die Planerfüllung am Monatsende rutschte manche mangelhafte Kanüle durch die Stichprobenprüfung der TKO. Es bedurfte deshalb keiner größeren Anstrengung, um hier, wie in allen Betrieben des Kombinats, für die wesentlichen Erzeugnisse entsprechende Maßnahmen zu formulieren. Dies war der leichte Teil der Kampagne. Schwieriger wurde die Umsetzung der kühnen Versprechungen. Einiges war in den Betrieben schon vor dem Sündenfall in Angriff genommen worden und konnte nun mit den höheren Weihen beherzt fortgeführt werden. Bei einigen Maßnahmen sah sich der Kombinatsdirektor genötigt, seinen wertvollen Devisenfonds anzuzapfen. So wurden z.B. Schleifscheiben für die Kanülenfertigung kurzfristig aus dem NSW importiert. Auch zum Prüfen der Injektionskanülen erhielt der Betrieb ein schon lange Zeit ins Auge gefasstes, jedoch wegen knapper Devisen vergeblich gefordertes, modernes computergestütztes Prüfgerät. Das waren die vorzeigbaren positiven Ergebnisse.


Die Grenzen der Realität 

Neben den Turbulenzen, die mit dem Auftauchen der SQI-Inspekteure verbunden waren, bestanden jedoch die größten Unannehmlichkeiten für die Betriebsleitungen in den Konsequenzen. Es drohten Gewinnabschläge zu Lasten des Prämienfonds, falls die von höchster Stelle bestätigten Maßnahmepläne nicht umgesetzt werden. Den Prämienfonds jedoch benötigten die Betriebsdirektoren, um die regelmäßig am Ende jeden Monats eintretende Produktionsspitze zu bewältigen. Die Mitarbeiter der Verwaltung und der Entwicklungsabteilung, die ihre Arbeitsplätze zeitweilig mit solchen in der Produktion tauschten, prämierte man für ihre Bereitschaft. Und die Arbeiter der Produktion gewann man nur für Überstunden, wenn diese sich auch auszahlten. Bei manchen Mitarbeitern waren diese monatlichen Prämien, die bei Sonntags- und Nachtschichten besonders üppig ausfielen, ein ziemlich sicherer Bestandteil der individuellen Finanzplanung.

Dieses allmonatliche Ritual drohte auszufallen. Die mit kämpferischen Losungen und siegesschwangeren Schlagzeilen aufgebaute Fassade eines leistungsfähigen Kombinats bröckelte. Nachdem alle verfügbaren Ressourcen ausgereizt waren, zeigte sich, dass allein mit gutem Willen und Einfallsreichtum das avisierte Weltniveau unerreichbar blieb. Nicht annähernd ließ sich die Fülle der SQI-Auflagen erfüllen.


Das Ergebnis der Aktionen 

Der Kombinatsdirektor sah sich zum Schwur genötigt und übermittelte den verantwortlichen Genossen im Ministerrat die niederschmetternde Aussicht auf eine baldige und fortgesetzte ‚Planuntererfüllung‘. Diese poetische Umschreibung der größtmöglichen Katastrophe schloss auch die nicht erfüllbaren NSW-Lieferpläne ein. Einige der dortigen Betriebe nutzten nämlich den komparativen Vorteil des Niedriglohnlandes DDR zu ihren Gunsten, indem sie das Verpackungsmaterial für die volkseigenen Produkte beistellten und diese dann auf eigene Rechnung verkauften.

Die führenden Genossen im Regierungsapparat hatten sich den Lauf der Dinge wohl so nicht vorgestellt, obwohl ihnen die prekäre Lage in den Betrieben des Landes eigentlich bekannt war. Es gab sie, die ungeschminkten Berichte der vielen Inspektionen, Informanten und Parteileitungen. Doch schon lange, schon allzu lange existierte ein Bild der ‚Stärke der sozialistischen Volkswirtschaft‘. Diesem Trugbild erlagen offenbar auch seine Erschaffer. Aber in der übrigen Welt nahm kaum jemand die potemkinschen Dörfer wahr. Nur wenige Jahre später sollte sich eben dies herausstellen, zum Erstaunen aller Politiker des NSW. Doch damals wollte niemand in der DDR das schöne Bild wegen einiger Qualitätsprobleme mit Plasmakanülen gefährden.

Was tun?  -  Es blieb nur die Rücknahme der Qualitätsoffensive. Und so, wie ein Befehl uns SQI-Inspekteure ausschwärmen ließ, kam jetzt die Wende. Die „Auflagen zur Erhöhung der Qualität der Erzeugnisse“ zog man einfach zurück und sicherte damit die Planerfüllung. Auf der Strecke blieb das ‚Weltniveau‘ der Erzeugnisse. Das aber hatten die Vertragspartner im NSW schon registriert. Sie setzten z.B. die erzgebirgischen Injektionskanülen unter ihrem Namen via Seehafen Rostock ausschließlich auf den weniger anspruchsvollen Märkten der Entwicklungsländer ab  -  ohne Zertifikat, noch.

„Wie konnte man solche offensichtlich unerfüllbaren Auflagen anordnen, um diese dann wenige Wochen später wieder zurückzuziehen?“ Diesmal saß ich dem Betriebsdirektor allein gegenüber. Mein Chef hatte mich wieder mit dem Zug fahren lassen, er blieb im Büro. Die Frage des über den seltsamen Kurs der ‚Partei- und Staatsführung‘ irritierten Direktors enthielt bereits die Antwort: „Wer Anweisungen erteilt, muss auch die Möglichkeit einer Korrektur dieser Anweisungen haben.“ Mit dieser Antwort charakterisierte ich die geschmähte Kommandowirtschaft ungewollt, aber zutreffend. Was diesmal eine  ‚Plasmakanüle‘ war, konnte ein anderes Mal eine Werkzeugmaschine sein oder ein Mikrochip  -  das Prinzip der Kontrolle von Beschlüssen zur Erhöhung der Qualität, ohne die dazu notwendigen Ressourcen bereitzustellen, ist ineffizient. Den Gedanken die ‚Anforderungen an die Produkte‘ mit den ‚Anforderungen an ein Qualitätsmanagementsystem in der Organisation‘ zu verbinden, wollte oder konnte in der sozialistischen Volkswirtschaft nicht durchgesetzt werden. Der erzgebirgische Betrieb gewann in dieser Aktion auf Dauer eigentlich nur das moderne Prüfgerät und handeltesich die Aufgabe ein, neue NSW-Schleifscheiben nach dem vorhersehbaren Verschleiß der ersten auf noch unbekannten Wegen zu beschaffen, um die Qualität seiner Kanülenspitzen zu halten.


Nachschau 

Nach dieser, die Funktionsweise der Planwirtschaft erhellenden spektakulären Aktion, unterstützten wir Inspektoren der SQI so gut es eben ging die Betriebsdirektoren bei der Erfüllung der Produktionspläne. In unseren Berichten an den Ministerrat stellten wir stets die Erfolge beim erfolgreichen Erfüllen der Auflagen zur Erhöhung der Qualität der Erzeugnisse“ heraus. Die wahren Probleme standen im Nachspann dieser rituellen Sätze. Es durfte nicht anders sein. Die gar nicht eingeplanten Qualitätsprobleme wurden auch mit Inspektionen und Ordnungsstrafen nicht bezwungen.

Was wir damals begannen, konnte sich nicht zu einem schlagkräftigen Instrument entwickeln. Die engen Spielräume und die begrenzt verfügbaren Ressourcen der bilanzierten Pläne verhinderten ein flexibles Handeln in den Betrieben. Auch die Gesetzeswirkung der wortgleich in den Technischen Normen, Gütevorschriften und Lieferbedingungen (TGL) in Kraft gesetzten internationalen Norm ISO 9001 Qualitätsmanagementsysteme half dabei nicht. Es war schon kurios: Obwohl aus finanziellen Gründen schon lange aus der Internationale Organisation für Normung zurückgezogen, hatte die ‚Partei- und Staatsführung‘ eine dort erarbeitete internationale Norm zum, allerdings folgenlosen, Gesetz erhoben. Die übrige Welt aber entwickelte diese eigentlich unverbindliche Richtschnur zum effektiven Instrument des internationalen Handels. Als dann im Jahre 1993 die ersten Industrieunternehmen ihr ISO 9001-Zertifikat für ein effektives Qualitätsmanagement erhielten, gab es die DDR nicht mehr. In einer bayerischen Zertifizierungsgesellschaft konnte ich aber endlich als Sachverständiger und Auditor die Aufgaben übernehmen, die ich mir zu Beginn meiner Tätigkeit als Oberinspektor in der SQI vorgestellt hatte.

Übrigens!  -  Der erzgebirgische Betrieb kämpfte sich durch die Wendezeit, erfüllte 1996 erstmals die Forderungen der ISO 9001 und existiert heute noch. Das Kombinat verschwand jedoch ebenso wie  die SQI mit der ganzen Kommandowirtschaft.

 

März 2013

 



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