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Als Luftwaffenhelfer 1944/1945

Ein Bericht von Dr. Hubert Marusch, Leipzig


Der Krieg dauerte nun schon fast fünf Jahre. Stalingrad war nicht erobert worden, und die Front im Osten wich weiter zurück. Im Westen wurde an der französischen Kanalküste die Landung der britischen und amerikanischen Truppen als sogenannte zweite Front zur Unterstützung der Roten Armee erwartet. Die Luftangriffe auf deutsche Städte nahmen zu.

In dieser Situation erhielt ich im Januar 1944 in meinem Heimatort Schleife/Oberlausitz die Einberufung als Luftwaffenhelfer nach Berlin. Luftwaffenhelfer stellten damals das Bedienungspersonal für die Flakbatterien (Flugabwehrkanonen) in der Heimat. Ich war knapp 15,5 Jahre alt. Berlin war ein gefürchtetes Pflaster, da hier die Engländer und Amerikaner fast täglich Luftangriffe flogen. Doch was half es, Befehl war Befehl! Also machte ich mich an einem frühen Morgen auf den Weg zur Oberschule in Weißwasser, unter dem Arm einen Pappkarton, in dem laut Befehl die Zivilkleidung nach Hause zu senden war. Doch es gab noch Wunder im Kriegsjahr 1944. Wir wurden nicht nach Berlin verfrachtet, sondern wieder nach Hause geschickt. Von mir fiel eine bedrückende Last, und ich genoss die nächsten Monate wie ein wieder gewonnenes Leben.

Doch es gab kein Entrinnen! Am 16.7.1944 musste ich erneut antreten. Diesmal fuhren wir nach Breslau, der Hauptstadt von Schlesien. Hier wurden wir in einer Flakkaserne eingekleidet mit einer grauen Uniform mit Hitler-Jugend-Armbinde, Stahlhelm, Gasmaske und einem Rucksack. Von hier ging es weiter nach Dyhernfurt (heute Brzeg Dolny), einem Städtchen an der Oder, knapp 30 km oderabwärts von Breslau entfernt. Wir hatten bereits erfahren, dass sich in Dyhernfurth eine chemische Fabrik befindet, die wir mit 3,7,cm Flakgeschützen vor Luftangriffen bewahren sollten.

Am Werkseingang sahen wir Männer in blauweißer längsgestreifter Häftlingskleidung. Auf dem Kopf war ihnen ein 2 cm breiter Streifen glatt geschoren worden. Sie demontierten einen etwa 5 m hohen Holzturm, auf dem sich ein 2cm -Vierlingsflakgeschütz befand. Am Abend staunten wir nicht schlecht, als immer neue Trupps von Häftlingen in Zwölferreihen anmarschiert kamen und sich auf dem Fabrikhof zum Appell formierten. Es waren meist ausgemergelte Männer, die von Kapos, von dem italienischen Wort Capo = Chef abgeleitet, angetrieben wurden. Im Konzentrationslager war der Kapo ein Mithäftling, der für die SS (Schutzstaffel, Hitlers Elitetruppe) die Aufsicht über andere Häftlinge führte. Vorneweg vor jeder Gruppe trugen zwei Häftlinge eine Kiste, aber was sich darin befand, erfuhren wir nicht. Die SS nahm den Appell ab. Anschließend wurde in das von Stacheldraht umgebene und von der SS bewachte Lager marschiert.

Die Häftlinge mussten am Aufbau des Chemiewerkes Anorgana der IG Farben schuften bzw. waren auch in der Produktion tätig. Das Werk hatte bereits die Produktion aufgenommen. Dies war am Chlorgeruch, der sich überall ausbreitete und auch an der Abwasserleitung, die in die Oder mündete, und immer farbige, stinkende Abwässer führte, zu erkennen. Mangels anderer Möglichkeiten mussten wir uns morgens oberhalb der Einleitung waschen! Erst lange nach dem Krieg erfuhr ich, dass hier die chemischen Kampfstoffe Tabun und Sarin produziert wurden. Dyhernfurth war neben Anorgana Gendorf der größte Kampfgasproduzent in Deutschland.

Wir waren eine bunt zusammen gewürfelte Truppe von Schülern aus ganz Niederschlesien. Der Schulunterricht wurde von Lehrern aus der Umgebung übernommen. Allerdings schliefen wir in der Mittagshitze oft ein. In der Nähe der Flakstellungen zwischen Werk und Oder wurden für uns Baracken aufgestellt, in denen jeweils 12 Luftwaffenhelfer wohnten. Zum Essen ging es in den großen Speisesaal des Werkes. Besonders das Mittagessen schmeckte mir nicht immer, so dass mir mein Vater Lebensmittelmarken schickte, mit denen ich etwas zum Zusetzen hatte.

Die ersten Tage waren ausgefüllt mit dem Aufbau der Stellungen für die 3,7 cm Flakgeschütze, dann mit Exerzieren und Übungen an den Geschützen. Daneben waren Stubendienste bei einem bereits ergrauten Stabsfeldwebel zu leisten. Außerdem mussten wir die Flakmunition, die in einem Bunker auf dem Werksgelände lagerte, putzen und einölen. Hier sahen wir die Häftlinge aus nächster Nähe bei der Arbeit. Immer stand die SS - Wachmannschaft mit Gewehren dabei. Wir aßen bei der Arbeit gelegentlich Äpfel. Die Reste warfen wir weg. Die Häftlinge sammelten sie hastig auf und aßen sie. Als wir das sahen, flog auch mal ein halber Apfel rüber.
Im Herbst mussten die KZ- Insassen für die Küche Kartoffeln einmieten. Hier sah ich zum ersten Mal, wie die SS - Männer auf die Gefangenen einschlugen, um sie zu schnellerer Arbeit anzutreiben.

Bei einem Übungsschießen mit einem Gewehr erzielte ich zweimal eine 12 und eine 10, dafür erhielt ich drei Tage Sonderurlaub. Allerdings gingen fast zwei Tage für die Fahrt nach Hause und die Rückfahrt drauf, so dass ich nur einen Tag wirklichen Urlaub hatte!

Eines Tages begann man rund um das Werk in Abständen von mehreren 100 m zwei Stahlflaschen mit Manometer, Mischventil und Düse zu installieren. Die eine Flasche enthielt Ameisensäure, die andere ein alkalische Komponente. Das Gemisch bildete einen ätzenden Nebel. Damit konnte das ganze Werk eingehüllt werden. Natürlich war die vernebelte Fläche größer als das zu schützende Objekt. Damit ließen sich die feindlichen Bomberverbände täuschen, allerdings nur solange es noch kein Radar gab! Nun wurde das, was zunächst nur ein Gerücht war, Wirklichkeit: Wir sollten an einen anderen Ort verlegt werden. Die Aufgabe hieß jetzt Brückenschutz an der Eisenbahnbrücke über die Oder bei Oppeln (Oberschlesien).

In der Nähe der Oderbrücke, hinter dem Oderdamm auf der Westseite, standen mehrere kleine Hütten aus Holz, für vier Personen, Nissenhütten genannt, in die wir im November 1944 einzogen. Der kanadische Ingenieur Nissen hatte im ersten Weltkrieg im Jahre 1916 diese als schnell zu richtende mobile Unterkünfte aus Wellblech entwickelt. Es gab keine befestigten Wege, und die Toilette war ein einfaches Holzhäuschen vor dem Oderdamm. Wasser zum Waschen wurde aus Erdlöchern geholt. Im aufgeweichten Lehmboden hatten wir immer schmutzige Schuhe mit Lehmklumpen daran. Dies änderte sich erst, als der Boden gefror.

Anfang Dezember, es war bewölkt, überraschte uns der erste Fliegeralarm. Bald hörte man das dumpfe Brummen der sich nähernden Flugzeuge und dann das singende Rauschen einer niedergehenden Bombe. Wir duckten uns voller Angst und schon hörten wir eine gewaltige Explosion, die in knapp 100 m Entfernung einen riesigen Trichter aufgerissen hatte. Später erfuhren wir, dass amerikanische Bomberverbände von Italien aus u. a. die Benzinwerke in Heydebreck (heute Kedierzyn), etwa 40 km von Oppeln entfernt, bombardierten. An Sonnentagen konnten wir die amerikanischen Bomberverbände sehen, die in 10.000 m Höhe über uns hinweg flogen. Damit war klar, dass wir mit der Reichweite unserer Flak von etwa 3000 m nichts ausrichten konnten. Vielleicht war es besser so. Damit blieben wir ungeschoren.
Schulunterricht fand in Oppeln nicht mehr statt.

Am 13.1.1945 begann die Winteroffensive der Roten Armee in der gesamten Breite der Ostfront. Schnell stieß die Rote Armee vor, und bei uns machten sich Angst und Hektik breit. Bald kam der Kanonendonner näher und einige Male rauschte eine Granate mit einem jaulenden Geräusch über uns hinweg. Immer mehr Wehrmachtsoldaten kamen über die Oder und flohen weiter nach Westen. Jeder von uns hatte schon sein Ränzlein, sprich Rucksack, gepackt, und aus Oppeln hatten wir Schlitten organisiert. Vorher wurde uns befohlen, die Flakgeschütze in Richtung Oppeln zu drehen und mit der Leuchtspurmunition in ein kleines Wäldchen an der anderen Oderseite zu schießen. Dann mussten die Geschütze den Oderdamm hinunter gekippt werden, da sie wohl sonst das Feuer der Roten Armee auf sich lenken würden.

Am Abend des 23.1.1945 stand die Rote Armee am Ostufer der Oder, und das Maschinengewehrfeuer fegte über unsere Köpfe hinweg. Der Mond kam hinter den Wolken hervor und tauchte die Kriegslandschaft in ein fahles, fast unwirkliches Licht. Nun erschienen plötzlich Wehrmachtsoffiziere mit Pistolen in der Hand hinter dem Oderdamm und brüllten in die Nacht: "Wer zurück geht, wird erschossen"! Uns rutschte das Herz in die Hosen, denn nun waren wir wohl Soldaten an der Front. Doch wir hatten noch einmal Glück. Gegen Morgen des nächsten Tages durften wir Luftwaffenhelfer zurück in Richtung Nordwesten. Ich ließ Gewehr und Gasmaske liegen. In einer Allee in der Nähe von Oppeln wurden wir von Flugzeugen beschossen. Glücklicherweise wurde niemand verletzt. Nach beschwerlichen Fußmärschen im schneereichen Eulengebirge und Riesengebirge (unterwegs wurden wir bei Bauern in den Dörfern einquartiert) erreichten wir Hirschberg (heute Jelena Gora).

Von hier ging es mit einem Urlauberzug (diese fuhren von der Ostfront quer durch Deutschland bis nach Frankreich) nach Leipzig, wo wir am 6.2.1945 eintrafen. Der Querbahnsteig des Hauptbahnhofes und die beiden großen Bahnhofshallen waren von Bombenangriffen sehr stark beschädigt. Überall lagen riesige Gesteinsbrocken herum, und über uns leuchtete der blaue Himmel. Links vom Bahnhof sahen wir das Hotel "Continental" (heute Victor`s Residenz-Hotel) mit vielen großen Rissen in der Fassade. Plötzlich ertönten die Sirenen, und es gab als Begrüßung Fliegeralarm. Wir fanden im Untergeschoss des Kroch - Hochhauses in der Goethe-Straße Unterschlupf. Bald ertönte wieder Entwarnung, und wir fuhren mit der Straßenbahn zur Flakkaserne in der Torgauer Straße in Leipzig- Heiterblick. Hier blieben wir etwa eine Woche. Die Verpflegung war recht dürftig. Bei vormittäglichem Exerzieren und nachmittäglichem Nichtstun verging die Zeit sehr langsam. Fliegeralarm gab es nicht mehr. Die Ruhe wurde nur durch etwa 20 harte Stöße einer Presse oder Stanze in bestimmten Zeitabständen in einem der Werke des Hasag- Rüstungskonzerns gestört. Während des Marschierens sangen wir oft das Schlesierlied: "Wir seh`n uns wieder im Schlesierland , wir seh`n uns wieder am Oderstrand" oder: "Die Heimatflak macht pleite, weil wir entlassen sind". Am Abend des 12.2.1945 erhielten wir die Entlassungspapiere, auf denen als Grund "Einberufung zum RAD" (Reichsarbeitsdienst) angegeben war. Wir trauten zunächst unseren Augen nicht, als wir als Entlassungsort unseren Heimatort lasen!

Am Morgen des 13.2.1945 traf ich mit Rucksack und Stahlhelm zu Hause in Schleife ein. Am Abend dieses Tages war in südwestlicher Richtung fernes Donnergrollen zu hören, und der Himmel färbte sich hell. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass Dresden durch britische und amerikanische Bomberverbände angegriffen worden war. Das Ausmaß der Zerstörungen und die Anzahl der Toten wurden erst nach und nach bekannt.

Nun musste ich eine Strategie entwickeln, um nicht mehr in diesen wahnsinnigen Krieg hineingezogen zu werden: Ich meldete mich nirgends und blieb meist zu Hause, denn 100 m vom Haus meiner Eltern entfernt stand an einer Straßenkreuzung Militärpolizei, die mich sicher sofort festgenommen hätte. Am 16.4.1945 früh um drei Uhr eröffnete die Rote Armee die Frühjahrs- Offensive an Oder und Neiße. Wir wohnten etwa 15 km von Bad Muskau entfernt und erwachten sofort von dem ohrenbetäubenden Lärm. Am nächsten Tag kam bereits der Befehl, die Einwohner von Schleife zu evakuieren, denn die Rote Armee war in breiter Front durchgebrochen. Wir packten den Handwagen und begaben uns auf die Flucht, so wie es vor uns schon Millionen Menschen tun mussten. Erst am Pfingstsonntag, dem 20.5.1945, trafen wir wieder zu Hause ein!


August 2015

 



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