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Universität Leipzig

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der Seniorenakademie

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Erinnerungen an meine Kindheit 1944/45

Ein Bericht von Regina Matthees, Leipzig

Dies ist ein Bericht, den ich aus Erinnerungen meiner Kindheit schreibe. Ich war damals 6 bis 7 Jahre alt und habe dies so erlebt. Ein Bericht, der zum Nachdenken anregt. Ich habe diesen meinen Kindern erzählt. Meinen Enkeln werde ich dies auch erzählen, wenn sie groß genug sind, ihn richtig würdigen zu können.

Ich bin jetzt 65 Jahre alt und habe mich - auch bedingt durch Erzählungen meiner Eltern - eingehend mit der Judenverfolgung im 2. Weltkrieg beschäftigt, da meine Eltern, die ein Geschäft in Leipzig hatten, Juden mit Lebensmitteln versorgten und Judenkinder im Keller unseres Hauses versteckten. Dies war ein Keller für Lieferanten, abgeschirmt von den anderen normalen Kellern im Hause. Nur wir, d.h. meine Familie, hatten Zutritt zu diesem Raum und - natürlich mit unserer Genehmigung - auch die Lieferanten.

Ich habe einschlägige Literatur gelesen und viel Mühe und Zeit verwendet um zu erfahren, was sich im Dritten Reich und in der Zeit des 2. Weltkrieges abspielte.
Die Gedanken sind wehmütig, wenn ich an die Judenkinder in unserem Keller denke. Es waren 3 Kinder in meinem Alter. Die Eltern dieser Kinder waren "untergetaucht" und kamen nur einmal am Tage, um ihre Kinder zu sehen. Die Gefahren, die meine Eltern auf sich nahmen, begriff ich zu jener Zeit nicht. Ich war glücklich und froh, wenn ich diesen Kindern Brot geben und mit ihnen spielen konnte. Auch ich fühlte mich im Keller geborgen. Ich kann mich gut erinnern, wie freundlich die Kinder untereinander waren. Sie wurden durch meine Eltern verpflegt, erhielten Kleidung und tröstende Worte. Ich weiß nicht mehr, wie meine Eltern dies alles organisiert hatten. Bei uns in der Wohnung herrschte zu jener Zeit Hektik und Anspannung. Angst machte sich breit, das spürte ich. Wenn ich meine Mutter oder meinen Vater fragte, was denn eigentlich los sei, erhielt ich keine Antwort. Ich bekam lediglich mitgeteilt, dass ich über die Kinder im Keller nichts sagen solle - dies sei ein Geheimnis. Etwa 8 - 10 Tage waren diese Kinder in unserem Keller.

Für mich waren sie etwas Besonderes - eben Judenkinder. Ich hatte das Bedürfnis, auch ein Judenkind zu sein und fragte die Erwachsenen, was der Unterschied sei zwischen ihnen und mir. Ich erinnere mich genau - keiner gab mir eine Auskunft, die mein kindliches Interesse befriedigt hätte. Ich erhielt nur die Antwort, ich solle lieb und freundlich sein. Als ich die Kinder selbst fragte, schauten sie mich - ich erinnere mich noch genau - mit großen erschrockenen Augen an und zogen sich in eine Ecke des Kellers zurück. Ich war unglücklich und schenkte ihnen meine beste Puppe. Dies war für mich ein großes Opfer. Aber ich war glücklich, als die Kinder wieder aufgeschlossen mir gegenüber traten. Sie nannten die Puppe Sarah. Als die Kinder nicht mehr im Keller waren, blieb die Puppe Sarah zurück. Ich habe sie heute noch - ein Andenken an eine furchtbare, aber doch glückliche Zeit für mich.

Aus heutiger Sicht erscheint mir diese Zeit sehr dramatisch. Es gibt Erinnerungen an Geborgenheit im Keller und auch Sicherheit bei den Erwachsenen, aber auch Angst und Verlassenheit. Ich konnte einfach nicht begreifen, dass die Eltern der Kinder nur für wenige Minuten im Keller waren und scheu und angsterfüllt wieder gingen. Je mehr ich mich mit diesem Lebensabschnitt beschäftige, desto mehr sind auch die schrecklichen und furchtbaren Erinnerungen wieder da.

Was ist aus diesen Kindern und deren Eltern geworden? Ich weiß es nicht. Meine Eltern wollten mich zu jener Zeit nicht damit belasten. Später, als die Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 08.05.1945 in Kraft trat - ich war 7 Jahre alt, erzählte mir meine Mutter, dass die Judenkinder und deren Eltern in ein Sanatorium gekommen seien - nach Theresienstadt, nachdem diese noch bei anderen Bekannten Unterschlupf gefunden hatten. Unsere Familie hat - trotz der Hilfe für die Juden - unbeschadet, jedoch seelisch angegriffen - die Katastrophe des Zusammenbruchs überstanden.

Mit 20 Jahren fuhr ich mit Freunden nach Theresienstadt. um zu recherchieren, wo meine kleinen Freunde verblieben sind. Die Namen hatte ich nach dem Krieg von meiner Mutter erfahren, es waren Ruth und Vera Elias sowie Margot Goldstein. Im sogenannten "Archiv" von Theresienstadt waren sie nicht eingetragen. Vor dem Eingang zum ehemaligen Konzentrationslager sah ich kleine Gräber mit wunderbaren Blumen. Auch Namen standen auf einigen dieser Gräber, viele jedoch waren namenlos. Vielleicht ruhen meine kleinen Freunde in einem dieser Gräber. Vergessen sind sie nie. Sie werden in meiner Erinnerung bleiben. Auch die heutige Synagoge in der Keilstrasse und die israelitische Gemeinde in der Löhrstrasse in Leipzig, die ich aufsuchte, um dort nach dem Verbleib meiner Freunde zu forschen, können keine Auskunft erteilen. Sie sind für immer verschollen.

Ich sage mir heute: der Tag, an dem in Deutschland die Synagogen brannten, muss einen Sinn erhalten, der über die Rückbesinnung und Trauer hinausgeht. Die Lösung der brennenden Gegenwartsprobleme hängt eng mit dem Geschehen in der Vergangenheit zusammen, das nach vor seine Schatten auf unser Leben wirft. Die Opfer der Naziverbrechen können nicht wieder zum Leben erweckt werden, aber Gerechtigkeit kann ihnen nur widerfahren, wenn sie niemals in Vergessenheit geraten.



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