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Universität Leipzig

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Als Zögling in einem Eisenacher Priesterseminar

Ein Bericht von Wolfgang Hirsch, Eilenburg

Als ich 1953 mit 14 Jahren die Grundschule verließ, stand für mich und meine als Pfarrerswitwe allein stehende Mutter die Frage, wie es weitergehen sollte. D.h., für meine Mutter war das gar keine Frage. Natürlich sollte ich zur Oberschule gehen, aber nicht auf irgendeine, sondern auf eine Lehranstalt, an der man Griechisch und Latein lernen konnte. Die Kenntnis dieser alten Sprachen war die Voraussetzung, um später einmal ein Studium der Theologie aufnehmen zu können. Genau das hatte meine Mutter mit mir vor.

Die Oberschulen in der DDR der fünfziger Jahre boten drei Bildungszweige an: Einen neusprachlichen mit verstärktem Unterricht in Englisch und Französisch, einen naturwissenschaftlichen, in dem besonders die Fächer Mathematik, Physik und Biologie gepflegt wurden und eben den altsprachlichen Zweig mit verstärktem Unterricht in Griechisch und Latein. In Thüringen gab es meines Wissens nur zwei Oberschulen, die dieses Bildungsangebot bereithielten: Eine in Jena und eine zweite in Eisenach. Beide Bildungsstätten wurden in den ersten Jahren der DDR noch weitergeführt, aber doch recht halbherzig. Wie ich erst später erfuhr, wurde der dortige Lehrbetrieb von den Organen der DDR-Volksbildung sehr misstrauisch beobachtet. Sie hatten schnell gemerkt, dass sich gerade diese Oberschulen zu einer Art Sammelbecken für die Töchter und Söhne von Intellektuellen aller Art entwickelten. Aber noch ließ man die Pädagogen gewähren.

Da wir in einem Dorf wohnten, das ca. 15 km von Jena entfernt lag, kam der Besuch der Jenaer Oberschule nicht in Frage. Wie hätte ich dorthin kommen sollen? Es gab von dort aus keine öffentlichen Verkehrsmittel in die Universitätsstadt, ein Fahrrad war ebenfalls noch ein Luxusgut und eine zu mietende Privatunterkunft konnten wir uns erst recht nicht leisten. Also orientierte sich meine Mutter nach Eisenach und meldete mich dort an. Das kam ihren Vorstellungen  aus einem besonderen Grunde entgegen: Es gab dort ein evangelisches Internat, in dem Pfarrerssöhne aus ganz Thüringen zu besonders günstigen Bedingungen untergebracht werden konnten. Es befand sich in einer ehemaligen Villa am Stadtrand, nicht weit vom Eisenacher Burschenschaftsdenkmal. Diesem Internat war in einem benachbarten Gebäude noch ein evangelisches Priesterseminar angeschlossen. Dort wurden die Oberschüler nach bestandenem Abitur nach einem speziellen Ausbildungsprogramm auf den Beruf eines Katecheten, Diakons, Laienpredigers  oder ähnliche kirchliche Berufe vorbereitet. Die Einrichtung stand unter der direkten Oberaufsicht des thüringischen Landesbischofs. Etwa vierteljährlich kam er herüber, um nach dem Rechten zu sehen und sich über das Geschehen an Ort und Stelle berichten zu lassen.

Das Leben in diesem Internat war ganz anders, als ich es bisher kannte: Mädchen gab es in diesem Internat nicht. Die holde Weiblichkeit lernten wir nur in Form der Küchenfrauen oder der Mädchen kennen, die für die Sauberhaltung der Einrichtung verantwortlich waren. Alles war straff organisiert. Morgens, mittags und abends gab es Andachten. Wenn wir gegen Mittag aus der Schule kamen, mussten die Schularbeiten in einem großen Gemeinschaftssaal unter Aufsicht der Heimleiterin erledigt werden. Das war eine alte Jungfer, die ihre wichtigste Aufgabe darin sah, uns Schüler argwöhnisch zu beobachten und jeden Tag lange Briefe an die Eltern zu schreiben, in denen sie über unser Tun und Lassen berichtete. So entstand eine Atmosphäre aus Duckmäusertum, Heuchelei und Frömmelei, die mir ganz und gar nicht gefiel. Manchmal kamen auch Seminaristen aus dem Gebäude herüber, in dem die Katecheten usw. ausgebildet wurden. Sie führten dann anstelle der Heimleiterin die Aufsicht oder bestritten Lehrveranstaltungen, Rüstzeiten usw., um uns in theologischen Themen zu unterweisen. Das war für sie eine Art Praktikum und für uns zusätzlicher Unterricht.

Wir fühlten uns in dieser Atmosphäre nicht allzu behaglich und versuchten auf unsere Art, dagegen zu rebellieren. Ich erinnere mich, dass einige in unserer Stube eine Art Altar einrichteten, mit einem festlich gedeckten Tisch, einem Blumenstrauß und links und rechts zwei brennenden Kerzen. Aber im Mittelpunkt des Altars stand nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, ein Kruzifix, sondern eine kleine Stalinbüste. Davor lag das aufgeschlagene rot eingebundene kommunistische Manifest. Das war natürlich eine unerhörte Provokation, aber die Heimleitung konnte unter den herrschenden politischen Verhältnissen wenig dagegen unternehmen. Wie die Sache ausgegangen ist, kann ich nicht sagen, denn unmittelbar danach erkrankte ich schwer. Wochenlang musste ich im Eisenacher Krankenhaus bleiben. Das Schuljahr konnte ich nicht beenden und ein Neubeginn blieb mir erspart. Nach dieser Erfahrung beschloss ich, meinen eigenen Weg zu gehen und besuchte ab dem folgenden Schuljahr die Oberschule in der nahen Kreisstadt meines Heimatdorfes.



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