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Als Seniorexperte in China

Chinas Werkbild – eine Schilderung

Ein Bericht von Peter Hobe, Leipzig


China, das ferne rätselhafte Reich der Mitte

China rückt näher - 2100 Jahre war der chinesische Zentralstaat, trotz gelegentlicher Versuche, Kontakte mit der Außenwelt aufzunehmen, von dem ausgeprägten Bewusstsein einer kulturellen Überlegenheit seiner Bewohner über die barbarischen Randvölker charakterisiert. Das autarke Reich der Mitte hatte mit dem Kaiser als Sohn des Himmels den Garanten einer streng hierarchischen Gesellschaft, die dem Individuum kaum Raum zu gesellschaftlicher Initiative ließ. 253Die Lehren des Konfuzius (ch; 551 bis 479 v. Chr.) prägten jahrhundertelang die Mentalität und die Öffentlichkeit in China. Erst in den letzten einhundert Jahren wurden diese Verhältnisse umgestürzt und nun, 2011, hat die Öffnung der chinesischen Wirtschaft die Phase einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit erreicht. Wie muss man sich als ‚erfolgreicher Barbar‘ unter den auf ihre kulturelle Tradition stolzen ‚modernen Chinesen‘ verhalten? ‚ Naturwissenschaftliches Denken‘ und ‚Ganzheitliches Denken‘ – auf unterschiedlichen Wegen stellen sich auch unterschiedliche Ergebnisse ein; ein Fakt, der sich u.a. deutlich im Sprachaufbau zeigt. Aber nicht nur in China, auch in Deutschland hat sich der Blick auf das Riesenland geändert. So kam es mir sehr gelegen, dass im ‚Garten des wiedergewonnenen Mondes‘ in Berlin-Marzahn im Jahre 2008 eine Skulptur des alten Meisters Konfuzius aufgestellt worden war, deren Abbild meinen Auftrag befördern sollte.


China, das ferne rätselhafte Reich der Mitte

Der SENIOR EXPERTEN SERVICE, eine Stiftung der Deutschen Wirtschaft für internationale Zusammenarbeit GmbH - Non-profit Corporation (SES), die in Bonn ansässig, weltweit Projekte zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Exportchancen unterstützt, bot mir Gelegenheit meinen ‚Ruhestand‘ zu unterbrechen. Im industriellen Nordosten Chinas hatte ein Unternehmen, das Industrieanlagen errichtete, um Unterstützung bei der Optimierung seines Qualitätsmanagement-Systems gebeten. Nach ihrer Einschätzung sei eine Reduzierung der Fehlerhäufigkeit dringend geboten und sie erwarten durch ‚deutsches Management‘, wie sich der Generalmanager ausdrückte, erfolgreicher zu werden. Für mich ist interessant, wie trotz der unterschiedlichen Denkweisen ein gemeinsames Verständnis beim Verbessern moderner Produktionsprozesse gefunden werden kann und spannend auch, wie ein west-östlicher Dialog funktioniert.

Die günstigen Bedingungen in Leipzig nutzend, besuchte ich ein Vorbereitungsseminar für Chinareisende des Konfuzius Instituts der Universität und las in der Deutschen Nationalbibliothek die zweisprachige Ausgabe „Die vier konfuzianischen Bücher“. Beides, wie ich später feststellen konnte, mit erheblichem Gewinn für die Akzeptanz meiner Argumente. Die in China zu beobachtende Konfuzius-Renaissance unterstützt mein Vorhaben, mit den Sprüchen des ‚Meister Kung‘ eine kritische Haltung zu den Forderungen der internationalen Qualitätsmanagement-Norm und das Einfordern des eigenen Standpunktes beim Umsetzen im Unternehmen in Gang zu setzen, ohne ‚das Gesicht zu verlieren‘. Später musste ich jedoch feststellen, dass die von mir kopierten Schriftzeichen heute nicht mehr verstanden werden und so versahen wir die Sprüche mit erklärenden Übersetzungen. Auch in China hat sich natürlich die Sprache verändert und die alten Schriftzeichen sind moderneren gewichen und nur noch von Literaturwissenschaftlern interpretierbar.

Mit den Hinweisen zur chinesischen Kultur und Denkweise sowie den erstaunlich modern anmutenden Konfuzius-Sprüchen war ich hoffentlich gut gerüstet für einen gewohnten Auftrag in ungewohnter Umgebung. Auch das Bild des Marzahner Konfuzius nahm ich mit, um es in meine Präsentationen einzubauen.


Der Verkehr

Jeden Morgen werde ich am Hotel mit dem Buick, einem chinesischen Lizenzbau, abgeholt und über äußerst wechselvollen Straßenzustand etwa eine halbe Stunde ins Kombinat gefahren. Erst auf den zweiten Blick ist auffällig, dass die Radfahrer hier in der Minderheit sind. In der Stadt gibt es neben vorwiegend einwandfreien Streckenabschnitten aber auch solche mit sehr schadhaftem Belag, mit rädertiefen Löchern. Auf noch keiner öffentlichen Straße sah ich Unebenheiten, die nur im Spaziergängertempo zu durchwaten waren. Sie tauchen auch unvermittelt auf, gewöhnlich mit Hobe3Schwellen von ebensolchen Dimensionen im unregelmäßigen Wechsel. Das Selbstfahren ist ausdrücklich nicht im SES‑Versicherungspaket enthalten, und in dem für mich ungewöhnlich 'freizügigen' Autoverkehr verzichte ich auch gern. Lastwagen in der linken Spur werden auf der Gegenfahrbahn überholt wenn rechts kein Platz ist oder zu tiefe Löcher drohen. Fußgänger sind nicht nur beim Überqueren auf der Fahrbahn, sondern laufen auch neben dem Bordstein, nicht immer auf der äußersten rechten Seite. Und die Radfahrer radeln inmitten der Autos, auch ohne Handzeichen rechts- oder linksabbiegend. Die Verständigung der Autofahrer erfolgt über verschiedene Hupsignale und klappt erstaunlicherweise, sowohl mit den Fußgängern und Radfahrern, als auch mit den anderen Autofahrern und ersetzt Spurtreue und regelgerechtes Verhalten. Doch selbst bei der üblicherweise geringen Geschwindigkeit ist dies nichts für schwache Nerven! 

Ich habe den Eindruck gewonnen, dass hier, im Straßenverkehr, ein markanter Unterschied zum deutschen Verständnis des sozialen Verhaltens augenfällig wird: Jeder versucht in der augenblicklichen Situation ‚zurechtzukommen‘, d.h. unter Beobachtung des Partnerverhaltens werden die Chancen, die eigenen Interessen durchzusetzen abgeschätzt und das Verhalten daraufhin eingerichtet. Auf die vereinbarten Regeln wird, wenn überhaupt, nicht in erster Instanz Bezug genommen. Diese Eigenschaft, wahrscheinlich durch die eigentümliche gesellschaftliche Entwicklung über 600 Generationen hinweg erzwungen, funktioniert offensichtlich im chinesischen Straßenverkehr, doch in einer arbeitsteiligen Welt ist es fatal, wenn Vereinbarungen situationsabhängig pragmatisch interpretiert werden und insbesondere wenn die Funktionsfähigkeit, die Qualität eines Produktes nur dem Anschein nach eingehalten wird.

Das Bemühen um Sauberkeit in der Stadt ist unübersehbar. An den Hauptstraßen kümmern sich die wegen des allgegenwärtigen Staubes wie Räuber maskierten Straßenkehrer um die Beseitigung der ‚Abfälle‘ der Lastwagen und das Ablaufen des Regenwassers. Ich konnte beobachten, dass sich die eines Morgens massenhaft auftretenden Samen der zahlreichen die Straßen säumenden Pappeln zunächst als halbmeterhohe Wälle im Rinnstein sammelten. Mit einem Großeinsatz der Wasser­sprengwagen war diese ‚weiße Pracht‘ am nächsten Tag bereits beseitigt.

Das Stadtbild

Jilin (4,29 Mill. Einwohner) ist die namengebende, jedoch nicht die Hauptstadt der nordöstlichen Provinz Changchun an der koreanischen Grenze. Das Wetter derzeit, Mitte Mai, ist angenehm, geprägt von einem gleichmäßigen, aber starken sommerwarmen SW Wind, also auch im Sonnenschein für mich erträglich, früh 23 oC und 27 oC  abends. Wenn dieser Wind jedoch im Januar bei minus 30 oC bläst, möchte ich nicht im Freien sein!

Hobe4Mein erstes Hotel in der Stadt, im Hause der Handelskammer, ist für chinesische Dienstreisende gedacht und dafür sicher angemessen. Das Zimmer hat den für mich wichtigen Internetanschluss, so kann ich mit der Heimat ohne Rücksicht auf den Zeitunterschied Kontakt halten. Beim Abholen am Morgen dann die Überraschung: „Packen Sie bitte wieder zusammen, wir bringen Sie in einem anderen Hotel unter.“ Das Hotel am Stadtrand ist deutlich besser. Es liegt zwischen Fluss Songhua Jiang und einem bewaldeten Hügel, allerdings neben dem Verschiebebahnhof für das petrochemische Kombinat, dem größten Unternehmen der Industriestadt. Das Fenster wird also über Nacht geschlossen bleiben müssen. Das neue Hotel besitzt den wichtigen Vorzug, neben der landestypischen Küche auch ‚europäisches Frühstück‘ und Pizza anzubieten.

Das recht ansehnliche Zentrum der Stadt besitzt, auf GrundHobe3 eines seltenen Himmelsereignisses ein Meteoritenmuseums mit einem fünf kg schweren, unweit der Stadt niedergegangenen Meteoriten. Xiaojin, mein Dolmetscher, meinte mit ironischem Schmunzeln: „1976 beendete der große Meteoriten-Schauer die Kulturrevolution“. Davor auf dem riesigen zentralen Platz weist der silbrig glänzende ‚Große Vorsitzende‘ mit erhabener Geste auf die zahlreichen Baustellen der Stadt, auf denen riesige Wohntürme errichtet werden. Wie mir meine Begleiter versicherten sind diese Eigentumswohnungen für ‚mittlere Angestellte‘ erschwinglich.

Die koreanische 4 Mill.-Minderheit in der Provinz Jilin ist überall in der modernen Stadt präsent. Unvergesslich ist ein kurzweiliges Essen in einem nordkoreanischen Restaurant mit süßen Reiskuchen (warm) - eingelegtem Chinakohl (kalt) - Rührei mit Spinat(?) - Geschnetzeltes mit Gemüse - gebratenem Fisch (etwas warm) - hauchdünnem Tang (kalt) – Barbecue-Fleisch mit Hobe3Knochen. Dies alles kreiste in der Tischmitte auf dem gläsernen Karussell zum abwechselnden Verzehr, natürlich mit Stäbchen, und abschließend gab es eine kleine Gemüsesuppe mit Fleisch (heiß). Dazu tranken wir Reis-Bier in 0,1cl-Gläsern - auch so kann man eine Flasche leeren. Extra für mich bestellte meine Gastgeber eine große Schüssel kalter saurer Nudeln - auch diese mit Stäbchen zu essen. Die Auswahl der Speisefolge durch meine Gastgeber hatte eine ganze Weile in Anspruch genommen währenddessen die hübsche Kellnerin in der typisch zartrosa Nationaltracht geduldig am Tisch ausharrte. Während des Essens gaben die zwei Kellnerinnen mit den kleinen Nationalflaggen am Kleiderkragen noch eine nette Gesangseinlage.

Nach einem Einkaufsbummel besuchen wir im ‚Volkspark in den nördlichen Hügeln‘ das jährliche Fest der koreanischen Minderheit, die hier seit vielen Generationen lebt. Auch hier wieder das dominierende typische zarte Rosa unübersehbar.

Der betriebliche Alltag

Am Flughafen war zur Begrüßung mit dem Qualitätsleiter, Mr. Shan, nur eine englisch sprechende Dolmetscherin eingetroffen und nicht, wie mit dem SES vereinbart,  ein deutsch sprechender Dolmetscher. So musste Xiaojin unverhofft aus seinem letzten Studentenurlaub gerufen werden. Er schloss soeben sein Germanistikstudium mit dem 4. Studienjahr ab und hofft auf eine Anstellung im Unternehmen und das möglichst in dem Büro in Peking, nicht in der Zentrale in der abgelegenen Provinz. Das Gleiche hofft auch Lu, die mir als Assistentin zur Seite gestellte Anglistikstudentin.

Viel Wert legte ich auf den Gedankenaustausch über die west-östlichen 'Kulturklippen' sowie der Schlüsselbegriffe der Qualitätsmanagement-Norm anhand ihrer chinesischen und meiner deutsch-englisch-französischen Ausgabe, damit korrekt übersetzt werden kann. Trotz des unterschiedlichen Sprachaufbaus funktionierte die Übersetzung, mir bis zuletzt unbegreiflich. Die Gespräche im Unternehmen sind flüssig - es ist eine angenehme Zusammenarbeit.

Hobe7Das Werk wurde vor vierzig Jahren weitläufig errichtet. Gegenwärtig wird eine der alten Hallen abgerissen und eine moderne Lagerhalle an ihrer Stelle gebaut. Am Eingangstor fangen zwei große, hinter einem parkähnlichen Eingangsbereich gelegenen, dreigeschossige Bauten den Blick auf. Sie beherbergen die Büros der Unternehmensleitung, eine prachtvolle Bibliothek, eine Sporthalle und mehrere Speisesäle. Wir speisen im Direktoren-Speiseraum, auch dieser wurde in der alle Hierarchien negierenden Kulturrevolution eingerichtet!

Jeden Werktag, kurz nach neun Uhr, werde ich am salutierenden Werkschutz vorbei vor das Büro­gebäude gefahren und beginne den Arbeitstag. Dort warten schon der Dolmetscher Xiaojin und die Assistentin Lu. Zuerst basteln wir am Protokoll vom Vortag und dem nächsten Vortrag. Nach der einstündigen Mittagspause gehe ich begleitet vom Qualitätsleiter in einen Produktionsbereich auditieren. Anschließend Resümee und Aufbereitung des Gesehenen in unserem kleinen Büro oder in der großzügigen Bibliothek. Es gibt jedes Mal viel zu besprechen. Nach den ersten beiden Tagen fragte mich der Qualitätsleiter, ob ich nicht müde wäre und in der einstündigen Mittagspause schlafen möchte. Meine beiden Assistenten müssen jedoch beschäftigt sein und so ziehe ich ohne Schlaf am Mittag durch, zum Erstaunen der hierarchiebewussten Chinesen.

Vom ersten Vortrag läuft ein Mitschnitt der Betriebsredaktion auf dem riesigen Bildschirm am parkähnlichen Werkseingang im Wechsel mit BHobe8eschlüssen der Geschäftsführung und aufmunternden Sprüchen und Videos von der Festveranstaltung zum 40‑jährigen Betriebsjubiläum.

Meine, in die Präsentationen eingefügten, 'Konfuzius-Sprüche' kommen gut an. Sicher auch, weil im Foyer des Geschäftsführer-Gebäudes gegenüber der breiten Flügeltür des Eingangs eine gleiche Statue wie in Marzahn steht und wie diese überlebensgroß in Granit. Die ursprünglichen Schriftzeichen haben wir mit deutschen und englischen Texten ergänzt. Die Vorträge laufen gewöhnlich als ‚Einbahnstraße‘ ab. Am Schluss erhält der Vortragende von allen Teilnehmern, den aufmerksamen und den ‚nachdenklichen‘, den üblichen Applaus. Trotz meiner Aufforderung kommt keine Diskussion in Gang. Nur nach dem letzten Vortrag konnte sich ein Teilnehmer eine Frage nicht verkneifen: „Wer gewährleistet, dass gearbeitet wird, wenn die Leiter nicht anwesend sind?“ Für die Risikoanalyse eines Prozesses hatte ich auf die Empfehlung verwiesen, dass es nicht förderlich ist, wenn beim freimütigen und kritischen Gedankenaustausch der Spezialisten während des Brainstormings, die Manager der Bereiche anwesend sind. Ich bin mir nicht sicher ob meine Antwort, dass sich das Ergebnis in einer sinkenden Fehlerrate zeigen muss, überzeugt hat, aber es verdeutlicht die chinesische Mentalität des vordergründigen Aktionismus, des ‚Zurechtkommens im Augenblick‘ im System hierarchisch gestufter Verantwortungen.

Hobe9Die Betriebssirene heult um siebzehn Uhr das Ende des Arbeitstages ein. Wir gehen in die Betriebskantine zum chinesischen Abendessen - mit Stäbchen. Das ‚europäische Besteck‘ liegt immer in Reichweite und auch, wenn ich es nicht bräuchte benutze ich es. Das Personal, das unser Dinner bereitstellt und später abräumt soll nicht auf den Gedanken verfallen, es würde nicht mehr benötigt. Das Essen hier im Nordosten Chinas ist gut bekömmlich. Auch in der Wahrnehmung der Menschen hier unterscheidet es sich vom Essen im Süden: ‚In Kanton essen sie alles!‘ – ist die hiesige Meinung.

Gegen achtzehn Uhr werde ich dann wieder im Hotel abgeliefert und habe Zeit für einen kurzen Spaziergang um das Hotel und ungestörte Arbeit. Gegen zehn Uhr abends ist Schluss und es tritt keine Langeweile auf. Die vorsichtshalber mitgebrachten Zeitschriften liegen unberührt auf dem Nachttisch.

Freizeit

Am ersten Samstag, habe ich meine zwei Begleiter, den Dolmetscher und die Assistentin zu mir ins Hotel zum Abendessen eingeladen. Das hat den Vorteil, Landeskundige für die Speisenauswahl zu haben, denn auch die englischen Namen der Gerichte helfen nicht weiter.  Das chinesische Abendessen besteht aus einer verwirrenden Zusammenstellung von vielen verschiedenen Gerichten: kalt und warm, Fleisch, Fisch und Gemüse, sowie 'Sättigungsbeilagen' Reis, ungesüßten Eierkuchen, Teigtaschen und süßen Mais-Hefeklößen, dazu verschieden Soßen und eine dünne Suppe mit Einlagen als Abschluss. Alles wird dann abwechselnd in kleinen Portionen mit Stäbchen zum Mund 'geführt', die Suppe mit dem dicken Porzellanlöffel. Die Stäbchen versuche ich stets, doch nehme ich mir das Recht des Ausländers, ab und zu mit Gabel und Messer zu essen, gern wahr.

Hobe10Die erste Tranche meines Taschengeldes habe ich angerissen. Ich konnte nach längerem Suchen, mit Dolmetscher und ortskundigen Fahrer, in der Postfiliale sechs komfortable Ansichtskarten, mit Brief­marken versehen, kaufen. Der Angestellte musste dafür extra einen Schlüssel aus dem Büro holen, um den Schrank mit den selten nachgefragten Auslagen zu öffnen. Bei  dieser Gelegenheit bezahlte ich 22 Yuan mit einem 100 Yuan-Schein, auf den mir sicher kein Kioskverkäufer hätte herausgeben können. Es ist der kleinste Schein, den ich mit der wöchentlichen Spesenzahlung vom Unternehmen erhalte. Wie sich später herausstellt habe ich Karten mit Neujahrglückwünschen erstanden. Ein deutliches Zeichen, dass man hier nicht auf Touristen eingerichtet ist.

Ein gewisses Problem stellte sich mir durch die Schwierigkeit, meine Spesen in wertvolle und vor allem kleine Mitbringsel zu verwandeln und, weil ich keine Ausdauer für ausgedehnte Shoppingtouren besitze, dies in einer ungewohnten Umgebung in recht kurzer Zeit zu schaffen. Ich verlegte mich auf Jadeschmuck und überließ es meinen Begleitern in einem zentralen modern eingerichteten Kaufhaus den Preis auszuhandeln. Mehrere konkurrierende Stände boten Jadeschmuck an; überall die Kollektionen mit 50%-igen Rabatt. Meine Begleiter handelten dann noch ein paar Prozente mehr heraus und so habe ich nun zwei schöne Jadeanhänger für den Preis von einem und noch ein paar Yuan übrig. Dieses Ergebnis hätte ein Ausländer nie erzielen können, denn die Mentalität: ‚gut zurechtzukommen‘ gebietet, seinen Vorteil aus jeder Situation zu ziehen.

In der Stadt kann ich mich frei bewegen und es ist wohltuend von den Händlern nicht angesprochen zu werden. Im Hotel und Betrieb voll versorgt, musste ich nichts kaufen, und so machte ich nur einen Kaufversuch bei einem Händler, der kleine offenbar selbstgefertigte Süßigkeiten im Ausflugspark hinter dem Hotel feilbot. Mit dem Finger zeigte ich auf den Gegenstand und er nannte den Preis, was ich natürlich nicht verstand. Eingedenk des kleinen Preises für den Parkeintritt von drei Yuan reichte ich einen Ein-Yuan-Schein. Zu meinem Erstaunen reckte er, mit dem Kopf schüttelnd, mir beide Hände mit gespreizten Fingern, dem westlichen Zahlzeichen, entgegen. In China werden für Zehn die beiden Zeigefinger gekreuzt, aber er wusste wohl, dass Ausländer damit nicht umgehen können. Schmunzelnd ging ich auf den überhöhten Preis ein und fand das chinesische ‚Zurechtkommen‘ in einer anderen Version bestätigt.

Hobe11An den Wochenenden wurde ich Zeuge mehrerer Hochzeiten im Hotel, die stets mit einem Corso von zwanzig roten Limousinen verbunden sind, oftmals angeführt vom Luxusauto des Brautpaares.

‚Person’s over 70 year’s free entry!‘ - der Palast des letzten chinesischen Kaisers von Japans Gnaden, Puyin, in der Provinz­hauptstadt Changchun errichtet, ist eine recht einfache Residenz, die keinem Vergleich mit dem Pekinger Kaiserpalast standhält. Die Alibi-Funktionen des Vasallenstaates waren im minimalsten Ausmaße möglich. Verbunden mit dem Palast ist ein Museum zur ‚Japanese Occupation of North-East-China (Manshu State)‘. Eine sehr eindrucks­volle Darstellung dieser für die einheimische Bevölkerung brutalen Zeit von 1932 bis 1945 mit zahlreichen Parallelen zu den Verhältnissen im damaligen besetzten Europa.

Was habe ich in China und von dessen Bewohnern gesehen und verstanden?

Die zahlreiche Literatur mit Ratschlägen für Reisende ist sicher hilfreich und insbesondere für den ersten Kontakt bei Geschäftsverbindungen wichtig. Von diesen unterschied sich meine Situation jedoch in der Unabhängigkeit von jeglichen konkreten Geschäftsinteressen. Ich bot meinen chinesischen Partnern Einblicke in die im ‚Westen‘ praktizierten Methoden modernen Qualitätsmanagements und sie bekundeten ihr prinzipielles Interesse daran, indem sie für die Kosten meines Aufenthaltes aufkamen.

Bestätigt fand ich die Hinweise zur betrieblichen Organisation, zur Intensität und zum Ablauf der Aufgaben, die ein erhebliches Rationalisierungspotential aufweist. Die Funktions­weise zentralisierter Entscheidungsstrukturen prägt das Verantwortungsverständnis und hemmt eine engagierte Zusammenarbeit im Arbeitsleben, ein bekanntes Phänomen, das überall dort zu beobachten ist, wo der Spielraum für Entscheidungen fehlt oder das Engagement unzureichend ist. Dass die Verhältnisse und nicht die historische Prägung oder das Naturell der Chinesen für diese Auffälligkeit verantwortlich sind, beweisen sie in aller Welt unter freieren gesellschaftlichen Verhältnissen und zunehmend auch im heutigen China als mehr oder weniger erfolgreiche Unternehmer.

Nicht bestätigt hat sich das ausgeprägte Harmoniebedürfnis im Gespräch, das nach einigen Berichten jedes echte Streitgespräch verhindern würde. So erlebte ich mehrfach, dass meinen Vorschlägen konkret, d.h. im Detail, widersprochen wurde. Anschließend fanden wir dann eine einvernehmliche Lösung und niemand ‚verlor sein Gesicht‘. Allerdings war ich stets darauf bedacht, Mängel und Fehler immer mit der Situation und den Umständen zu verbinden und niemals zu personalisieren, denn schließlich war ich gebeten worden Hinweise zum Reduzieren der Fehlerrate aufzuzeigen. Diese übergab ich ihnen zum Abschluss meiner Tätigkeit mit einer chinesisch-deutschen Vorschlagsliste.

Nach knapp vier Wochen sah ich Land - Deutschland vor mir. Es wird Zeit, dass ich wieder deutsche Küche genießen kann und das ‚European Beer‘, wie der englische Hotelgast aus Manchester  im Fahrstuhl auf seine zwei Flaschen ‚mindestens 3%-iges‘ Reis-Bier zeigend, bissig bemerkte. Er hatte eine langfristigere Aufgabe als ich in diesem fernen Winkel Chinas zu erfüllen.

Der Flug zurück führt über die gleichen Etappen mit nur zwölf anrechenbaren Flugstunden. Doch weil die Sonne unseren Flug begleitete werden es wieder achtzehn Stunden im Flugzeugsitz und es sollten noch einige dazu kommen. Drei Stunden verbringen wir in der startbereiten Maschine auf dem Rollfeld – wie ich später erfuhr, eine nicht seltene Situation auf dem übervollen Pekinger Flug­hafen. Wer protestiert schon, wenn ‚wegen stürmischen Wetters‘ der Start aufgeschoben wird?

In dem fernen exotischen Land habe ich tiefe Einblicke in die Arbeitsweise und viele Eindrücke der Lebensweise gewinnen können – ich bin mit meinem Ausflug sehr zufrieden. Ob es meine Ge­sprächs­partner auch sind bleibt abzuwarten. Mit meinem Dolmetscher Xiaojin und der Assistentin Lu, die tatsächlich eine Anstellung im Unternehmen bekamen, werde ich weiterhin die Kontakte pflegen.

 



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