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"Glasnost" in Leipzig 1987

Ein Bericht von Conrad Keilitz, Leipzig

Mich überraschte ein Anruf eines Mitarbeiters der Handwerkskammer Leipzig, ob ich bereit wäre einer sowjetischen Delegation meinen Handwerksbetrieb zu zeigen und auch Auskünfte über die Situation und die zu erwartende Entwicklung zu geben.

Donnerwetter - das war neu -  die Russen wollen von mir was wissen, schoss es mir durch den Kopf - ich saß sofort aufrechter auf meinem kleinen "Chefsessel". Durch Nachfragen beim Mitarbeiter klärte sich die Sache auf. Es handelte sich um ein Team von "Radio Moskau" das in Leipzig Handwerksbetriebe, verschiedener Gattungen, aufsuchen und interviewen wollte.

Da mein Betrieb, was ich bis dahin gar nicht wusste, als Vorzeigebetrieb in meiner Branche galt, was mich natürlich erfreute, willigte ich frohen Mutes ein.

Irgendwann später wurde mir der Termin des Besuchs der Delegation des Brudervolkes in meinem kleinen Handwerksbetrieb angekündigt. Klar, dass alles an seinem Platze lag - meine damals 5 Mitarbeiter waren von der Ehre auch beeinflusst und hatten sich etwas sorgfältiger gekleidet - die Genossen konnten also kommen.

Und sie kamen - etwa 4 Leute, von einer stark geschminkten, gut Deutsch sprechenden und sofort sympathisch wirkenden Genossin angeführt. Nach dem üblichem Blabla und ein paar Häppchen, die meine Frau kredenzt hatte, begann die Ausfragerei, nachdem ein Riesenmikrophon auf dem Verhandlungstisch installiert war.

Die "Chefin" der Truppe nahm uns gleich zu Anfang das übliche Unwohlsein, das sich immer einstellte, wenn eine politische Sache begann. So war das eben - wusste man denn, wie unsere Äußerungen, in den Ohren der Obersten Genossen klingen würden?

Sie brachte das Anliegen sofort auf den Tisch. Der Genosse Gorbatschow machte sich große Sorgen, weil seine Glasnost-Bemühungen in seinem Lande nicht auf die erhoffte Zustimmung stieß.

In den 70 Jahren Sowjetherrschaft war in den Köpfen der Bevölkerung alles was "selbständig und mit Privatwirtschafft" in Zusammenhang gebracht wurde - als Kulakentum verteufelt worden. Die Handwerker in den Kombinaten und den Staatsbetrieben erkannten gar nicht das Entgegenkommen von Glasnost und weigerten sich selbständig zu arbeiten, obwohl das großzügig gefördert werden sollte. Radio Moskau sollte in seinen Sendungen, durch unsere Beispiele, die Glasnost-Bewegung im sowjetischen Handwerk voranbringen.

Wir waren erstaunt, ob dieser Aussage und sofort bereit zu diesem Zwecke gern Auskünfte über unsere Situation, die Auftragslage, die steuerlichen Belastungen, die Arbeitskräftesituation, die Ausbildung und die Öffnungszeiten sowie die Ersatzteilebeschaffung zu geben. Auch führte ich die Delegation durch unsere Räume und hob die vielen Messgeräte, die mit geringzinnslichen Krediten angeschafft werden konnten und sich schon nach wenigen Jahren amortisiert hatten, hervor.

Zum Abschied wurde natürlich, nach russischer Sitte ein Wodka auf EX getrunken und die Versammlung löste sich nach Bruderkuss und gegenseitigen Freundschaftsbekundungen auf. Wir waren alle sehr glücklich etwas Vernünftiges geschaffen zu haben.

Es wurde auch der Termin genannt, wann die Sendungen im Radio Moskau gehört werden können. Aber das konnten wir sowieso nicht abhören. Die  Delegation begab sich von uns zu einem Tischlerbetrieb und von dort zu weiteren Handwerksbetrieben in Leipzig. Die Erkundungen sollten etwa 4 Tage dauern.

Diese Erfahrung war für mich ausschlaggebend, meinen Blick über den Tellerrand hinaus schweifen zu lassen. In der Sowjetunion also dachte man schon viel weiter als unsere alten Betonköpfe in Berlin. Hier einzusteigen wäre bestimmt von Vorteil gewesen. Aber - es kam eben anders.

Von diesem Besuch beflügelt, schrieb ich einen Brief an Gorbatschow indem ich meine Hilfe beim Aufbau einer Handwerkerorganisation in Moskau anbot. Mit meiner Frau abgesprochen, hätte ich ohne weiteres etliche Monate im "Bruderland" mehrfach tätig sein können.

Ob aber mein Brief die größte DDR der Welt jemals verlassen hat, steht in den Sternen. Zu dieser Zeit hatte das Ministerium für Staatssicherheit ohnehin ein Auge auf mich, wegen meiner Ämter in der Handwerksorganisation geworfen, konnte aber seine Ermittlungen später abschließen, da für sie nichts negatives herausgekommen war. So meine Akte.

März 2013

 



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