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Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

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Ingeburgs Erinnerungen an die Nachkriegszeit

Ein Bericht von Ingeburg Faust, Leipzig

Faust Als am 8. Mai 1945 der Krieg zu Ende ging, war ich 19 Jahre. Wir wohnten in Wiederitzsch, einem kleinen Ort am nördlichen Stadtrand von Leipzig. Ich hatte die Carolaschule, eine Frauenfachschule, besucht. Von April 1943 bis Mai 1944 musste ich, wie die meisten Mädchen in dieser Zeit, zum Arbeitsdienst und zum Kriegshilfsdienst. Danach war ich von Juli 1944 bis Mai 1945 Erzieherin in einem Heim für schwer erziehbare Kinder. Meinen Wunsch, Lehrerin für Hauswirtschaft zu werden, konnte ich mir in dieser Zeit nicht erfüllen. Es gab keine Möglichkeit der Ausbildung.

Im April 1945 wurde Leipzig von den Amerikanern besetzt und im Juli 1945 von der Roten Armee. Nach dem Krieg begann eine schlimme Hungerzeit. Im Sommer arbeiteten meine Schwester (sie war 25 Jahre alt) und ich in einer Gärtnerei. Wir wollten nicht von den Russen zur Demontage von Industriebetrieben eingesetzt werden.       

Auch in unserem Ort lebten in dieser Zeit Flüchtlinge aus Pommern und Schlesien. Sie waren in Sälen von Gaststätten untergebracht. Die Mütter bemühten sich um zusätzliche Nahrungsmittel für ihre oft große Kinderschar, da die Lebensmittelrationen nicht ausreichten, um satt zu werden. Ich erinnere mich, dass eines Tages eine Mutter mit ihren 3 Kindern in die Gärtnerei kam und um Gemüse bat. Sie wollte es auch bezahlen. Der blinde Gärtner fragte sie, was sie tun wolle, wenn sie kein Geld mehr habe. Ihre Antwort war: "Dann muss ich stehlen, meine Kinder kann ich nicht verhungern lassen." Das habe ich bis heute nicht vergessen.

Diese Frau hat auch auf dem Herd in unserem Haus in einem großen Topf das gekocht, was sie an Lebensmitteln bekommen hatte. Sie trug danach den heißen Topf zu dem Saal, wo sie mit ihrer Familie wohnte. Dort warteten die Angehörigen auf das Essen.

Zum Haus meiner Mutter gehörte ein großer Garten. Die gesamte Fläche - 2.200 m² - wurde mit Kartoffeln und Gemüse bestellt. Die Ernte wurde im Keller gelagert oder eingekocht. Im Herbst 1945 habe ich mit meiner Schwester auch einmal auf einem Erbsenfeld gearbeitet. Nach der Arbeit konnte jeder eine Tasche Erbsen mit nach Hause nehmen. Natürlich gingen meine Schwester und ich auf die Felder zum Kartoffeln und Zuckerrüben stoppeln. Den Begriff "stoppeln" kannte damals jeder. Er bedeutet, dass von einem abgeernteten Feld (Stoppelfeld) zurückgebliebene Kartoffeln, Rüben oder anderes aufgelesen wurden. Das war eine mühsame Arbeit, da auch die Bauern darauf geachtet haben, dass möglichst wenig zurückblieb. Die klein geschnittenen Zuckerrüben wurden im Kessel des Waschhauses zu Sirup gekocht. Dabei musste viele Stunden gerührt werden. Der fertige Sirup wurde in Steintöpfe gefüllt, er war Brotaufstrich und Ersatz für den knappen Zucker.

Ende 1945 kam ich meinem Berufswunsch ein Stück näher. Ich bewarb mich als "Neulehrerin" und wurde an der Berufsschule für Hauswirtschaft eingesetzt. Neulehrer wurden in der sowjetischen Besatzungszone als Ersatz für entlassene Lehrer, die nationalsozialistisch belastet waren, eingestellt. Die Ausbildung erfolgte nach einem kurzen Einführungslehrgang neben der Lehrtätigkeit. Die Hälfte der Arbeitszeit wurde Unterricht erteilt, die andere Hälfte studiert.

Auch mit den Schülerinnen bin ich in die Dörfer am Stadtrand von Leipzig gefahren, um Kartoffeln, Möhren oder Rüben zu stoppeln oder unter den Bäumen an den Landstraßen Äpfel aufzulesen. Daraus und aus anderen Nahrungsmitteln wurden in der Lehrküche "leckere Gerichte" zubereitet. Das war z.B. falsche Leberwurst - ohne Fleisch, aber mit viel Majoran - oder gebratene Kürbisscheiben als Schnitzel und manches andere.

Ich erinnere mich auch daran, dass in den Jahren 1945 bis 1947 oft Stromsperre war und wir die Abende bei Kerzenschein verbringen mussten. Manchmal saßen wir auch im Dunkeln auf der Couch und die Mutter erzählte dann vom Leben in Russland. Sie war Russland-Deutsche. In Omsk, wohin ihre Familie 1904 von Südrussland zog, lernte sie unseren Vater kennen. Er arbeitete als deutscher Ingenieur in Riga und St.Petersburg und wurde im 1. Weltkrieg in Omsk interniert. 1918 konnten er und meine Mutter mit anderen Internierten und Kriegsgefangenen nach Deutschland zurück. Er erwarb in Wiederitzsch Haus und Grundstück, wo ich heute noch wohne. Wegen der Herkunft unserer Eltern nannte man uns im Ort die "Russen-Wittichs". Das hörten wir aber gar nicht gern.

Wie ging mein Leben weiter? Meine Lehrer-Ausbildung dauerte insgesamt 10 Jahre. Die Grundausbildung als Neulehrerin schloß ich mit der 1. und 2. Lehrerprüfung ab. Danach folgte ein fünfjähriges Fernstudium an der Pädagogischen Hochschule Potsdam. Es endete mit dem Staatsexamen als Lehrerin für Deutsch/Literatur. Bis zu meiner Pensionierung habe ich immer als Lehrerin gearbeitet. Meine Freude am Lernen hat sich bis heute erhalten und deshalb bin ich Seniorenstudentin an der Universität Leipzig.

Dieser Bericht ist auch im Zeitzeugenprojekt der Leamington Elders in Deutsch und Englisch veröffentlicht. (http://timewitnesses.org/german/~ingeburg.html)




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