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Schicksalstage im Jahr 1953
- Stalins Tod und der 17. Juni -

Ein Bericht von Dr. Hubert Marusch, Leipzig


1. Stalin- Verehrung

Nach dem Sieg der Sowjetunion über Hitler- Deutschland lernten die Bewohner der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands ein neues Phänomen kennen: den Kult um Stalin! In größeren Städten hingen an zentraler Stelle überlebensgroße Porträts von Stalin. Natürlich gab es auch viele sowjetische Filme, in denen Stalin verehrt wurde. Im Jahre 1950 erschien der dreiteilige Spielfilm "Der Fall von Berlin". Am Ende des Films wird gezeigt, wie Generalissimus Joseph Wissarionowitsch Stalin (gespielt von Michail Gelovani) mit einem Flugzeug in Berlin landet. Er entsteigt dem Flugzeug gottgleich in weißer Jacke mit goldenen Schulterklappen und roten Orden.

Bald werden auch Städte umbenannt (am 1.2.1953 wurde die Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats Ost als selbständiger Stadtkreis aus dem Kreis Fürstenberg herausgelöst und erhielt am 7.5.1953 aus Anlass des Todes von Stalin den Namen Stalinstadt). Betriebe und Straßen bekommen den Namen Joseph Wissarionowitsch Stalin. Er war eben der große Führer und weiser Vater der Sowjetunion. Allmählich nahm er übermenschliche Züge an und seine Leistungen wurden künstlich überhöht dargestellt.

Ich studierte seit Herbst 1949 Chemie an der Universität Leipzig. Hier konnte ich das obligatorische Fach Gesellschaftswissenschaften bereits Ende 1950 mit einer schriftlichen Prüfung abschließen. Dafür wählte ich das Thema "Die Nationale Frage". Dazu war kurz vorher eine Broschüre von Stalin: "Die Nationale Frage" erschienen. Für das Fach gab es keine Noten, lediglich im Diplomzeugnis hieß es "bestanden". Ich nehme an, dass ich damals auch die großartige und weise Arbeit Stalins gelobt hatte!

Am 20.12., dem Vorabend von Stalins Geburtstag, fand immer im Leipziger Filmtheater "Capitol" eine Festveranstaltung statt. Für die meisten Studenten war diese eine angenehme Abwechselung, denn am nächsten Tag begannen die Weihnachtsferien und jeder strebte schnell nach Hause zu den Eltern oder zur eigenen Familie.

 

2. Stalins Tod

Am 5.3.1953 war Stalin im Alter von 74 Jahren verstorben. Eine Zeitung schrieb damals "die Welt hält den Atem an"!
Sofort fanden überall improvisierte Trauerfeiern statt, natürlich auch in den Chemischen Instituten der Universität Leipzig. Mit tränengerührter Stimme hielt ein Genosse die Trauerrede im abgedunkelten und mit Trauerflor geschmückten großen Hörsaal über den größten Wissenschaftler und Politiker aller Zeiten.

In der Montagsausgabe des "Neuen Deutschland" war in einem Beitrag von Walter Ulbricht zu lesen, dass der größte Mensch unserer Epoche verstorben ist und dass sein Werk noch in Jahrhunderten wegweisend sein wird.
Mich hat bereits damals gewundert, wie die Partei mit solch langfristigen Vorhersagen umgegangen ist, doch wie heißt es in einem Lied: "Die Partei, die hat immer recht..."!

Natürlich ahnte damals niemand, dass der spätere Generalsekretär der KPdSU, Chrustschow, in seiner berühmten Geheimrede auf dem 20. Parteitag im Jahre 1956 den Nimbus von Stalin zerstören würde.

In Leipzig wurde am Tage der Beisetzung vor der Ruine der Oper eine überlebensgroße Statue von Stalin aufgestellt. In einer riesigen Demonstration zogen am Nachmittag des 9.3.1953 die Werktätigen an der Statue vorbei und legten Kränze nieder. Ich hatte an diesem Tag Unterricht an der Techniker - Abendschule im Braunkohlenkombinat Espenhain und konnte so das Denkmal nur vom Bus aus sehen.

 

3. Der Volksaufstand am 17. Juni 1953

Auf der II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 hatte Walter Ulbricht den Beginn des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus in der DDR verkündet. Dazu waren natürlich große Anstrengungen notwendig. Im Frühjahr 1953 erließ die DDR- Regierung neue Gesetze, nach denen die Arbeitsnormen um 10% erhöht werden sollten. Die Preise für eine Reihe von Lebensmitteln stiegen an und viele Vergünstigungen (z.B. Arbeiterrückfahrkarten) fielen weg. Selbstständige erhielten keine Lebensmittelkarten mehr. Einige Dinge wurden allerdings bereits vor dem 17.6.1953 zurückgenommen.

Am 17.6.1953 entlud sich der Volkszorn in vielen Städten, so auch in Leipzig in großen Demonstrationen und auch in Übergriffen auf staatliche Stellen. Das Signal zu Demonstrationen hatten Bauarbeiter an der Stalin- Allee in Berlin am Vortag gegeben, indem sie die Arbeit niederlegten.

Ich hatte an diesem schönen Sommertag vormittags im Labor in der Brüderstraße zu meiner Diplomarbeit Versuche gemacht. Zum Mittagessen wollte ich in die Mensa am Peterssteinweg gehen. Unterwegs sah ich überall diskutierende Menschengruppen. Dann kamen aus allen Richtungen Werktätige in großen Demonstrationszügen in ihrer Arbeitskleidung anmarschiert. Sie trugen Transparente mit der Forderung nach Wegfall der Normerhöhung und dann auch nach Rücktritt der Regierung und Neuwahlen. An einer Straßenbahn las ich die Losung "Hängt Ulbricht", und dies in der Geburtsstadt von Walter Ulbricht, die sich anschickte, dessen 60. Geburtstag am 30.Juni groß zu feiern!

Zunächst verlief alles friedlich, doch am Nachmittag eskalierte die Situation. Ich weiß heute nicht mehr, ob ich noch bis zur Mensa kam, denn vor dem Polizeipräsidium und dem Untersuchungsgefängnis im gleichen Gebäudekomplex am Peterssteinweg/Ecke Beethovenstraße staute sich eine Menschenmenge. Als auch Gefangene befreit werden sollten, schoss die Polizei. Am Markt vor dem Alten Rathaus ging ein Pavillon der Nationalen Front (Vereinigung aller Parteien und Organisationen) in Flammen auf.

Auch die FDJ- Bezirksleitung in der Ritterstraße/Ecke Goethestraße wurde gestürmt, und es flogen Akten, Fahnen, Schreibmaschinen und auch Luftgewehre auf die Straße (die Zeit des Antimilitarismus war vorbei, und es begann der Aufbau der kasernierten Volkspolizei sowie schüchterner Schießübungen mit Luftgewehren der FDJ). Böses ahnend eilte ich wieder zurück ins Labor. Lange hielt ich es dort nicht aus. Gegen Abend ging ich zurück in das Stadtzentrum.

Auf dem Markt standen drohend zwei sowjetische Panzer. Auf dem Asphalt hatten sich Spuren der Panzerketten eingeprägt. Damit war der Volksaufstand mit Hilfe der Besatzungsmacht niedergeschlagen worden! Heute sind neben dem Leipziger Markt auf dem Salzgässchen zwei in Metall gegossene Abdrücke von Panzerketten zu besichtigen.

Überall sah man noch erregt diskutierende Menschengruppen. Hier lernte ich zum ersten Mal die Wirkung einer Massenpsychose kennen. In der Nähe eines Ladenlokals der Nationalen Front standen einige Leute, einzelne Drohungen wurden laut. Die Stimmung schaukelte sich hoch und schlug in Hass um und schon flogen Steine, von den Umstehenden bejubelt. Dann zersplitterte die Schaufensterscheibe von einem Stein getroffen. Ich machte mich nun schnell auf den Nachhauseweg zu meinem Zimmer, da inzwischen der Ausnahmezustand ausgerufen worden war und damit wohl auch eine nächtliche Ausgangssperre.

Am nächsten Tag regnete es. Das Wetter passte so richtig zur niedergeschlagenen Stimmung der meisten Menschen.
In den nächsten Tagen wurde in der DDR- Presse und im Rundfunk viel darüber geschrieben bzw. gesprochen, dass der Volksaufstand eine von Westberlin gesteuerte Aktion gewesen sei.

Nach eigenem Erleben erscheint mir die Unzufriedenheit vieler Menschen mit der damaligen Lebenssituation als wahrer Grund. Das Zitat von Karl Marx: "Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift" wurde hier in die Tat umgesetzt, allerdings nicht im Sinne der Herrschenden!

Erst in den 90er Jahren war zu erfahren, dass in Leipzig bei den Demonstrationen am 17.6.1953 sechs Personen getötet und drei von sowjetischem Militär erschossen wurden. Etwa 60 Personen waren verletzt worden. An den Demonstrationen sollen 30.000 bis 40.000 Menschen beteiligt gewesen sein.
Ähnliche Volksaufstände fanden im Jahre 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR statt.

Alle wurden von sowjetischen Panzern gestoppt. In Polen gründete sich im Jahre 1980 nach sozialen Unruhen die Gewerkschaft Solidarnosc. Im Jahre 1981 wurde die Gewerkschaft wieder verboten. Hier gab es keinen Einmarsch sowjetischer Truppen.


Juni 2014

 



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