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Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

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Fürchten und Frieren im Nachkriegshaus

Ein Bericht von Kornelia Mücksch, Schkeuditz


Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, dann bin ich immer wieder glücklich erstaunt darüber, welch weiten Weg des Wohlstandsgewinns wir inzwischen bewältigt haben.

So lag auch der großräumige Braunkohleabbau für das Kraftwerk in Boxberg, durch den das Grundwasser auch in unserem Dorf massiv absank, noch in einer fernen Zukunft und war Melioration bei uns noch ein Fremdwort, als der Kampf gegen die feindliche Übermacht der verschiedensten Aggregatzustände des Wassers meine ganze Kindheit und Jugend überschattete.

So dauerten die nasskalten Jahreszeiten nach meiner Erinnerung Ende der 50iger bis Anfang der 1970iger Jahre viel länger als ein halbes Jahr an. Aber wir wohnten eben direkt im „weißen Kessel“ in einem aus heutiger Sicht ärmlichen Haus, dessen großes Grundstück umgeben war von sumpfigen Wiesen, aus denen andauernd dicker, schwerer, nasskalter Nebel aufstieg, der nicht nur meiner Mutter, die dann schwer unter Asthma litt, sondern auch mir buchstäblich die Luft nahm. Wie von einem undurchdringlichen Alb fühlte ich mich dann tagelang eingesperrt, denn man sah durch die wabernde Suppe kaum zwei Meter weit und hörte die Außenwelt nur noch gedämpft wie durch Watte. Und dazu kroch die nasse Kälte auch noch durch die Mauern und Fenster unseres Steinhauses, das mein Vater mit meinen Großeltern mühselig nach dem Krieg in Eigenregie erbaut hatte.

Die Geschichte dieses Hauses hat nicht nur das Leben meiner Familie, sondern auch meine Erlebniswelt tief geprägt. Denn nachhaltig traumatisiert von den schweren Hungerjahren nach dem 2. Weltkrieg erzählten meine Oma und mein Vater immer wieder und wie zur Entschuldigung auch für die Mühsal, die ich als Kind ertragen musste und verstehen sollte, die Geschichte des Aufbaus dieses Hauses, unserer gemeinsamen Zufluchtsstätte. Mit erschöpftem Seufzen erzählte meine Oma, wenn ich mit ihr nach getaner Gartenarbeit auf der Holzbank unter dem Apfelbaum saß, dass der Kampf um dieses Haus bereits Anfang der 20iger Jahre begonnen hatte. Da beide viele Geschwister hatten und deshalb, kaum erwachsen geworden, den ärmlichen elterlichen Bauernhof verlassen mussten, mussten sich meine Großeltern ihren weiteren Lebensunterhalt als Knecht und später Waldarbeiter bzw. als Magd bei einem reichen Bauern verdienen gehen. Meine Oma wohnte während dieser Fron in einem Bretterverschlag über dem Kuhstall und musste von Sonnenauf- bis –untergang auf dem Feld, dem Hof und in der Küche des fremden Bauern arbeiten. Schließlich aber hatten meine Großeltern so viel gespart, dass sie billig ein Waldgrundstück, das damals noch weit entfernt von Nachbarn lag, erwerben konnten. Auf Kredit, den sie 20 Jahre lang abzahlten, errichteten sie darauf ein ärmliches Holzhaus, das ihnen nun ganz allein gehörte.

Doch dann kam der 2. Weltkrieg, der die kleine Familie auseinander und aus dem Dorf trieb. Meine Oma, die 1945 als Erste aus dem Arbeitsdienst in Bayern zurückkehrte, fand das Holzhaus zwar nur mit Dachresten, die von der Druckwelle des Treffers auf das Wirtshaus in der Nachbarschaft verschont geblieben waren, aber immerhin noch mit seinen vier Wänden vor. Allerdings hatten die Russen das Haus völlig ausgeräumt und verwüstet, denn sie hatten dort ihr Lager samt Pferden auf verdrecktem Stroh aufgeschlagen und waren wohl auch öfters zu faul gewesen, das Plumpsklo auf dem Hof zu nutzen. So konnte meine Oma den Gestank und Dreck im Haus kaum ertragen, als sie und glücklicherweise kurz danach auch mein Opa aus der französischen Gefangenschaft heimkam.

Lebenstüchtig und froh, den Krieg unversehrt überstanden zu haben, gingen sie sofort daran, auszumisten und zu reparieren, vor allem aber Essen, Material und Geld heranzuschaffen. Mein Opa musste sich deshalb unverzüglich wieder um seine alte Stelle als Waldarbeiter bemühen. Doch dadurch war er nun jahrelang in den entfernten Wäldern unterwegs und kam nur sporadisch an einigen  Wochenenden nach Hause, so dass meine Oma mit Nichts allein im Gruselhaus unter einer Plane statt des Daches ihr Grundeigentum gegen herumziehende Flüchtlinge, Heimkehrer und auch die überall patrouillierenden Russen verteidigen musste.

Noch bis zu ihrem Tod beklagte sie, dass sie deshalb auch bei Nachbarn nicht unterkriechen konnte und so nicht nur hungern und erbärmlich frieren, sondern auch schreckliche Ängste, von Russen oder anderen Männern überfallen, ausgeraubt oder vergewaltigt zu werden, aushalten musste. So hat vor allem sie aufgeräumt, eilig vor der Flucht Vergrabenes wieder ausgebuddelt und Haushaltsgegenstände aus den Ruinen in der Nachbarschaft gesammelt. Als ich 15 Jahre später in den noch verbliebenen Ruinen neugierig herumkroch, konnte ich deshalb zu meinem größten Bedauern außer einigen Scherben und verbogenen Löffeln nichts mehr finden. Für meine Oma allerdings war es seinerzeit existentiell, Werkzeug zu finden, um so schnell wie möglich Feld und Garten wieder bestellen zu können und so dem Hunger zu entkommen.

Am schlimmsten aber litt meine Oma unter der schrecklichen Angst, dass mein Vater, ihr einziger Sohn, der bei seinem ersten Kampfeinsatz als Funker in einem Flugzeug Anfang 1943 über Russland abgeschossen wurde und seither vermisst war, nicht mehr heimkehren könnte. Über all diesem Leid wurde sie schwer herzkrank. Doch wie durch ein Wunder kam mein Vater schließlich 1948 zwar aufgedunsen, mit einer Gesichtslähmung, die nie mehr ganz wegging und diversen Kreuznarben von operierten Furunkeln, aber doch lebend als einer der ganz Wenigen heim. Da er tödlich krank war, hatten ihn die Russen nach seiner letzten Wunschkostmahlzeit kurzerhand in einen Zug gen Heimat gesetzt. Ständig im Delirium und oftmals auch ohnmächtig, hatten ihm wohl fremde Menschen geholfen, irgendwie nach Hause zu finden.

Mein Vater hat nie viel über die schrecklichsten Jahre seines Lebens erzählt. Doch der unmenschliche Hunger, der nicht nur ihn, sondern auch die Russen in Sibirien gezwungen hatte, Gras, Blätter und Rinde zu essen, was auch bei ihm zur Ruhr geführt hatte, die er als Todeskandidat nur durch sein starkes Herz überleben konnte, war sein alles überschattendes Thema. So waren es auch die menschliche Fairness und Größe der Russen, die ihre letzten Krumen Brot brüderlich mit den Kriegsgefangenen geteilt hatten und sogar ihre eigenen Soldaten erschossen, wenn sie sich die Rationen der Gefangenen aneigneten, die meinen Vater letztendlich zum überzeugten Kommunisten werden ließen.

Nun so glücklich wieder heimgekehrt, wollte mein Vater endlich leben und eine Familie gründen. Also musste das kleine Holzhaus in ein zweistöckiges Steinhaus, in dem auch die Großeltern Platz hatten, umgebaut werden. Doch es fehlte nach dem Krieg an allem, auch am Baumaterial. So waren Beziehungen und Kreativität gefragt. Bau- und Brennholz besorgte mein Opa. Und die Ruinen der Nachbarschaft, z.B. auch der übrig gebliebene tiefe Krater des Wirtshauses, in dem mein Vater als Kind ein und aus gegangen war, lieferten nun die Ziegelsteine. In den ersten Bildern meiner Kindheit sehe ich immer noch meine Großeltern, wie sie auf einem Steinhaufen sitzen und mit einem Hammer die Mörtelreste von Ruinenziegeln abschlagen und abkratzen, um sie dann entweder separat oder gleich in Reichweite des Maurers aufzuschichten. Mein Vater aber mischte den Mörtel aus viel Sand, Wasser und etwas kostbarem Zement in einem Bottich an und reichte dem Maurer, der auf einer Leiter stand, den Mörtel in einem Eimer hoch. So wuchs mein Elternhaus und bot uns bald ein einfaches, aber eigenes Dach über dem Kopf.

Solange es noch keine Wasserleitung gab, mussten meine Eltern das Wasser aus dem Brunnen vor dem Haus pumpen und nach oben tragen. Dort gab es nur ein Waschbecken aus Steingut und ein metallenes Abwaschbecken in der Küche, in denen alles und jeder gewaschen wurde, der nicht mehr in die kleine Metallwanne passte, die Sonnabends auf zwei Stühlen stand. Warmes Wasser, Kochhitze und Heizung zugleich lieferte der ausladende Küchenofen, dessen breite Heizplatten und seitliche Wassertanks ständig mit Holz und Kohle befeuert wurden. Die Küche war eindeutig der Lebensmittelpunkt der gesamten Familie, denn hier war es immer nahrhaft, warm und gemütlich. Das galt sowohl für die Küche meiner Großeltern im Erdgeschoss als auch für unsere Küche im Obergeschoss.

Die anderen Räume aber wurden nur sporadisch oder gar nicht beheizt. Selbst die doppelten Fenster als auch die Mauern, die zwar haltbar, aber nur kärglich mit Außen- und Innenputz abgedichtet waren, boten vor der nassen Kälte, die im Winter unser Haus und Grundstück oft auch im Schnee versinken ließ, kaum ausreichenden Schutz. So denke ich noch heute mit Grauen daran, wie ich als Kind mit meinem dick angerauhten Nachthemd zitternd unter mein überdimensional aufgebauschtes Federbett kroch, das überall feucht vom Frost war. Bibbernd so eng wie möglich zusammengerollt lag ich unter dieser „Pauke“ regungslos und hoffte bis zum Einschlafen inständig, dass meine Körperwärme möglichst bald einen warmen Schutzraum inmitten der feuchten Kälte erzeugen möge. Und immer wieder war ich eigenartig fasziniert davon, dass ich, im Bett liegend, von der Tapete an der Wand dicke Schichten von Schnee- bzw. Frostkristallen abkratzen konnte. Auch die Fenster waren so zugefroren, dass wir erst kleine Gucklöcher in die dicke Frostschicht mit unseren warmen Händen bohren mussten, um hinausspähen zu können.

In der Zeit meiner Kindheit hatten auch wir noch etliche Jahre kein Wasserklosett im Haus. So war auch mir der Nachttopf noch bekannt, da sich das Plumpsklo in einem Nebengebäude befand. Sobald ich etwas älter war, bemühte ich mich allerdings, selbst in tiefster Nacht und bei größter Kälte im Schein einer nur sehr begrenzt funzelnden Hoflampe meine Angst vor Gespenstern und Räubern zu überwinden und zum Örtchen in der Werkstatt, die zugleich auch Kohlenlager war, zu eilen. Da Toilettenpapier für uns noch lange ein fremdartiges Luxusgut war, musste die Lausitzer Rundschau noch einen letzten Dienst verrichten, bevor ich wieder so schnell wie möglich diesen unheimlichen und unersprießlichen Ort verlassen konnte. Erst im Haus fühlte ich mich wieder sicher und geborgen.

Ähnliche Angstgefühle übermannten mich auch, wenn ich in den Keller, der nur das halbe Haus unterkellerte, steigen sollte. Da wir damals noch keinen Kühlschrank hatten, wurden auf den schmalen, sich wie in einem Schacht nach unten windenden Steinstufen die täglichen Lebensmittel wie Butter, Wurst, Käse oder Fleisch abgestellt. Auf halber Höhe der Treppe spendete ein kleines Fenster etwas Licht. Ansonsten war man bis zum hinteren großen Raum mit einem weiteren Kellerfenster auf die Grubenlampen angewiesen, die mein Vater in den schmalen Gängen mit den aufgestellten Regalen angebracht hatte. Doch überall, insbesondere in der einen tiefdunklen Nische links vom Gang, in der später gut beleuchtet die Tiefkühltruhe stand, wähnte ich immer feindliche Augen und Pfoten, die nur darauf warteten, dass das Licht ausging und ich, vor Angst erstarrt, nicht mehr nach oben fliehen konnte. So war jeder Gang zur Kartoffelhorde ganz hinten oder zu den Weckgläsern etwas weiter vorn ein Martyrium für mich, für das ich mich innerlich stärken musste. Und so war es immer meine größte Angst, dass jemand aus Versehen oben am Eingang das Licht ausschalten oder gar die Kellertür abschließen könnte. Doch fast täglich war ich gezwungen, den Kampf gegen meine Angst zu bestehen.  
 
Die größte Angst jagten mir allerdings die Kellerüberflutungen ein, seitdem tiefer Bodenfrost die nur vergleichsweise dünne Betondecke des Kellerbodens aufgerissen und nach oben gedrückt hatte und auch durch die Kellerwände immer öfter Wasser eindrang. Schließlich war eine professionelle Kellerdämmung für Nachkriegsbauherren wie meine Familie unbezahlbar.

Zum Glück ist es nie zur Katastrophe eines Stromschlags gekommen, obwohl der Wasserkessel und die Wasserpumpe an der extremsten Stelle auf einem Podest standen. Denn sobald auffällige Nässe bemerkt wurde, hieß es für uns alle, mit Kehrichtschaufel und anderen Schöpfwerkzeugen in den Keller zu steigen und die Wassermassen abzuschöpfen und unzählige Eimer Wasser draußen im Hof möglichst weit weg vom Keller auszuschütten.

Obwohl uns der Keller so viel Angst machte, war er doch einer der wichtigsten Räume des Hauses. Nicht zuletzt lieferte er auch eine Dämmung für die darüber liegenden Zimmer. Das merkten wir in den Räumen des Erdgeschosses, die nicht unterkellert waren. Dort gab es wegen der fehlenden gedämmten Bodenplatte selbst im Hochsommer eiskalte Füße und schon ein Meter vom glühenden Ofen entfernt empfindliche Kälte und Frösteln besonders im Winter. Da unser Keller nur klein und gewunden war, war schmerzhafte Fußkälte selbst im Hochsommer in den meisten Räumen des Erdgeschosses normal, so dass ich als Kind nie lange im Haus barfuß stehen konnte. 

Aber auch der Dachboden des Hauses, der über eine normale Leiter und durch Öffnen einer Klappe betreten werden konnte, war ein grusliger Ort, denn, auf einfachen, inzwischen mit dickem Staub bedeckten Brettern und Bohlen stehend, sah man jeden einzelnen Dachziegel und Balken und fühlte sich den Elementen wie Wind, Regen und Schnee, aber auch Hitze und Kälte unmittelbar ausgeliefert. Bei Sturm und Regen spürte man, wie das Haus stöhnte und kämpfte, zumal durch kleine Ritzen oder Schäden die Gewalten bedrohlich eindrangen. Ich habe meinen Vater sehr dafür bewundert, wie mutig und kreativ er sich zeit seines Lebens mit den aus der Armut erwachsenden Defiziten des Hauses auseinander gesetzt hat und fast immer eine Lösung fand.


August 2014

 



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