uni

Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

Berichte über Erlebnisse

Was wir wollen | Berichte schreiben | Chronik | Aktuelles | Impressum

Ein Pfarrer, auf den sich alle freuten

Von Thomas Gerhardt - nach einer Idee von Uta Gerhardt, Leipzig

Ein Durchgangszimmer, eine Mansarde ohne fließendes Wasser oder ein Raum ohne Heizung – jedes Mal wenn wir zur Tagung des Arbeitskreises „Christliches Buchgewerbe“ fuhren, und das war zweimal im Jahr, war das zugewiesene, meist private Quartier eine Überraschung. Aber in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts waren in einer kleinen Stadt im Bezirk Dresden oder Suhl für 50 bis 70 Tagungsteilnehmer Hotelzimmer nur schwer zu beschaffen.

Die Übernachtungsmöglichkeiten wurden dann oft von der ortsansässigen Kirchengemeinde zur Verfügung gestellt. Trotz dieser Einschränkung war das Interesse an Informationen, die auf dieser Tagung zu erwarten waren, riesig. Der kirchliche Verlag, der das Treffen veranstaltete, lud Mitarbeiter, Freiberufler und vor allem graphische Betriebe, die mit ihm verbunden waren, zu diesen Tagungen ein. Es wurden Fachvorträge über neue technische Entwicklungen, die es mitunter in der DDR noch gar nicht gab, aber auch kulturelle Beiträge oder christlich orientierte Betrachtungen geboten.

Der Schwerpunkt der Vorträge war in der Regel dem Medium Buch gewidmet. Der Verlag hatte also mit diesen Informationen eine Plattform gefunden, die dem Zusammenhalt der mit ihm verbundenen Autoren, Künstlern und graphischen Betriebe diente. Es fand auch immer ein „Abend der Begegnungen“ mit musikalischer Umrahmung statt. Dort kam man mit unterschiedlichsten Leuten aus der Buchbranche in Kontakt. Die Teilnehmer waren im Großen und Ganzen christlich geprägt und konservativ, und nicht unbedingt den damaligen politischen Verhältnissen immer zugetan. Es handelte sich oft um Druckereibesitzer oder Leiter, deren Betriebe Anfang der 70er Jahre verstaatlicht worden waren. Einige waren aber aufgrund der Kleinheit Ihres Unternehmens (Handwerksbetrieb) noch die rechtmäßigen Inhaber.

Es wurde natürlich, wie so oft in der DDR, über politische und wirtschaftliche Verhältnisse diskutiert – und weil man unter sich war, brauchte man auch kein Blatt vor den Mund zu nehmen. In diesem Zusammenhang war in den 80er Jahren auf der Tagung ein regelmäßiger Vortrag von einem Pfarrer, der in Berlin in den zentralen Kreisen der DDR-Kirchenleitung arbeitete, immer ein besonders erfreulicher Lichtblick. Hier gab es Informationen über Hintergründe der Kontakte zwischen Staat und Kirche. Man erfuhr etwas mehr als in der Zeitung stand oder im Fernsehen, allerdings auch im West-Fernsehen, zu sehen und zu hören war.

Nach dem Vortrag wurden natürlich auch Fragen gestellt, die der Pfarrer bereitwillig beantwortete. Letztendlich regte sein Vortrag immer zu Diskussionen und Meinungsäußerungen an. Jeder war dankbar, dieses „Insiderwissen“ aufnehmen zu können. Nach 1990 war durch die grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen der Sinn der Tagung in Frage gestellt und es kamen immer weniger Teilnehmer. Bedauerlich war auch, dass der Pfarrer aus Berlin nicht mehr kam – allerdings bekamen wir auch den Grund genannt: Er informierte nicht nur uns, sondern gab als IM die Informationen und Meinungen, die er auf der Tagung hörte, auch an seine Auftraggeber weiter.

 

Juni 2019

 



     Seitenanfang
Website der AG Zeitzeugen
Templates