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Unterricht trotz FDJ-Wahlversammlung

Ein Bericht von Helga Brachmann, Leipzig

Wer nicht in der DDR gelebt hat, kann vielleicht schwer verstehen, warum ich tagelang vor Furcht und Sorge nicht schlafen konnte.

Es war im Herbst 1976. An der Leipziger Hochschule für Musik war es untersagt, mittwochs in der Zeit von 13 bis 15 Uhr Musik zu machen bzw. Studenten zu unterrichten. Diese Zeit war der FDJ vorbehalten, also gedacht für politische Arbeit der "Freien Deutschen Jugend"/FDJ.

Eines Mittwochs war ich gerade dabei, meine Noten zusammenzupacken und mich auf den Nach-Hause-Weg zu machen, als ein älterer Student mich aufsuchte und flehentlich bat:
"Ich habe ein Telegramm vom Orchestervorstand Altenburg bekommen. Heute 18 Uhr ist Probespiel für eine Cellostelle. Ich soll das Dvorakkonzert spielen. Ich habe schon allein "wie verrückt" angefangen, das Werk zu üben, aber ich habe einfach die Orchesterzwischenspiele nicht mehr im Gehör. Bitte, bitte, begleiten Sie mich mal am Klavier, das hilft mir! Sie wissen doch, meine Verlobte arbeitet in Altenburg! Bekomme ich die Stelle, könnten wir versuchen in Altenburg zusammen ein Zimmer zu kriegen und könnten heiraten! Mein Glück hängt von dieser Cellostelle ab!"

"Klaus, Sie wissen, ich helfe gerne. Aber haben Sie nicht den Aushang gelesen - jetzt ist FDJ-Leitungswahl unten im Kammermusiksaal! Da darf ich in dieser Zeit nicht mit Studenten arbeiten, das könnte Ärger geben!"
"Aber die FDJ-Leitung, die neue, wird doch für das nächste Studienjahr gewählt. Da bin ich doch dann gar nicht mehr Student! Und ich brauche diese Sicherheit mit den Orchesterzwischenspielen. Bitte, bitte, es geht doch um meine Zukunft!"
Also, ich setzte mich an das Klavier, Klaus stimmte das Cello. Sicherlich war dann der Dvorak weithin zu hören, denn im übrigen Haus war die Musik verstummt.

Plötzlich steckte Prorektor Dr. M. den Kopf zur Tür herein. Blitzschnell sprang ich vom Klavierstuhl auf, um dem eigentlich sonst immer netten Prorektor für Erziehung und Ausbildung zu erklären, warum ich ausnahmsweise am Mittwoch zwischen 13 und 15 Uhr unterrichtete. Aber Prorektor M. war wie vom Erdboden, das heißt vom langen Hochschulkorridor, verschwunden. Ich suchte, aber fand ihn nicht. Prorektor M. hätte doch bestimmt verstanden, warum ich diese "Disziplinlosigkeit" wagte. Eigentlich war es doch auch nichts Schlechtes, wenn ich mich über meine Unterrichtszeit hinaus für einen Absolventen einsetzte?

Zwei Tage später kam ein strahlender Klaus, das Cello unterm Arm, mit einem Blumenstrauss, um sich bei mir zu bedanken. Er hatte die Stelle bekommen!

Ich vergaß die kleine Geschichte bald, denn mein Sohn wurde verhaftet in Berlin - ich hatte andere Sorgen und Probleme.

Drei Monate später rief mich abends mein Abteilungsleiter an:
"Professor B. hat sich bei mir beschwert. Sie hätten einen politischen Fehler gemacht und eine Disziplinlosigkeit begangen. Sie sollen zu ihm kommen!"
Professor B. war der Prorektor für gesellschaftliche Angelegenheiten, der keine Gelegenheit ausließ, wenn er mich sah, scheinheilig zu fragen, was den meine "nach dem Westen entfleuchte" Tochter mache. Aber eigentlich war dieses Kapitel doch nun erledigt? Oder wollte mir Professor B. Vorwürfe wegen meines erwachsenen Sohnes machen, der leichtsinnig politische Äußerungen in der Öffentlichkeit gewagt hatte? Aber mein Sohn war schon einige Jahre verheiratet, lebte woanders - was wollte Professor B. da von mir? Die nebenberufliche Arbeit verbieten? Oder durfte ich nicht mehr in Konzerten für Schüler auftreten? Entlassen konnte er mich doch nicht? War ich etwa als Lehrer an einer Staatlichen Hochschule nun nicht mehr tragbar?

All diese Ängste vertraute ich meinem Abteilungsleiter an, er war immer anständig zu mir gewesen. Er versprach, sich bei dem allseits gefürchteten Professor B. erst einmal zu erkundigen, was für eine politische "Disziplinlosigkeit" man mir vorwarf.
Ein ungemütliches, schlafloses Wochenende folgte für mich.

Am Montag endlich hatte der Abteilungsleiter den Professor B. erreichen können und erfahren, dass man mich "erwischt" hätte, wie ich während der FDJ-Wahl unterrichtet hätte. DA fiel mir der plötzlich verschwundene Dr. M. wieder ein! So ein scheinbar freundlicher Mensch hatte mich verpetzt bei Professor B, anstatt mich selbst an jenem Mittwoch zu fragen, warum ich zu dieser "heiligen" FDJ-Zeit musizierte? Dieser Mann, der mich ein paar Wochen vorher noch so gelobt hatte, dass ich eine bulgarische Gaststudentengruppe so gut betreue! Ich hatte die jungen Leute zu mir zum Mittagessen eingeladen - und Dr. M. war doch dabei auch mein Gast gewesen!

All dies erzählte ich meinem Abteilungsleiter, der volles Verständnis zeigte, dass ich den Studenten Klaus seinerzeit nicht mit seiner Angst vor dem Probespiel allein gelassen hatte. Ja, mein Abteilungsleiter bot mir sogar an, dass e r mit dem strengen Professor B. sprechen und alles erklären wolle. Ich war ihm dankbar.

Wieder eine Nacht mit Ängsten! Als alleinstehende Frau musste ich doch Geld verdienen. Hatte ich nicht auch von Fällen gehört, wo Mütter oder Väter die Stellung verloren, weil die Kinder politisch aufmüpfig waren?
Ich konnte doch nichts anderes als Klavier spielen!

Am nächsten Abend dann der erlösende Anruf des Abteilungsleiters:
"Professor B. hat gelacht, als ich ihm erzählte, warum Sie während der FDJ-Zeit unterrichtet haben. Aber Sie sollen das nie wieder tun, sonst gibt es einen strengen Verweis!"

Ich war erleichtert!
Aber den "Informanten" Dr. M. habe ich nie wieder eingeladen, wenn ich die Seminargruppe oder Gaststudenten bewirtete.


Helga Brachmann ist Pianistin. Sie arbeitete von 1961 bis 1975 als Korrepetitorin an den Städtischen Bühnen Leipzig und war von 1975 bis 1988 Lehrerin im Hochschuldienst an der Musikhochschule Leipzig. Heute ist sie im Ruhestand.





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