Wie ich den Nationalsozialismus erlebte
Ein Bericht von Helga Brachmann, Leipzig
Gliederung:
1. Die harmloseste Zeit für mich (1928 -1938)
2. Kurz vor dem Krieg (1938 - 1939)
3. Der Krieg beginnt (1939 - 1940)
4. Es wird Ernst mit dem Krieg (1940 - 1941)
5. Vorbei ist es mit dem Glauben an den "Endsieg" (1941 - 1944)
6. Das Ende mit Schrecken (1944 - 1945)
Nachwort
1. Die harmloseste Zeit für mich. Mein erstes Lebensjahrzehnt (1928 - 1938)
Es gibt viele Aufzeichnungen und Bücher, Photos und Rundfunkmitschnitte, Filmdokumente und Zeitungsberichte über den deutschen Faschismus. Ich will keineswegs eine neue Betrachtung hinzufügen, sondern ich möchte aus meiner Sicht erzählen, wie ich als Kind diese Epoche erlebte.
Übrigens, das Wort "Faschismus" wurde erst nach dem Krieg im deutschen Raum gebräuchlich, vorher nannte man nur die italienische Bewegung Mussolinis so. Hierzulande sprach man entweder angstvoll oder abfällig von den "Nazis", im offiziellen Sprachgebrauch hieß es "Nationalsozialismus".
An den Tag von Hitlers Machtübernahme, den 30. Januar 1933, kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Ich war 4 Jahre und 8 Monate alt und wir wohnten damals in dem verschlafenen Ackerstädtchen Landsberg an der Warthe, nahe Küstrin.
Mit dem Begriff "Führer", wie Hitler allgemein hieß, wurde ich erstmals kurz nach meiner Einschulung in Berlin, Ostern 1934, konfrontiert. Unsere alte und etwas schrullige Klassenlehrerin pflegte sich zu Beginn des Unterrichts am Morgen auf das erste Schülerpult zu setzen, ihre Hände zu falten, und dann andächtig vom "Herrn Jesus und dem Führer" zu erzählen, die es beide ja so gut mit uns meinten. Ich sehe dieses Fräulein Suppli noch heute vor mir in ihrem zeitlosen dunkelblauen und viel zu langem Gewand. Obwohl christlich erzogen - oder vielleicht gerade deshalb - hatte ich vorher noch nie von dieser Einheit "Jesus und Hitler" gehört. Und was hatten diese beiden so unterschiedlichen Persönlichkeiten nach Fräulein Supplis Meinung gemeinsam? Nun, die Antwort war ganz einfach: Beide heirateten nicht, um sich voll dem "Dienst am Volk" widmen zu können.
Nach den Sommerferien wurde in der Schule vom Tod Hindenburgs gesprochen, dessen Namen ich als Sechsjährige gar nicht kannte. Selten hörten wir zu Hause Nachrichten im Radio, über politische Ereignisse redeten meine Eltern so gut wie nie, und das Fernsehen hatte seinen Siegeszug noch nicht angetreten.
Der Schüleralltag wurde auf Initiative meiner Mutter erweitert, ich mußte dreimal pro Woche nachmittags in die Stadt zum Musikunterricht fahren und täglich 2 Stunden Klavier üben. Sonntags ging es jahraus, jahrein um 11 Uhr in die Sonntagsschule, wie bei uns der Kindergottesdienst genannt wurde. Täglich mußten meine Schwester und ich unseren kleine Bruder spazierenführen, eine Aufgabe die wir beide haßten. Da der Jüngste Teddy gerufen wurde, nannten wir diese Pflicht "Teddy weiden".
So war für mich als Kind die Politik zunächst überhaupt nicht vorhanden.
Das änderte sich 1936, ich war inzwischen 8 Jahre alt.
Wir wurden klassenweise in den Dokumentarfilm über die Berliner Olympiade geführt und da staunte ich erstmals über gewaltig Mengen aufmarschierender Soldaten in Reih und Glied. Oder waren es SA-Männer?
Mich begeisterten die Bilder der Kunst- und Turmspringer, die in eleganter Haltung von den unendlich hohen Sprungbrettern ins Wasser glitten. Leider war es nie möglich, auch bei größter Anstrengung nicht, daß ich in Turnen eine gute Zensur erreichte. Da ich aber im Schwimmen leidlich erfolgreich war, schien mir damals die Kunstspringerei ausgesprochen erstrebenswert.
Natürlich war man als 8-jähriges Kind begeistert, daß Deutschland - nach den USA - die meisten Medaillen erkämpft hatte, wo doch unsere Mannschaften 1932 bei der Olympiade sehr schlecht abgeschnitten hatten. In der Schule wurden nun die sportlichen Erfolge des Jahres als persönliches Verdienst des "Führers" interpretiert. Ich besinne mich, daß meine Mutter mir damals klarzumachen versuchte, daß die USA nur deswegen besser beim Sport waren, weil ihre "Neger" weniger Verstand im Kopf, dafür aber mehr "Urwaldkraft" in den Beinen hätten. Überhaupt hört ich nun öfter von ihr, daß der Deutsche der klügste Mensch sei. Das erste Auto, die erste Eisenbahn, das erste Luftschiff, alle großen kulturellen Leistungen und Schöpfungen, seien Ergebnis des überlegenen deutschen Geistes und das Gehirn der "Asiaten und Neger" sei eben kleiner. Ich glaube, sie spürte damals gar nicht, daß sie von den Rassegesetzen der nationalsozialistischen Demagogie bereits sehr beeinflußt war.
Meine Mutter ging auch mit meinen Geschwistern und mir eines Sonntags zu einem Wehrsportfest in eine Zehlendorfer Kaserne. Ich erinnere mich an Soldaten mit vollem Marschgepäck, die eine stahlglatte Wand überklettern mußten, was mir wegen meiner eigenen Unfähigkeit, einen Feldaufschwung zustande zu bringen, kolossal imponierte.
Aufgeschreckt aus der privaten Welt eines kleinen Mädchens wurde ich im Februar 1938, als meine Mutter mich mit schreckverzerrtem Gesicht und weitaufgerissenen Augen lautstark begrüßte: "Es ist Krieg! Unsere Truppen marschieren in Österreich ein!".
In der Schule hatte man uns aber erklärt, daß die Bewohner des südöstlichen Nachbarlandes keinen sehnlicheren Wunsch gehabt hätten, als "Heim ins Reich" zu kommen und im Moment jubelten die Menschen an den Straßenrändern den deutschen Soldaten zu. Auch sei diese Einbeziehung der "Ostmark" ins "Großdeutsche Reich" ein Beweis für die politische Größe unseres "Führers", dessen eigene Heimat Braunau am Inn nun endlich auch deutsch sei.
Meine Mutter beharrte darauf: "Wenn in ein anderes Land eingefallen wird, dann nennt man das Krieg!".
Krieg - aber was bedeutete das? Was wurde anders? Meine Oma hatte viel vom Kriegswinter 1917 erzählt, dem sogenannten "Kohlrübenwinter", wo die Menschen reihenweise an Unterernährung und Grippe in der Heimat gestorben seien. Nun, gehungert hatte ich noch nie, wenngleich meine Eltern auch äußerst sparsam leben mußten. Fleisch zum Beispiel, das gab es sehr selten bei uns. Einfaches Essen schreckte mich darum überhaupt nicht ; und bald war ja auch dem Ängstlichsten klar, daß der "Anschluß" Österreichs keinen Krieg gebracht hatte.
Die Ursache weiß ich nicht - oder nicht mehr. Jedenfalls wurde die Butter plötzlich rationiert. Es gab die ersten Lebensmittelkarten, die der "Blockwart" brachte. Mir schien er ein netter Mann zu sein.
Wir aßen nie Butter, sondern die billigere Margarine oder Schmalz. Nun kaufte meine Mutter das rationierte begehrte Erzeugnis. Meine Geschwister und ich brachten es dann zu Bekannten, wohlgemerkt zum Ladenpreis. Der wunderbare Nebeneffekt für uns Kinder: Die freundliche Dame schenkte bei jedem Hinbringen jedem von uns 10 Pfennig. Es war unser erstes Taschengeld.
Ein großartiges Gefühl, eigenes Geld in der Hand zu haben! Ich kaufte meinem Vater davon zum Geburtstag eine Tafel Schokolade bei "Most", die damals 30 Pfennige kostete. Auch für meine Mutter erstand ich gern davon winzige Geschenke, die von meinen Eltern entsprechend gewürdigt wurden.
Ab Ostern 1938 besuchte ich die Oberschule für Mädchen "Königin-Luise-Schule, Berlin-Friedenau". Die Aufnahmeprüfung fiel mir nicht schwer. Ein kurzer Aufsatz war gefragt, dann mündliche Rechenaufgaben. Man nannte damals die Grundrechenarten noch nicht hochtrabend "Mathematik". Bei uns begann dieses Fach erst im 6.Schuljahr, als wir Gleichungen behandelten.
Unsere neue, in meinen Augen entsetzlich alte Klassenlehrerin fragte nach freundlicher Begrüßung zu meiner Verwunderung: "Von Euch ist doch nicht etwa jemand Jude?". Keine meldete sich, und ich wußte auch gar nicht so recht, was das war, ein Jude. Irgendwie mußte es etwas Übelriechendes sein, so stellte ich mir vor, weil nur ganz selten und mit Abscheu das Wort gebraucht wurde, jedenfalls in der Schule und auch zu Hause.
Mit 10 Jahren wurde man automatisch "Jungmädel". Das war gewissermaßen die Kinderabteilung des Bundes Deutscher Mädchen (BDM).
Die Organisation faßte die Schülerinnen nicht klassenweise zusammen, wie es dann später nach dem Krieg bei den Jungen Pionieren und der FDJ üblich war, sondern die Mitglieder wurden nach Wohngegenden und Straßen aufgestellt. Anfangs kannte ich die meisten Mädchen meiner Gruppe gar nicht.
Nun mußte eine "Uniform" beschafft werden: Weiße, kurzärmlige Bluse mit angeknöpftem dunkelblauem Rock. Darüber kam die "Kletterweste", eine braune enganliegende Jacke, scherzhaft "Affenhaut" genannt. Vorschrift waren im Sommer weiße Söckchen, im Herbst und Winter graue Kniestrümpfe, dazu schwarze Halbschuhe. Auf dem Turnhemd mußte ein Hakenkreuz prangen, ab sofort auch in der Schule. Das schwarze Halstuch, mit einem braunen Lederknoten zusammengehalten, wurde erst an die Vierzehnjährigen "verliehen", als Zeichen der Aufnahme in den "richtigen" BDM.
Der Dienst des Jungmädels bestand zunächst aus zwei wöchentlichen Verpflichtungen: Sonnabend nachmittags Sport in Schöneberg und mittwochs Heimabend in der Nähe in einem Klubraum im "Souterrain", was auf schlicht deutsch Kellergeschoß heißen würde.
Wie habe ich die Sportübungen gehaßt. Und die Heimabende waren so entsetzlich langweilig. Eine Vierzehnjährige, die sogenannte "Führerin", zeigte uns wie man Laubsägearbeiten macht und erläuterte uns anhand einer Deutschlandkarte die Lage der "Ostmark", später auch des "Sudetengaus" und dann auch Gebiete des "Protektorates Böhmen und Mähren". Das war dann aber erst im Frühjahr 1939.
Mein Vater machte aus seiner Abneigung gegen die Nazis nie ein Hehl, meinte aber stets: "Dienst ist Pflicht und eine Pflicht erfüllt man!". Meiner Erinnerung nach war meine Mutter gefühlsmäßig mehr auf Hitler und seine Gefolgsleute eingestellt, aber sie fand - sehr zu meiner Erleichterung - öfter einen Grund, mich für den ungeliebten Dienst schriftlich zu entschuldigen. Möglichst wurde es so arrangiert, daß mein Vater es nicht bemerkte. Er war ein aufrechter und grundanständiger Mensch, aber der Überzeugung, daß man einer Obrigkeit gehorchen müsse, auch wenn man mit ihr nicht einverstanden sei.
Als Jungmädel mußten wir am 1. Mai 1938 zu einer Kundgebung in das Berliner Olympiastadion. Ein Alptraum noch heute diese Veranstaltung. Stundenlanges Stehen, ohne etwas zu sehen oder mithören zu können. Dazu eine scheußliche Kälte. Schneeregen fegte über das Gelände und alles fror, besonders an den nackten Knieen. Es versteht sich, daß man zur Uniform keinen Regenumhang oder gar einen Schirm tragen durfte. Das einzig Tröstliche an diesem häßlichen Vormittag war eine Verpflegungstüte für jedes Kind mit soviel Süßigkeiten und Obst, wie es sie zu Hause die ganze Woche nicht gab.
Zu den Pflichten eines Jungmädels gehörte auch das Sammeln. In DDR-Zeiten sprach man von Solidaritätsgeldern, heute spendet man. In meiner Jugend mußten wir kleine Abzeichen für das "Winterhilfswerk" verkaufen. Diese kleine Anstecker kosteten 20 Pfennig und waren manchmal niedlich. Ich besinne mich an eine winzige Mundharmonika, etwa zweieinhalb Zentimeter lang. Jede Woche kam ein neues Modell zum Verkauf, Manche Menschen sammelten die Muster; ein kleiner Tannenbaum zu Weihnachten, ein winziges Schaukelpferdchen oder ein buntes Vögelchen waren dabei. Für das Geld erhielten wir plombierte Büchsen mit einem Schlitz zum Einwerfen. Besonders gelobt wurde, wer nicht nur verkaufte, sondern zusätzlich gesammelt hatte. Meist waren es Pfennigbeträge, die man auf den Straßen erhielt.
2. Kurz vor dem Krieg (1938 - 1939)
Daß sich eine militärische Auseinandersetzung anbahnen könnte, das kam mir gar nicht in den Sinn. Wie großartig der "Führer" jede Kriegsgefahr vom deutschen Volk abwendete, wurde uns im Deutschunterricht immer wieder eingetrichtert. Die diplomatischen Fähigkeiten habe Hitler ja beim Münchner Abkommen bewiesen.
Inzwischen glaubte ich auch meiner Mutter nicht mehr, die sowohl bei der Vereinnahmung des "Sudetengaus", als auch bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei jedesmal von Kriegsausbruch jammerte.
Immer öfter hörten wir in der Schule nun vom "Volk ohne Raum" und der Notwendigkeit, daß Deutschland Rohstoffe brauche.
Die sogenannte "Kristallnacht"? Nun, wir wohnten in einer ruhigen Seitenstraße im 4.Stock und hatten nichts gehört. Aber die Mitschülerinnen, die auf dem Schulweg die belebte Rheinstraße überqueren mußten, erzählten aufgeregt von Drogerien, vor denen zerbrochene Parfümflaschen gelegen hätten - und es habe unwahrscheinlich geduftet. Auch sprachen sie von eingeschlagenen Schaufensterscheiben und von verstreuten Schuhen und Kleidungsstücken. Ich war mit meinen 14 Jahren so naiv, daß ich glaubte, es hätte sich um räuberische Überfälle gehandelt. Obwohl doch eigentlich unter dem "Führer" jegliche Kriminalität aus Deutschland verbannt worden war, so hatte man es uns immer wieder erzählt. Der "Führer" habe auch die Arbeitslosigkeit beseitigt. Er sei ein von Gott gesandter Erlöser unseres Volkes aus der Schmach des "Versailler Schandvertrages" von 1919.
Gehaßt habe ich die Aufmärsche zur Begrüßung Hitlers, wenn er aus Rom oder Wien nach Berlin zurückkam. Es gab zwar schulfrei, aber mir wäre Unterricht an solchen Tagen lieber gewesen. In Uniformen mußten wir klassenweise vor der Schule antreten. Dann ging es in Reih und Glied unter Leitung der jungen Handarbeitslehrerin nach Berlin-Mitte, zur Siegesallee - ein Marsch von 90 Minuten. Viele, unendlich viele Jugendliche standen dort schon und jeder versuchte einen Platz zu ergattern, um etwas sehen zu können. Oft dauerte es Stunden bis der offene Wagen mit dem "Führer" vorbei fuhr. Manch einem Mädel wurde es schlecht von der Hitze und dem langen Stehen. Dann brüllte es in der Nähe: "Heil, heil, heil" - der Wagen fuhr vorbei - und dann marschierte alles den Weg zurück.
In der Schule wurde über politische Tagesereignisse im Deutschunterricht gesprochen. Erst 1942 bekam ich "nationalpolitischen Unterricht" - kurz NAPO genannt. Im Vorkriegsjahr ging es nach meiner damaligen Ansicht um ganz normalen Lehrstoff. Ich spürte nicht, daß die Erklärungen von nordischen und nichtnordischen Schädelformen in Biologie Propaganda waren, die die Überlegenheit der germanischen Rasse erläutern sollte. In Geschichte nahmen die Altdeutschen einen breiten Raum ein. Runen, Spangen, Gürtelschnallen und Werkzeuge sollten uns davon überzeugen, daß die germanische Kunstfertigkeit alles Welsche und Fremde übertroffen habe.
Eines Tages flüsterte mir meine Freundin zu, ihre Tante sei derartig gegen Hitler eingestellt, daß ihre Eltern mit dieser Verwandtschaft nichts mehr zu tun haben wollen. Sicherlich klingt das heute weltfremd oder gar komisch. Für mich war es das erste Mal, so offen von einer Ablehnung des "Führers" zu hören. Daß es einen Widerstand gegen die Nazidiktatur gab, verheimlichte man. So war mir des Name Ernst Thälmann bis 1948 absolut fremd. Wenn zu Hause oder in der Schule das Wort "Kommunist" fiel, so hatte es für mich den gleichen verächtlichen Klang wie "Jude": abstoßend, ungeordnet, verwahrlost, ungewaschen, laut und krakeelend.
Fanatisch nationalsozialistisch war nur unser Deutschlehrer, ein Dr. Schürer oder Schierer. Als wir in Grammatik über den Doppelpunkt sprachen sollten Beispiele genannt werden. Ich hatte gerade eine Schlagzeile aus der Zeitung im Kopf:"Der Führer schrieb an Daladier: Danzig und der Korridor müssen zurück!". Ich hatte wirklich nur an das Satzzeichen gedacht, aber Dr.Schierer lobte mich überschwänglich für meinen guten Glauben an den Führer. Es war mir peinlich - ich entsinne mich genau.
Nach dem 1.Weltkrieg hatte Deutschland an Polen einen Zugang zur Ostsee abtreten müssen, zusammen mit der Stadt Danzig. Jenseits dieses "Korridors" lag die deutsche Provinz Ostpreußen, die am günstigsten mit dem Schiff von Stettin aus zu erreichen war. Jedenfalls weiß ich von meinen Eltern und von Kollegen meines Vaters, daß man nicht mit dem Zug durch polnisches Gebiet fuhr, sondern den Seeweg bevorzugte.
Viele "Volksdeutsche", wie man sie damals bezeichnete, lebten innerhalb der Grenzen des Nachbarlandes. Sowohl das christliche Sonntagsblatt für Kinder "Der gute Hirte", als auch Dr.Schierer berichteten nun immer häufiger, wie heimtückisch und hinterhältig "Der Pole" sei. Auf offener Straße würden Deutsche angefallen und ausgeraubt. Ja sogar in den Läden gäbe man unseren "Volksgenossen" nur die schlechteste Ware - oder man verkaufte ihnen gar nichts - und so litten viele von ihnen Not. Gute Dinge lege man nur für polnische Landsleute zurück.
Noch heute sehe ich unsere ganze Familie am Radio - ungewöhnlich am hellichten Tag. Hitler redete und schrie, endlos lang, so daß mein Vater nach etwa 90 Minuten ein Buch zur Hand nahm. Unser "Führer" verkündete lautstark mehrmals, daß man die Frechheiten "des Polen" lange genug und mit unendlicher Geduld ertragen habe, nun würde man sie vergelten. Seit dem frühen Morgen schösse die deutsche Wehrmacht zurück und marschiere in das Nachbarland ein. Er selbst, Hitler, sei ab heute der erste deutsche Soldat und Feldherr und vertausche jetzt sein braunes SA-Hemd und seine braune SA-Uniform mit dem stolzen grauen "Waffenrock". Was sonst noch alles gesagt und angedroht wurde, weiß ich nicht mehr. Mein Vater wurde von meiner Mutter gerügt: "Wie kannst Du nur lesen, wenn Dein Führer spricht!". Mein Vater ließ sich nicht beeindrucken, sondern meinte: "Da steht doch morgen Wort für Wort alles in der Zeitung!"
Nun hatte der Krieg begonnen - richtig begonnen. Was würde er uns bringen?
Es war der 1.September 1939 ....
3. Der Krieg beginnt (1939 - 1940)
Kein Mensch erlebt und erleidet einen Krieg so wie sein Zeitgenosse und so werden auch die Erinnerungen von Zeitzeugen immer unterschiedlich sein. Da spielen Alter, Herkunft und Geschlecht eine Rolle. Gravierend ist immer, wo man stand - auf der begünstigten Siegerseite oder war man von herannahenden feindlichen Truppen bedroht?
Was änderte sich nun für eine Schülerin der 6.Klassenstufe?
Die Frontergebnisse wurden ungeheuer wichtig, und ich verfolgte die Sondermeldungen im Radio, die Berichte im "Berliner Lokalanzeiger" und sah jede Woche die aktuelle "Wochenschau" im Kino, die sonnabends nachmittags für Schüler ohne den nachfolgenden Hauptfilm gezeigt wurde. In Deutsch wurde erwartet, daß man genau Bescheid wußte. Noch heute weiß ich ohne Nachschlagewerk viele Daten des Krieges auswendig. Zum Beispiel: 10.Mai 1940 Einmarsch in Paris oder 18.Mai 1940 Rückführung von Eupen-Malmedy, das 1919 von Deutschland an Belgien gefallen war.
Im Klassenzimmer hing eine Landkarte, wo täglich mit Nadeln und kleinen bunten Wimpeln die Frontlinien neu abgesteckt wurden. Ein Kriegstagebuch mit Zeitungsbildern und Kommentaren zu führen, galt für jede Schülerin als selbstverständlich.
Nun wurden für fast alle Artikel Marken und Bezugsscheine eingeführt. Pro Person gab es z.B. 40 Kleiderpunkte. Da konnte man wählen: Kaufte man einen Mantel waren etwa 30 Punkte verbraucht für ein Jahr. Wählte man stattdessen Strümpfe, kostete das höchstens 4 Punkte. Das Problem war natürlich, daß es die meisten Waren nicht im Angebot gab.
Da meine Geschwister und ich fast nur aussortierte Kleidung von Kirchenmitgliedern trugen, war für uns die Kleiderkarte kein Problem. Ja, meine Mutter verschenkte an Freundinnen unsere Punkte, weil wir nie neue Kinderkleidung kauften.
Auch die Rationierung von Brot, Mehl, Fleisch, Fett und Eiern war für uns nicht tragisch. Aber als sehr belastend empfanden wir die magere Zuteilung von Seife und Waschmitteln. Immer hatten wir morgens und abend von bedruckten oder bestickten Tischtüchern gegessen; mittags, jahraus, jahrein, von weißen. Nun erwischte meine Mutter nur noch dunkelrotes Wachstuch, auf dem fortan sämtliche Mahlzeiten eingenommen wurden. Kalt und feindlich erschien mir dieser Belag. Für mich ein erstes Zeichen des Mangels, der uns nun mindestens 15 Jahre ständiger Begleiter war.
Andere Hausfrauen hatten kurz vor Kriegsbeginn Bohnenkaffee, Speiseöl, Seife, Stoffe, und Strümpfe in Panik zusammengehamstert, Vorsorge treffend für magere Zeiten. Bei uns war dafür kein Geld dagewesen.
Plötzlich waren auch keine Briketts mehr im Angebot. Meine Eltern hatten die billige Sommerkohle bestellt und der Kriegsbeginn hatte die Auslieferung verhindert. Wir haben erbärmlich in diesem besonders kalten Winter 1939/40 gefroren. Nur das Wohnzimmer konnte ein wenig beheizt werden. Da es aber eine Außenwand hatte, wurde es nie warm. Das tägliche zweistündige Klavierüben wurde zu Qual und war nur mit Wolldecke auf den Knien und mit einer kleinen Heizsonne, auf die Hände gerichtet, zu ertragen. Wochenlang zeigte das Wohnzimmerthermometer nur 9 Grad Celsius an. Meine Schwester übte Geige in der Küche, wo es auch nicht viel wärmer war. Für den eisernen Herd fehlte die Steinkohle und das Holzfeuer hielt nicht lange vor.
Daß der "Blitzkrieg" gegen Polen nach 18 Tagen mit der Kapitulation des "Feindes" endete, dürfte allgemein bekannt sein. Von eigenen Verlusten hörten wir fast gar nichts.
Weiterhin brachten meine Geschwister und ich jede Woche unsere Butter zu der freundlichen Dame mit den Zehnpfennigstücken. Etwa in der zweiten Septemberwoche öffnete sie uns mit verweintem Gesicht und sprach fast kein Wort mit uns. Von meiner Mutter hörten wir dann, daß der Sohn "hinterrücks aus einem Fenster von einem dreckigen Polen angeschossen worden sei beim Einmarsch in Posen". Erst wären die Eltern erleichtert gewesen, daß der Junge nun aus den Kämpfen herauskomme, dann habe aber eine Blutvergiftung den Verlust eines Beines gefordert. Wir kannten den fröhlichen jungen Mann aus Vorkriegszeiten. Meine Schwester und ich konnten uns damals kaum vorstellen, wie wir ihm wieder begegnen sollten. Es war für uns das erste Unglück in diesem Krieg, und wir waren erschüttert.
Um die gleiche Zeit erzählte meine Freundin weinend, ihr Vater habe den Einberufungsbefehl erhalten. Als ehemaliger Offizier des 1.Weltkrieges müsse er sich seine Uniform selbst besorgen und übermorgen "einrücken".
Kurz darauf bekam mein Vater die gleiche Post. Meine Mutter war sehr traurig und verzweifelt, wir Kinder ratlos. Was sagt man zum Vater, der "eingezogen" wird? Wir wußten, daß er von 1916 bis 1918 Soldat war. Jetzt kam er als Einundvierziger zu den Landesschützen nach Luckenwalde. Es war eine Infanterietruppe, zunächst nur für leichtere Aufgaben in der Heimat bestimmt. 1942 wurde diese jedoch an die Ostfront verlegt und hatte schwere Verluste bei den Kämpfen.
Die Notkaserne in Luckenwalde sah ich in der Adventszeit 1939. In einer häßlichen ehemaligen Fabrik, direkt unter dem Dach, lagen 50 bis 60 Mann auf einfachen Betten. Jeder hatte einen Stuhl, Schränke gab es nicht. Die rohen Holzbalken waren verrußt und unansehnlich, die Beleuchtung spärlich, die sanitären Verhältnisse ekelerregend. Meine Schwester und ich gestalteten dort eine kleine Weihnachtsfeier, Lieder vortragend, sie auf der Geige und ich auf der Blockflöte.
Der Kompaniechef muß ein freundlicher und christlich eingestellter Mann gewesen sein, denn fast jeden Sonntag gab es einen Urlaubsschein, damit mein Vater - allerdings in Uniform - in unserem Gemeindesaal predigen konnte.
Als Soldat erhielt mein Vater pro Tag 1 Mark Taschengeld. Typisch für ihn: Wir Kinder bekamen augenblicklich davon etwas ab. Jeder 30 Pfennig in der Woche.
Meine Mutter bekam nun Unterstützung von staatlicher Seite. Das Gehalt der Evangelischen Gemeinde ruhte während der Soldatenzeit. Ich hörte sie zu einer Bekannten sagen: "Die zahlen gut auskömmlich!". Mit Kindern sprachen meine Eltern ihr Leben lang nicht über Gelddinge, aber ich merkte, daß meine Mutter nun noch sparsamer wirtschaftete. Bald wußte ich auch warum. Wohl wissend, daß es im Krieg bald gar nichts mehr zu kaufen geben würde, nutzte sie die Abwesenheit meines Vaters um sich einen Traum zu erfüllen. Sie verkaufte unser altes Klavier, plünderte ihr und mein Sparbuch und erstand einen gebrauchten Ibach-Flügel. Sie war ungeheuer stolz auf dieses Instrument. Ihre materiellen Opfer dafür kann ich natürlich heute mehr würdigen als damals. Obwohl ich auch sehr gern auf dem neuen Instrument spielte, konnte ich jedoch den Verlust meiner 90 Mark auf dem Sparbuch nicht so schnell verschmerzen.
Viel später, 1965, durften meine Eltern als Rentner aus der DDR ausreisen und ihre Sachen nach der Bundesrepublik mitnehmen, darunter auch den Flügel. Sie verkauften ihn dann sofort und hatten ein bescheidenes Startkapital.
Doch zurück zum Jahr 1939.
Nach dem Blitzkrieg gegen Polen gab es über ein halbes Jahr keinerlei Kampfhandlungen, obwohl Polen und Frankreich schon am 3.September 1939 Deutschland den Krieg erklärt hatten.
Zur Bewachung von Kriegsgefangenen wurde die Kompanie meines Vaters Anfang 1940 nach Wustrau, nahe Neuruppin, verlegt. Im Sommer hörten meine Schwester und ich dort die melancholischen abendlichen Gesänge der Gefangenen, die in ihren abgerissenen, dunklen und erdfarbenen Uniformen hinter dem Stacheldraht unendlich traurig aussahen.
Um meinem Vater eine Freude zu machen in seiner Soldatenzeit, schickte ich ihm täglich eine Postkarte oder einen Brief. Man muß wissen: "Feldpost" war gebührenfrei!
Etwa ein Jahr nach Kriegsbeginn hatte der Superintendent unserer Freikirche meinen Vater von der Wehrmacht reklamiert, mit Erfolg. Ich besinne mich genau, wie ungern mein Vater die Uniform - den "Ehrenrock" - mit der Zivilkleidung tauschte. Es war ihm peinlich und ging gegen sein Verständnis von Ehre, Pflichtgefühl und Vaterlandsliebe, daß er zu Hause bleiben sollte, wo doch der Krieg inzwischen blutige und grausame Formen angenommen hatte.
Sowohl in meiner Berliner, wie auch später in der Leipziger Schule: Alle Väter, die Pfarrer waren, hatte man aus dem Krieg nach Hause geschickt. Wollte man beim "Endsieg" oder danach mit dem geistlichen Stand abrechnen, mit der eventuellen Begründung, man hätte ja nicht mitgekämpft?
Unvergeßlich ist mir der Heilige Abend 1939 geblieben. Nach der Christmette und der nachfolgenden Bescherung zu Hause stellte meine Mutter das Radio an. "Im Westen keine besonderen Ereignisse!", das war die gesamte Nachrichtensendung!
Ein friedliches Weihnachtsfest - mitten im Krieg. Leider, leider das letzte.
4. Es wird ernst im Krieg (1940 - 1942))
Bis zu den deutschen Invasionen im Frühjahr in Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und Frankreich war der Krieg weiterhin merkwürdig ruhig. Hinterher kann man von der "Stille vor dem Sturm" sprechen. Mein Onkel Albin war als Arzt an der "Westfront" stationiert, wo ein "Westwall" genau so unbezwinglich sein sollte wie die französische Verteidigungsanlage, die "Maginotlinie". Der Onkel sprach von einem Kaspertheater. Mal fielen ein paar einzelne deutsche Schüsse und es antworteten einzelne Gewehre von der französischen Seite. Es sei mehr ein schlechter Witz, meinte er.
Vom Kohlemangel und der Kälte in Berlin sprach ich schon, betroffen waren auch die Schulen. Zunächst wurde die benachbarte "Oberschule für Jungen" - so nannte man damals das Gymnasium - als Lazarett eingerichtet. Die Schüler mußten darum unsere "Oberschule für Mädchen" mitbenutzen. Damals achtete man streng darauf, daß sich Jungen und Mädchen ja nicht nicht im Gebäude begegneten. So wurde im Wechsel die eine Schule nachmittags, die andere vormittags unterrichtet. Wohlbemerkt mit einer Stunde Mittagspause, damit sich ja kein Pärchen traf.
Ende Januar war der Heizungskeller der Königin-Luise-Schule leer. In dem eiskalten Haus holten wir uns nur die Hausaufgaben und lieferten sie am nächsten Tag ab, auf losen Zetteln, denn auch Schulhefte waren Mangelware. Unsere sehr alte Klassenlehrerin war in dieser Zeit äußerst gereizt und verlor des öfteren die Geduld, verwechselte die Zettelstöße und schrie uns an. Besonders traf es immer Anneliese, die erst kurz vor dem Krieg aus Holland nach Deutschland gekommen war und die steile Sütterlin-Schrift nur schlecht beherrschte. Später wurde diese nur bei uns übliche Schrift aus der Schule verbannt. Als deutsche Truppen Holland überfielen, wurde Anneliese von den Klassenkameradinnen gehänselt, als "Feindin" und "Holländerin" beschimpft. Sie weinte oft. Wir befreundeten uns und später besuchte sie mich in Leipzig, nachdem ihr einziger Bruder auf deutscher Seite gefallen und ihre Mutter dadurch nervenkrank, d.h. schwermütig, geworden war.
In Mangel und Notzeiten tauchen Witzchen und Geschichtchen auf. Ich erinnere mich an folgende: Emmi Göring wedelt am Herd mit der Hakenkreuzfahne über einer trockenen Bratpfanne mit Kartoffelscheiben - beschichtete Pfannen gab es damals noch nicht. Verwundert fragt ihr dicker Ehemann, was der Blödsinn solle. Emmi antwortet: "Na, Du bist doch unter der Fahne fett geworden, vielleicht klappt das bei den Kartoffeln auch."
Das Winterhilfswerk, kurz "WHW" genannt, sammelte unter dem Motto: "Keiner soll hungern und frieren". Im Kriegswinter 1941/42, im unendlich weiten russischen Raum, spöttelten die Soldaten: "Keiner soll hungern ohne zu frieren!".
Dann erzählte man: Hitler, Göring und Göbbels schreiben ihre Wunschzettel. Der Führer möchte einen Mercedes haben, kurz einen "M". Göring einen Horch, "H". Göbbels wünscht sich auch einen Mercedes, also wieder einen "M". "MHM"! Aber wer soll mitten im Krieg so etwas bezahlen? Göbbels stellt den Wunschzettel auf den Kopf: Ach ja, das "WHW"!
Grotesk erscheinen mir heute die damaligen Versuche, die deutsche Sprache "rein" zu halten. Unser Deutschleher formulierte immer wieder: "Ein ungebildeter Deutscher benutzt Fremdwörter falsch. Ein halbgebildeter Deutscher benutzt Fremdwörter richtig. Der gebildete Deutsche jedoch ersetzt Fremdwörter durch gute deutsche Ausdrücke!"
So sprach man von "Ding- und Tu-Wörtern", aus der sauce wurde die Tunke, aus dem Trotteur der Bürgersteig.
Gleich zu Beginn des Krieges wurde allerorts die Verdunklung befohlen. Kein Lichtstrahl durfte abends und nachts aus Fenstern, Türen oder Läden dringen, damit feindliche Flugzeuge keinerlei Anhaltspunkte hätten. Einfache Jalousien oder Vorhänge reichten nicht. Es wurden zusätzliche Rollos gebastelt, Decken an die Übergardinen geklammert oder riesige Pappen festgeklemmt. Es brannten keine Straßenlaternen. Nun, Autos fuhren im Krieg ja sowieso fast keine. Alle Privatwagen mußten sofort im September 1939 für "kriegswichtige Zwecke" abgeliefert werden.
Mehrfach erschütterten mich Zeitungsberichte - schwarz umrandet -, die von vollstreckten Todesurteilen für Feindhörer berichteten. Das waren deutsche Menschen, die z.B. der BBC gelauscht hatten. Wie man die Hörer überführte? Zur Zeit der deutschsprachigen Nachrichten der BBC wurde im Haus plötzlich im Keller der gesamte Strom abgestellt.Sofort darauf klingelte an jeder Wohnungstür ein SS-Mann Sturm. Kaum waren die Männer in den schwarzen Uniformen im Dunkeln eingelassen worden, wurde im Keller von einem weiteren SS-Mann der Strom wieder eingeschaltet. Die Skalen auf den Radios leuchteten auf und man sah, auf welchen Sender das Gerät eingestellt war.
Meine Mutter lauschte auch den "Feindsendern", später durfte ich mithören. Aber peinlichst genau achteten wir darauf, daß der Sendeanzeiger sofort wieder auf "Berlin" gedreht wurde.
Im ersten Kriegswinter liefen wir noch Schlittschuh auf Tennisplätzen, die mit einer dünnen Eisschicht überzogen wurden. Auch Soldaten in Uniform vergnügten sich dort und wärmten sich die Hände am qualmenden Kanonenofen, der in der klapprigen Hütte am Rande der Eisbahn etwas Schutz vor der Kälte bot. Im Krieg durften Soldaten auch im Urlaub nie Zivilkleidung tragen.
Schrill tönten aus den scheppernden Lautsprechern die gängigsten Lieder der Zeit, wie "Erika" oder "Unter der Laterne" (Lilli Marleen).
Eine Qual war in jenem eiskalten ersten Kriegswinter jedes Schülervorspiel der "Jugendmusikschule des Konservatoriums der Reichshauptstadt Berlin". Die Geige meiner Schwester klang spröde und hielt nicht die Stimmung und meine klammen Finger auf grabeskühlen Klaviertasten wurden immer unbeweglicher.
Alle Kinder waren aufgerufen, ihren Beitrag zum deutschen "Endsieg" zu leisten. Das heißt schlicht und einfach: Wir sammelten Altstoffe, Papier, Stanniol, Lumpen und Knochen. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, wie man aus den übelriechenden Knochen der Schulhoftonne halbwegs duftende Seife machen könnte.
Auch Schweinefutter wurde gesammelt. Jeder Haushalt bekam ein rosa Pappschwein, darauf las man: "Ich fresse Kartoffelschalen, Gemüse- und Brotabfälle! Ich vertrage n i c h t Rasierklingen, Nägel, Schrauben und Papier!".
Auf dem Weg zur Klavierstunde hatte ich eine Buchhandlung gefunden, wo ich mir Abfallpapier und -verpackung für die Schulsammlung in großen Tüten abholen durfte. Meine Oma lachte über meinen Eifer, was ich ihr damals sehr übelnahm. Aber zu meinem Kummer schaffte ich es nie zu den drei besten Altstoffsammlerinnen zu gehören, die mit Buchpreisen belohnt wurden.
Jeden Montag ging unser freundlicher Biologielehrer durch alle Klassen, unrasiert, wie immer, mit einem struppigen Bart, was damals als völlig altmodisch galt. Später erzählte er uns, daß ihm im ersten Weltkrieg "von den Franzosen" einige Sehnen zerschnitten worden seien und er sich nicht alleine rasieren könne. Herr Vollger hatte jede Woche dasselbe Sprüchlein: "Heute kocht die Mutter zum ersten Mal die Sonntagsknochen aus. Morgen kocht die Mutter zum zweiten Mal die Sonntagsknochen aus. Aber am dritten Tag bringt IHR die Sonntagsknochen zur Schulsammlung!".
Während des Krieges sollte man Privatreisen möglichst vermeiden, denn "Räder müssen rollen für den Sieg" prangte in großer Schrift an jeder Bahnbrücke. Kleine Plakate mahnten zum Energiesparen mit einer pechschwarzen Gestalt, dem "Kohlenklau". Darunter las man. "Fasst ihn!". Briketts gab es sowieso nur auf Bezugsmarken, Zentralheizung war noch etwas sehr Seltenes. Zuteilung von Stromkontingenten und regelmäßige Sperrstunden für das Stadtgas habe ich allerdings erst nach dem Krieg täglich erlebt.
Warnungen vor Spionage gab es auch: Ein Telefonierender wurde mit der Unterschrift gezeigt "Achtung!Feind hört mit.". An Häusern und Zäunen las man in riesigen Lettern: "Deutschland muß siegen, sonst hat die Geschichte keinen Sinn!". Schon als Kind fragte ich mich, wieso hat Historie "Sinn" und warum sollte dieser "Sinn" nur im deutschen "Endsieg" liegen?
Im Erdkundebuch - das Wort Geographie benutzte man nicht - waren lange Abschnitte über den "Raubstaat" England und den "völkischen Schmelztiegel" USA. Im Berliner Lokalanzeiger wimmelte es von Berichten über die angeblich so miserable Moral der britischen Soldaten und - später dann - über die Brutalitäten der "Russen", die man als "Untermenschen" bezeichnete. Karikaturen des kleinen und dicken, zigarrerauchenden Churchills und des hageren Präsidenten Roosevelt füllten oft die Seiten.
Eiferer gab es im Krieg genug. So galt bei manchen Fanatikern ein Mädchen mit rot nachgezogenen Lippen als "undeutsch"."Und für so etwas opfern sich unsere tapferen Soldaten" hörte ich eine Frau zornig ausrufen.
Im Frühjahr 1940 überschlugen sich die Ereignisse. Sondermeldungen im Radio kündigten sich mit dem Thema aus Liszts "Les Preludes" an. Übrigens wurde der ungarisch-österreichische Franz Liszt in der Zeitschrift "Musikgeschichte" seinerzeit als Deutscher vereinnahmt.
Im April wurde Dänemark kampflos besetzt. Es schloß sich die Eroberung Norwegens, Hollands und Belgiens an und schon am 10.Mai wurde die deutsche Flagge in Paris gehisst. Mein kleiner Bruder war erst 6 Jahre alt, mein Vater und mein Onkel arbeiteten im Hinterland. Wie Mütter, Frauen und Bräute um ihre Söhne, Männer und Freunde bangten, habe ich erst ein Jahr später verstanden, am Sonntagmorgen des 21.Juni 1941. Ich holte in einer alten Emaillekanne unsere tägliche Milchzuteilung und hörte in dem kleinen Laden weinende Frauen klagen:"Jetzt fängt der Krieg auch noch im Osten an!". So erfuhr ich von dem Überfall auf die Sowjetunion. Ich war inzwischen 13 Jahre alt und kam weinend nach Hause. Man fühlte, daß Schlimmes bevorstand.
Aber 1940? Meine Mutter jubelte laut, als sie von der deutschen Besetzung von Paris erfuhr und befestigte sofort die Hakenkreuzfahne am Balkon. Fremde Frauen hätten sich glücklich lachend bei dieser Arbeit zugewinkt. Wie oft las man: "Was die Väter im ersten Weltkrieg nicht schafften" - nämlich die Eroberung der französischen Hauptstadt - "ist ihren tapferen Söhnen nun gelungen.".
Beflaggung wurde verordnet. Mein Opa, damals Mitte 60, hatte einmal da evangelische Gemeindehaus als ein "nichtöffentliches Gebäude" betrachtet und die Fahne nicht herausgehängt. Er bekam Ärger und sein Hinweis, daß im betreffenden Falle nur von der Beflaggung öffentlicher Gebäude gesprochen worden war, half ihm wenig. Erst nach einer größeren "Spende" für das schon erwähnte "Winterhilfswerk" ließ man ihn in Ruhe.
Im Herbst 1940 fielen die ersten Bomben in Berlin und "Vergeltungsangriffe" zerstörten englische Städte. Vorher hatte Feldmarschall Göring getönt:"Wenn auch nur eine feindliche Bombe auf deutschen Boden fällt, will ich Meier heißen". Darauf fragte man hinter vorgehaltener Hand:"Welches ist die modernste Stadt Deutschlands? - Leipzig natürlich. Da gibt es eine Hermann-Meyer-Straße!". Nach der Zerstörung von Coventry fragte unser Deutschlehrer uns, was der "Führer" dazu gesagt habe. Mit unseren Antworten nicht recht zufrieden zitierte er: "Ausradieren, der Führer sagt, ausradieren will ich die englischen Städte." . Ich vergesse nie den diabolischen Gesichtsausdruck des Dr.Schierer und seine Handbewegung bei "Ausradieren".
Mit den Flächenbombardements der letzten Kriegsjahre waren diese ersten Zerstörungen in Berlin nicht zu vergleichen. Immer wenn nachts Fliegeralarm war, begann die Schule am nächsten Tag 2 Stunden später. Die Erwachsenen bekamen 50 Gramm Bohnenkaffee als Sonderzuteilung. Meine Oma klagte damals, am schlimmsten sei, daß es im Krieg keinen ordentlichen Kaffee gäbe. Mir war damals diese Klage absolut unbegreiflich - heute kann ich meine Großmutter verstehen.
Im Herbst 1940 sammelte man noch Bombensplitter zur Erinnerung und im 2.Kriegswinter konnten die Schulen auch wieder geheizt werden.
Allgemein wurde im Herbst 1940 vermutet, das deutsche Heer setze nach England über. Warum dies nach den Erfolgen in Frankreich und dem Zurückwerfen der Engländer bei Dünkirchen nicht geschah, weiß ich nicht. Aber der deutsche U-Boot-Krieg begann in großem Ausmaß. Zumindest nahm man das an, wenn von sounsovielen Bruttoregistertonnen, die wieder versenkt worden seien, im täglichen "Wehrmachtsbericht" hörte. Bilder des erfolgreichen Leipziger U-Boot-Kommandanten Günter Prien gingen durch die Zeitungen. Es mehrten sich aber auch die ersten Traueranzeigen, wo vom "Heldentod für Führer und Vaterland" geschrieben stand und die Eltern oder Witwen von "stolzer Trauer" sprachen.
In der Berliner Gemeinde wurde der erste Trauergottesdienst von meinem Vater gehalten. Carl-Heinz Haydn, einziger Sohn seiner Eltern, war bei einem U-Boot-Gefecht ums Leben gekommen. Carl Weinitschke ebenso, dort waren es sechs Brüder. Im Verlauf des Krieges fielen vier weitere Brüder - der Jüngste bei der Verteidigung der Berliner Reichskanzlei 1945. Ältere Brüder von Mitschülerinnen wurden als "vermisst" oder "gefallen" gemeldet. Wir erfuhren es immer von der Klassenlehrerin wenn ein Mädchen fehlte. Und wenn dann die Schwester der Gefallenen oder Verschollenen nach ein paar Tagen wieder zur Schule kam, war man so verlegen und wußte nicht, was man zu ihr sagen sollte.
Fernsehen gab es noch nicht in Deutschland, Wandzeitungen waren nicht üblich. Wohl aber hingen in den Klassenzimmern riesengroße Landkarten, um die Kriegsschauplätze in Nordafrika oder auf dem Balkan zu zeigen.
Gewöhnt fast schon an "Sondermeldungen" der früheren Eroberungsfeldzüge, herrschte in der ersten Woche des Rußland-Feldzuges 1941 absolute Stille. Man fürchtete - oder hoffte, je nach Standpunkt -, daß dem Vordringen der deutschen Wehrmacht Einhalt geboten worden sei. Aber eine Woche nach dem Überfall ertönten dann Sondernachrichten in Fülle von unwahrscheinlichen Eroberungen, riesigen Gefangenenzahlen und massenhafter Erbeutung von Kriegsmaterial. Doch ein Siegestaumel an der "Heimatfront" - so nannte man Deutschland damals - blieb aus, anders als bei der Niederzwingung Frankreichs. Zu groß war die Angst, was alles noch folgen würde. Es ging das Gerücht, Hitler wolle die Sowjetunion erobern, dann bis Indien marschieren lassen, um dort die Engländer zu treffen, denen damals der Subkontinent noch unterstand. Als Dreizehnjährige konnte man sich nicht so recht vorstellen, wie das zu erreichen sei. Woher die Menschen nehmen, die das riesige Gebiet bewachen konnten? So viele Soldaten gab es doch gar nicht, die endlosen Grenzen zu verteidigen, wo doch viele Truppen jetzt schon halb Skandinavien, die Benelux-Länder, Frankreich und den Balkan besetzt hielten. Daß Generalfeldmarschall Rommel in Afrika mit seinen Truppen geschlagen wurde und die Armeereste in Gefangenschaft gerieten, diese Hiobsbotschaft ging - meiner Erinnerung nach - unter in den Ängsten oder Hoffnungen, die man gegenüber der Sowjetunion hatte.
Später erzählte mir unser Klempner, der in Afrika dabei gewesen war, nachfolgendes Erlebnis:
Zur Auszeichnung der Afrikatruppe nach den anfänglischen Erfolgen kam der Generalfeldmarschall Göring, Chef der Luftwaffe, zu Besuch. Er lobte die tapferen Soldaten und fragte in der Wüste, ob sie einen besonderen Wunsch hätten. Unser Klempner stand stramm und meinte:"Eine richtige Kartoffel würden wir gern mal wieder essen!". Als Göring wieder abgeflogen war, bekam der Mann für seinen Wunsch "Karzer", also einen Tag Soldatengefängnis. Begründung:"Ein deutscher Soldat hat nur einen Wunsch. Nämlich, daß Deutschland siegt und bittet nicht um Kartoffeln!". Als aber tatsächlich ein paar Tage später per Flugzeug einige Säcke mit dem beliebten deutschen "Erdgemüse" eintrafen, aßen alle gerne davon - auch der Offizier, der den Karzer verordnet hatte.
Ein Bekannter von uns war als ganz junger Mensch in Weißrußland von seiner Truppe abgekommen, war mehrere Tage in den schneebedeckten Weiten herumgeirrt, sich von ein paar Zwiebäcken und Schnee notdürftig ernährend. Als er halberfroren seine Kompanie wiederfand und kaum noch die Kraft zur "Meldung" beim zuständigen Feldwebel hatte, schnauzte dieser Mann:"Sie haben nicht anständige Haltung zum Gruß angenommen! Karzer - 3 Tage!"
5. Vorbei ist es mit dem Glauben an den Endsieg (1941 - 1944))
Kurz vor Weihnachten 1941 hieß es in der Schule, in der Zeitung, im Deutschlandsender:"Wollsammlung!". Die deutschen Soldaten hätten weder warme Socken, noch Unterwäsche, Ohrenschützer oder Winterstiefel. Da wurde gesammelt, gestrickt, verpackt. Alle anderen Vorhaben waren unwichtig, die Wollsammlung hatte Vorrang. Natürlich fragte sich jeder denkende Mensch (auch wir Mädchen aus der 7.Klasse), wieso man einen Feldzug nach Rußland beginnen konnte, ohne für eine Winterausrüstung zu sorgen. Hatte die deutsche Führung tatsächlich in dem Wahn gelebt, von Juni bis Anfang Dezember das Riesenreich erobern zu können? Viele Soldaten hatten Erfrierungen. Unser Nachbarssohn erzählte später, die Wollsammlung hätte sehr geholfen gegen die ungewohnt strenge Kälte, nur sei die ganze Aktion viel zu spät gestartet worden. Man fragte sich immer wieder hinter vorgehaltener Hand, ob denn die deutsche Heeresleitung noch nichts von Napoleons Scheitern vor Moskau gehört hatte? Doch trotz Kälte, Schnee, Schlamm und mangelnder Versorgung der Soldaten ging der Vormarsch weiter.
Im Sommer 1942 gab es seit langer Zeit auf die Brotmarken wieder Weizenmehl. Man habe schließlich Rußlands "Kornkammer", die Ukraine, erobert. Viel, viel später erfuhr ich, daß man die Bevölkerung der Ukraine hungern ließ, um die "Heimatfront" zu erfreuen. Daß der "Führer" solche Verordnungen traf, konnte man sich nicht vorstellen. Ja, als am Ende des Krieges erstmals Gerüchte über die Judenvernichtung die Runde machten, gab es Leute, die meinten:"Der Führer habe davon bestimmt nichts gewußt!".
Im Herbst oder Winter 1941 sah ich in der ehemals vornehmen Berliner Gegend am Bayrischen Platz einige ältere Menschen, die einen gelben Stern an der Kleidung trugen. Ich fragte meine Mutter, was denn das bedeute. Sie aber mahnte mich nur, mit ja keinem Menschen darüber zu reden. Vor allem sollte ich mich von der "kleinen Himmler" fernhalten. Wir hatten nämlich seit Kurzem die Nichte Heinrich Himmlers, des berüchtigten Reichsführers der SS, in unserer Klasse. Ihr Vater war von München nach Berlin ans "Reichserziehungsministerium" versetzt worden. Wie das Mädchen mit Vornamen hieß, ist mir entfallen. Sie war recht rund, gab als Religion "deutschgottgläubig" an, sprach mit starkem bayrischem Dialekt. Ich kann mich nicht besinnen, daß irgendjemand sich mit ihr über etwas Anderes unterhalten hätte, als über Schulereignisse.
Ich fand es widersinnig, daß meine Eltern mit uns im August 1941, also 6 Wochen nach Beginn des Rußland-Feldzuges, zum Ostseebad Horst in ein Fischerhaus fuhren. Die Ernährung war bescheiden, auf der Strandpromenade sah man verwundete Soldaten und der Strandfunk brachte die "Sondermeldungen".
Mein späterer Mann erzählte verwundert, daß die Ukrainer die deutschen Truppen keineswegs als "Befreier" gefeiert hätten. Dabei war uns doch immer erzählt worden, wie froh die Bevölkerung sein müsse, vom Bolschewismus los zu kommen.
Mein langjähriger späterer Lebenskamerad schilderte, wie er in Rußland mit der Dorfbevölkerung recht gut zurechtgekommen sei bei der Beschaffung von Salz und Brot. Ein russischer Kriegsgefangener diente als Dolmetscher. Vierzehn Tage nach der Organisation von Grundnahrungsmitteln, sollte im gleichen Dorf wieder etwas zum Essen aufgetrieben werden. Doch alle Türen waren fest verriegelt, niemand öffnete. Die SS hatte vorher im Dorf gehaust und habe die Babies aus den Wiegen gerissen und mit den Köpfen gegen die Wände geschleudert....
Im Schuljahr 1941/42 mehrten sich die Bombenangriffe auf Berlin, aber die Zerstörungen waren immer noch relativ gering, während in Westdeutschland die Städte schon grausigen "Teppichbombardierungen" ausgesetzt waren. Mein Vater hatte in der Bahn mit Menschen aus Krefeld gesprochen, die aus der brennenden Stadt geflohen waren, nur das Nötigste retten konnten und tagelang keine Bleibe oder eine Waschmöglichkeit fanden.
Neben all den Bezugsscheinen und Lebensmittelmarken wurde 1942 auch die Wohnraumbewirtschaftung eingeführt. Das heißt, niemand konnte sich ohne Erlaubnis der staatlichen Stelle ein Dach über dem Kopf suchen. Meine Großeltern bewohnten eine geräumige Dienstwohnung in Leipzig und der Opa hatte mit 72 Jahren bereits einen Schlaganfall gehabt. So griff meine Oma zu, als gewissermaßen "kurz vor Toresschluß" eine kleine Wohnung in Mölkau bei Leipzig noch zu ergattern war. Die Dienstwohnung der Evangelischen Gemeinde in Leipzig sollte aber der offiziellen Vergabe entzogen werden und so beschloß der Superintendent, daß wir nach Leipzig ziehen mußten und mein Vater sowohl die Berliner, als auch die Leipziger Gemeinde "bedienen" sollte, wie man sich ausdrückte.
Ich war sehr unglücklich über diese Versetzung, fand die sächsische Aussprache so lächerlich und meinte - typisch für ein Berliner Mädel - , in einem "Nest" wie Leipzig könne man gar nicht leben. Doch es stellte sich bald heraus, daß die Leipziger Gaudigschule im Lehrplan bereits viel weiter war, und daß man in der "Musikschule für Jugend und Volk" sich viel intensiver um unsere musikalische Ausbildung kümmerte als in Berlin. Auch wurde in Leipzig nicht für eine Evakuierung der Schüler aus der Stadt geworben, eine Aktion, die in Berlin schon auf Hochtouren lief. Und ich wollte doch nicht weg vom Klavier! Der Umzug nach Leipzig war für uns ein Glück, denn kurz darauf wurde die angemietete Wohnung in Berlin-Friedenau völlig zerstört und die Berliner Schulen wurden alle geschlossen. Eine Evakuierung wäre dann unumgänglich geworden. Auch der Gemeindesaal in Berlin brannte aus.
Mein Vater war im Sommer 1942 mit meinen beiden kleineren Geschwistern für 2 Wochen zu einem Weltkriegs-Kameraden nach Schleswig-Holstein aufs Land gefahren. Dort brauchte man keine Lebensmittelmarken, was meiner Mutter und mir zugute kam. Aber bei der Fahrt gerieten meine Angehörigen in einen schweren Angriff auf Hamburg. Wir hatten tagelang keine Nachricht, weil die Postverbindung zusammengebrochen war. Ich besinne mich, daß meine Mutter sehr besorgt und verzweifelt war, daß sie dieser Schleswig-Fahrt zugestimmt hatte. Mit mir fuhr meine Mutter in dieser Zeit nach Tabarz, wo in der kleinen Pension viele "Ausgebombte" einquartiert waren. Da es keinerlei Obst gab, sammelten wir täglich eine Stunde wilde Himbeeren und pulten dann anschließend eine weitere Stunde lang die Würmer aus jeder Frucht. So hatten wir unsere Vitamine, aber ich hätte gern auf diese "Madenentfernungsprozedur" verzichtet. Es hieß, alles frische Obst ginge in die Lazarette, die ja unglücklicherweise immer voller und belegter wurden. Zum Teil in Kasernen, aber auch in Fabriken wurden Notlazarette eingerichtet.
In Leipzig war im August 1942 noch keine einzige Bombe gefallen. Schülerkonzerte, in denen wir zu meinem Leidwesen immer in der BDM-Kleidung auftreten mußten, sowie neue Musikschulgründungen waren noch auf der Tagesordnung, ebenso Musikwettbewerbe. Ich wurde "Gausieger" von Sachsen und bekam eine Urkunde, daß ich nach dem Krieg am "Reichswettbewerb" teilnehmen dürfe - ein Wettbewerb, der natürlich nie mehr stattfand.
Der Direktor der Jugendmusikschule, Professor Paul Schenk, ermöglichte es meiner Schwester und mir, daß wir nicht mehr an den langweiligen "Heimabenden" teilnehmen mußten, sondern zur "Bannmädelspielschar" bzw. zur "Bannmädelsingschar" delegiert wurden. Musikalisch waren beide Klangkörper nicht viel wert, man ging in Lazarette und bot Volksmusik und einfache Lieder. Aber es war wesentlich angenehmer als der normale BDM-Dienst. Meine Mutter hatte erreicht, daß ich nur einmal pro Woche zum Chor mußte, weil ich in der Gemeinde den Organisten vertrat, der "im Feld" war. Das bedeutete, er war Soldat.
Der Krieg schien in Leipzig zunächst weit weg zu sein. Doch nach einem halben Jahr hörte und las man von der mörderischen Schlacht um Stalingrad. Da wurde mir - ich war inzwischen fast 15 Jahre alt - zum ersten mal klar, daß dieser Krieg bestimmt nicht mehr zu gewinnen war. Ich fürchtete, kein einziger Mann könne aus diesem Hexenkessel, dem Zweifrontenkrieg, gesund heimkommen. Die Nachricht, daß eine Berliner Mitschülerin inzwischen von der Schule gewiesen worden war, weil ihre Mutter Jüdin sei, erhöhte die schwelende Angst vor dem Ungewissen. Auch eine Schülerin aus der Parallelklasse mußte gehen. Kinderlähmung grassierte. Ein Mädchen aus der Gaudigschule starb, ein anderes kam mit schweren Gehbehinderungen nach Wochen wieder.
In Deutsch und Geschichte wurden die Kriegsereignisse besprochen und ich fragte, was denn die Menschen eigentlich im Frieden für Sorgen hätten. Wir hatten eine gütige Geschichtslehrerin, die mir erklärte, daß z.B. Krankheit oder Tod im Frieden schwere Qualen bedeuteten, aber mitten im Krieg erschien mir das nicht so tragisch.
Die Fliegeralarme wurden häufiger. Wenn im Radio von feindlichen Flugzeugen im Raum Merseburg/Halle gesprochen wurde, dauerte es nicht lang, bis die Sirenen ihr schauerliches Auf- und Ab-Geheul anstimmten. Da hieß es dann, oft mitten in der Nacht, den Trainingsanzug überziehen, alle Mäntel und Kleider in die Wäschekörbe und alles in den Keller schaffen. Meine Eltern hatten Koffer bereits mit den Familienpapieren, etwas Wegzehrung und den nötigsten Kosmetikartikeln gefüllt. Wie oft war man schlaftrunken in den ungemütlich kalten Vorraum des Heizungskellers geeilt. Es war der einzige Raum im Untergeschoß der "Evangelischen Gemeinde", der keine Fenster hatte. Zusammengedrängt fror und gähnte man. Ich versuchte, mir Lateinvokabeln und Goethe-Gedichte einzuprägen, denn unser Professor Friedrich, Deutsch- und Lateinlehrer, war gnadenlos. Inzwischen war ich 15 Jahre alt geworden und hatte nicht mehr das Privileg wie meine kleineren Geschwister, nach nächtlichen Störungen durch Bombenalarm erst später zur Schule zu müssen. 7.30 Uhr war im Sommer Beginn, 7.50 Uhr im Winter - und es war ein Fußmarsch zur Schule von 20 Minuten, wenn man schnell lief. 20 Pfennig für die Straßenbahn war im Familienetat "nicht drin".
Für jeden Leipziger ist der erste schwere Angriff auf die Stadt eine grausige Erinnerung.
Es war der 4.Dezember 1943. Kurz nach dem Geheul der Sirene - etwa 3.15 Uhr in der Nacht - krachte es. Die Wände schienen zu beben, das Licht ging aus. Zischen, Pfeifen, Knallen, Bersten draußen. Gegen den Mörtelstaub hielten wir uns nasse Tücher vor den Mund. Mein kleiner Bruder flüsterte:"Müssen wir jetzt alle sterben?". Nein, wir hatten Glück! Ob eine Entwarnung - ein langanhaltender Sirenenton - überhaupt noch gegeben wurde, weiß ich nicht mehr. Aber ich rieche förmlich noch den Gestank von brennenden und verkohlenden Brettern und Balken.
Bei uns waren im oberen Stockwerk alle Dachziegel weg, im Korridor war der blanke Himmel zu sehen. Der Fußboden war übersät mit Schmutz, Mörtel, Glas und Kittresten von den Fenstern. Auf den Gedanken, in die Schule zu gehen, kam an diesem Sonnabend niemand. Fenster mußten vernagelt, Schmutz beiseite geräumt werden. Dachziegel, soweit sie nicht zerborsten waren, hing mein Vater wieder ein.
Eigentlich sollten meine Schwester und ich nachmittags im Hochschulsaal ein Vorspiel haben. Da keine Straßenbahn fuhr, versuchten wir mit unserer Mutter in die Stadt zu laufen. Keine Feuerwehr war zu erblicken, dabei brannten so viele Häuser. Keine 500 Meter entfernt sahen wir einige Männer, die an einem großen Steinhaufen schippten. "Überlebende haben Klopfzeichen gegeben", hieß es. Man versuchte, die Eingeschlossenen zu befreien. Doch vergebens. Der Pfarrer, seine Frau und alle fünf Kinder starben unter den Trümmern des Pfarrhauses. Ich kannte eine Tochter dieser Familie. Wir hatten uns kurz vorher bei der "Nachtwache" in der Schule angefreundet. Es mußten tags und nachts immer vier größere Mädchen "Luftschutzdienst" absolvieren. Man schlief auf Feldbetten und mußte bei Alarm die Schulakten und die Schreibmaschine in den Keller tragen. Auch sollten wir im Notfall die Schulbrände löschen. Ich weiß nicht, ob wir unerfahrenen Mädels das gekonnt hätten. Unsere Schule wurde nie getroffen, auch später nicht, als sich die Angriffe auf Leipzig häuften.
An diesem 4.Dezember kamen wir nicht zur Innenstadt durch. Steine, Trümmer, Balken und gerettete Möbelstücke versperrten die Straßen.
Zurück zur Blumenstaße gelangt, berichtete mein Vater, es sei "Einer von der Partei" dagewesen; wir müßten das Haus räumen. In der Nähe läge ein Sprengstoff-Blindgänger. So zogen wir mit dem Allernötigsten in die Kellerküche des benachbarten Villenhauses. Auf dem weißgekachelten Fußboden lagen dann nachts auf einfachsten Liegen und Feldbetten, zum Teil nur auf Decken, total angezogen, Vater, Mutter und Oma der Familie Mund sowie die beiden Soldatensöhne. Dazu meine Eltern und wir drei Kinder. Nach vier kalten Nächten durften wir zurück in unsere eigene Wohnung. Glasscheiben waren fast nicht aufzutreiben, man mußte wieder vernageln und Decken vor den Fenstern festklemmen, denn es herrschte ja weiter das Gebot absoluter Dunkelheit.
Vielleicht mag es merkwürdig erscheinen, aber trotz all der Verwüstungen in Leipzig und der Toten unter den Trümmern ging der Schulunterricht nach 5 Wochen weiter, es wurde wieder Klavier geübt. Zwei Musikschüler in meinem Alter hatten nach dem Alarm in jener furchtbaren Nacht am 4.Dezember noch Kleidung aus der elterlichen Wohnung holen wollen. Der Angriff überraschte Bruder und Schwester, beide verloren ihr Leben.
Mit der Familie Mund war durch das gemeinsame Erleben der Kontakt freundschaftlich geworden. Kurz darauf bemerkte meine Mutter einen SA-Mann, der in die Mundsche Villa ging. "Es wird doch mit den Söhnen von Munds nichts passiert sein?". Kurz danach stand der vornehme und elegante Herr Mund weinend vor unserer Wohnungstür: "Karl-Arnold ist gefallen!". Mir kommen jetzt noch beim Schreiben die Tränen, wenn ich an den weinenden Mann denke. Der zweite Sohn überlebte zum Glück den Krieg. Er äußerte:"Solange der Russe noch jenseits der Weichsel steht, haben wir nicht verloren!". Aber der "der Russe" überschritt die Weichsel bald danach. Nun hatten eigentlich alle Mitmenschen, soweit sie nicht völlig vom "Endsieg"-Gefasel benebelt waren, die Gewissheit, daß wir den Krieg verlieren würden.
Ich malte mir schreckliche Bilder aus. Schließlich hatte man uns jahrelang vom "Untermenschen" berichtet, wie grausam er sei. Oft sah man nun "Fremdarbeiter", die auf der alten Arbeitskleidung die Aufschrift "Ost" tragen mußten. Diese unglücklichen Menschen waren zur Arbeit in Deutschland zwangsrekrutiert worden. Wie elend sie untergebracht waren, wie sehr sie schuften mußten und wie mangelhaft ihre Ernährung war, erfuhr ich erst viel später. Man hatte als Schülerin ja keinerlei Kontakt, sicher war das in den Munitionsfabriken anders.
Am 4.Dezember 1943 brannte die Oper aus, der Hochschulsaal wurde zerstört, das Schauspielhaus am Fleischerplatz und das Operettentheater am Dietrichring gingen ebenfalls kaputt. Noch stand das Gewandhaus an der Beethovenstraße - es wurde am 20.Februar 1944 zerstört und brannte völlig aus. Die Ruinen mahnten noch bis etwa 1965 an den Krieg, dann wurden die stehengebliebenen Mauern mit einer riesigen Eisenkugel zerschlagen und die Trümmer entfernt. Das Gewandhaus-Gelände wurde lange als Parkplatz genutzt, nun steht dort der Neubau für die Geisteswissenschaften der Universität.
6. Das Ende mit Schrecken (1944/45)
Trotz Krieg und Zerstörungen spielte die Oper weiter, in einem alten Variete-Gebäude, das dann später die "Musikalische Kömödie" wurde. Die Bevölkerung wurde um Sachspenden gebeten. Dort sah ich Beethovens "Fidelio".
Auch das Gewandhaus-Orchester unter Hermann Abendroth konzertierte im gleichen Bau, bis dann die Konzerte in das Filmtheater "Capitol" verlegt wurden.
Gegen Ende des Krieges gab es oft "Voralarm". Die Sirenen tönten wie bei der Entwarnung mit einem langezogenen Ton. Die Straßenbahn fuhr weiter und jeder eilte entweder schnellstens nach Hause oder in einen öffentlichen Luftschutzkeller, wozu auch die Untergeschosse des Leipziger Hauptbahnhofs gehörten. In Berlin wurden U-Bahn-Schächte als Not-Luftschutzkeller genutzt.
Bei Voralarm arbeiteten jedoch auch die kriegswichtigen Betriebe weiter.
Besucher der Gewandhaus-Konzerte im "Capitol" verlangten vom Dirigenten, daß bei Voralarm weitermusiziert werden sollte. Ich hörte Hermann Abendroth sagen:"Musiker sind keine Straßenbahn und keine Maschinen! Bei der psychischen Anspannung, die auch ein Voralarm auslöst,spielen wir nicht.".
Es gab in der Nähe des Zoologischen Gartens eine "Versorgungsstelle mit orthopädischen Hilfsmitteln für verwundete Soldaten". Diese Einrichtung wurde schon am 4.Dezember 1943 zerstört. Mein späterer Mann suchte nun mit seinem Zahlmeister eine neue Bleibe. Unser Schuldirektor der Gaudigschule (später Herder-Institut in der Lumumbastraße am Nordplatz), ließ zwei Klassenzimmer für diese Hilfsstelle freiräumen. Ich hatte durch den Musiklehrer die Erlaubnis bekommen, während der Luftschutzbereitschaft auf dem Flügel des Musikzimmers üben zu dürfen. Der spätere Vater meiner Kinder hörte mich dort die "Appassionata" von Beethoven spielen. Er suchte mich auf, weil er das Stück liebte, und so lernten wir uns kennen. Kurze Zeit danach wurde die Orthopädische Versorgungsstelle in eine Jungenschule verlegt, damit wir Mädchen nicht mit den Verwundeten zusammenkamen.
Für die Luftschutzbereitschaften gab es Geld. Für mich war das ungeheur viel: 1,20 Mark für 6 Stunden Tagesdienst, 2,40 Mark für die Nachtschicht. Ich habe viele "Wachen" gemacht, zumal sich die meisten anderen Mädchen nur sehr ungern zur Verfügung stellten. So hatte ich mein erstes selbstverdientes Geld, das für Noten und Klavierabendkarten ausgegeben wurde. Allerdings nur bis zum Sommer 1944. Da rief Reichspropagandaminister Dr.Göbbels zum "Totalen Krieg" auf, die Hochschule für Musik wurde evakuiert und später geschlossen. Fast alle Künstler wurden zu Kriegsdiensten verpflichtet.
Der Schulbetrieb ging weiter bis zum Januar 1945. Da kamen die unglücklichen Flüchtlinge aus Schlesien, Ostpreußen und dem "Warthegau" im heutigen Polen in Scharen in das zerstörte Leipzig. In unsere Klassenzimmer wurde Stroh geschüttet. Die Menschen hatten oft weder Wäsche zum Wechseln, noch die Möglichkeit sich zu waschen. Wir älteren Schüler mußten jeden Flüchtling registrieren. War das ein trauriger Anblick, diese verzweifelten alten Männer, die Frauen mit den Kindern. Ein zehnjähriger Junge war mir aufgefallen, ihm gab ich, was ich entbehren konnte. Später wurde er mit seiner Mutter und den kleineren Geschwistern nach Bayern verlegt. Wir hatten noch lange Briefwechsel. Auch noch nach dem Krieg bat mich der Junge um eine Schultasche, um Kleidung für die Mutter oder um etwas zu essen. Ich konnte so wenig geben, denn wir haben nach dem Krieg entsetzlich gehungert - viele Jahre.
Ganz deutlich besinne ich mich an den schicksalsschweren Tag des 20.Juli 1944. Meine Mutter und ich wollten im Radio irgendetwas von Beethoven hören, aber stattdessen erklang Musik von Richard Wagner. Meine Mutter fragte sich, ob etwas mit dem "Führer" sei - Wagner war sein Lieblingskomponist. Und sie hatte recht! Kurz darauf erfuhren wir aus dem Radio von dem Attentat auf Hitler, das er, nur leicht verletzt, überlebt hatte. Über die Hintergründe und Folgen dieses historischen Tages erfuhr man in den "gesiebten" Nachrichten absolut nichts. Ich habe die Zusammenhänge erst viele Jahre nach dem Krieg nachlesen und verstehen können.
Am 27.Februar 1945 brannte es zunächst in unserem Haus, aber mein Vater konnte mit Sand die kleinen Brandbomben löschen. Das Loch, schwarz eingebrannt, in der oberen Diele erinnerte noch lange an diesen fürchterlichen Angriff, wo wir wieder einmal gut weggekommen waren. Es war mittags und wir erschraken: Gegenüber brannte das Eckhaus mit der Kinderarzt-Praxis und die danebenstehende Doppelvilla, wo meine Schulkameradin Ursel Brugmann wohnte. Das notdürftig wiederhergestellte Haus mit der Kinderarzt-Praxis wurde später in die Arzträume meine Mannes umgewandelt, und von 1956 bis 1970 wohnte ich mit meinen Kindern dort.
Ich eilte also in das Haus, wo Ursel mit ihrer Stiefmutter lebte. Diese Frau hatte nur noch die linke Hand, die rechte Hand war bei einem Unfall vor Jahren abgetrennt worden. Frau Brugmann konnte also nicht zufassen. So standen wir beiden Sechzehnjährigen in dem ehemals vornehmen Haus, das Dach brannte und kein Tropfen Wasser im Haus, auch kein Sand. Bei jedem Angriff wurden ja auch die Zuleitungen abgeschnitten. An Löschen, wie es mein Vater praktizierte, war also absolut nicht zu denken. So räumten wir beide das Haus aus, alles kam in den Garten. Unheimliche Mengen Bücher, Noten, Bilder, Stühle, Sofa, Tische, Federbetten - alles was wir tragen konnten. Mein Vater kam dann und auch mein späterer Mann, denn jeder sah nach, ob die Lieben noch unversehrt waren. Die beiden Männer zerrten noch das Klavier aus dem brennenden Haus - dann wurde es zu gefährlich, denn die Decken drohten einzustürzen. Abwechselnd wurde dann nachts das gerettete Gut im Garten bewacht, was im Februar nicht sehr gemütlich war.
Meine Eltern hatten zwei alte Damen und eine dreiköpfige junge Familie aus dem anderen Teil der Doppelvilla in unsere Wohnung aufgenommen. Im Gemeindesaal türmten sich schnell die aus den brennenden Häusern gezerrten Möbel. Familie Brugmann kam bei einer anderen Schulkameradin unter. Auch die Wohnung meiner Freundin Annerose Neubert wurde völlig zerstört, dort half beim Retten von Teppichen, Porzellan und Kunstgegenständen Helga Liebe, die von Berlin nach Leipzig evakuiert war.
Die Lebensmittelrationen wurden kleiner und die Alarme häuften sich. Wir hörten im Keller ganze Kolonnen von Flugzeugen, die über Leipzig hinwegflogen. Später erfuhr man, daß es der entsetzliche Angriff auf Dresden gewesen war.
Der Unterricht wurde in Bibliotheksräume notdürftig umgelegt. Nebenfächer, wie Sport, Musik, Zeichen und Handarbeit, waren schon lange gestrichen.
Der "Volkssturm" wurde einberufen. Das war ein letztes Aufgebot: Männer über 60 waren dabei und Jungen kaum über 16. Wieder gab es viele verweinte Gesichter in der Schulklasse.
Aber es gab auch jetzt noch Witze. "Welches ist die wertvollste Truppe? Der Volkssturm! Er hat Gold in den Zähnen, Silber in den Haaren und Blei in den Gliedern!"
Gegen Ende des Krieges wurde vertraulich folgende Begebenheit weitergegeben:
Der Kabarettist Weiß Ferdl sei auf die Bühne gekommen mit einem Pfund Butter. "Nun, was ist das?" fragt er das Publikum. "Butter!". "Nein, das ist die Vergangenheit!". Weiß Ferdl geht ab und kommt mit 250g Margarine zurück."Was ist das?"."Margarine!"."Nein, das ist die Gegenwart!". Weiß Ferdl kommt zu drittenmal zum Auditorium mit einem Grasbüschel. "Die Zukunft, die Zukunft!" schreien die Leute. "Aber nein, das ist ein Grasbüschel! Das haben Sie da unten gesagt - für mich ist Gras Gras!".
Man muß wissen, daß dieser Komiker mehrfach wegen seiner kessen Texte Auftrittsverbot hatte, wohl auch mal im KZ deswegen gewesen sein soll.
Nach dem erwähnten schweren Bombenangriff auf Leipzig vom 27.Februar 1945 ist mir besonders der Tagesangriff vom 6.April in lebhafter Erinnerung. Wieder hatten wir persönlich Glück, überhaupt passierte in Gohlis nicht viel.. Aber von diesem Tag an bis weit nach Kriegsende hatten wir weder Wasser, Strom noch Stadtgas. Mein Bruder zog täglich los mit einem Waschkessel auf dem Handwagen zur Wasserstelle im Hof der Fabrik Bleichert. Man benutzte selbstgebastelte Kerzen aus Paraffinplatten. Gekocht wurde auf Holz oder Restbriketts. Und gerade dieser April war sommerlich heiß. Kein Mensch wußte, wie weit die Amerikaner vorgedrungen waren oder wo die russische Ostfront stand.
Die Ungewissheit endete am 18.April. Lautsprecherwagen fuhren durch Leipzig und gaben bekannt: Heute noch kämen die Amerikaner nach Leipzig. Die Bevölkerung solle Lebensmittelvorräte in den Keller mitnehmen und sich dort verschanzen. Hausfrauen sollten kochendes Wasser bereithalten, um eindringende Soldaten zu verbrühen. Die Lebensmittel seien von den Verkaufsstellen sofort auf vier Wochen im voraus auszugeben.
Ein Chaos entstand. Schlangen vor den Geschäften - man stand vier Stunden und mehr. Manche Händler wußten nicht, daß für einen Monat im voraus die Rationen auszugeben seien. Prügeleien vor den Läden, die überhaupt nicht soviel Vorräte hatten. Dazu in der Ferne Geschützdonner, es hieß, in der Grimmaer Gegend. Aber: Keine Fliegeralarme mehr!
Die Amerikaner zogen dann erst am 25.April kampflos in Leipzig ein. Ich wüßte nicht, daß jemand kochendes Wasser verwendet hätte, um sie abzuhalten.
Meine Mutter verbrannte im Küchenherd Hitlers Buch "Mein Kampf", was nicht nötig gewesen wäre. Aber wußte man das? In jedem Haushalt hatte auch ein "Führerbild" zu hängen, was schleunigst entfernt wurde.
Wir wohnten in der Blumenstraße sehr ruhig. Nur manchmal fuhr ein Jeep durch.
Man hatte soviel mit Anstehen nach getrockneten Kartoffelstückchen oder Hirse zu tun. Man fing an zu hungern und man hatte keine Ahnung von dem, was die Siegermächte besprochen hatten: Nämlich, dass Sachsen russisch werden sollte und dass Berlin von allen vier Siegermächten besetzt würde. Es herrschte auch Ungewissheit, ob Hitler noch lebte und ob der Krieg noch irgendwo weiterging. Es gab ja auch keine Zeitung und die Schule öffnete erst im Oktober 1945 wieder ihre Pforten.
Es begann die Zeit des Schwarzhandels, wo alte Babywäsche oder einstige Konfirmationsgeschenke zum Bauern aufs Land getragen wurden, um etwas zum Essen zu bekommen.
Am 8.Mai 1945 war ich in der total zerstörten Innenstadt, um zu erkunden, wo oder wann mein Musikstudium irgendwo fortgesetzt werden könnte. Ich traf einen gleichaltrigen Cellisten auf dem mit Schuttbergen überhäuften Königsplatz, dem späteren Wilhelm-Leuschner-Platz. "Du, heute ist der Krieg aus. Wir haben wieder Strom. Ich habe es vorhin gehört!". Ob diese Nachricht erfreute? Gewiss, die Bedrohung aus der Luft war vorbei, das war wohl erleichternd, aber Hunger und Hoffnungslosigkeit überwogen. Viele Menschen bangten um ihre Angehörigen - Post gab es ja auch nicht.
Und doch - meine Schwester und ich übten wieder. Das war gewissermaßen etwas, an dem man sich ein wenig festhielt.
Meins späterer Mann wurde von den Amerikanern als Oberarzt in deutscher Wehrmachtsuniform in der Uhlandschule in der Friesenstraße interniert, aber nach einigen Wochen entlassen.
Ende Mai, Anfang Juni verdichteten sich die Gerüchte, daß Sachsen "russisch" würde. Großer Schrecken, große Angst und noch größere Unsicherheit.
Der Wechsel von amerikanischer zu russischer Besatzung war fast lautlos. Am 1.Juli 1945 sah man vereinzelte Soldaten de Roten Armee, die sich in Gohlis unauffällig verhielten. Von diesem Tag an gehörte man zur "SBZ", der Sowjetischen Besatzungszone und ab dem 7.Oktober 1949 zur DDR, der Deutschen Demokratischen Republik.
BDM-Uniform und Bombenangriffe wurden schnell vergessen. Zunächst war Überleben und etwas gegen den Hunger tun die Hauptsache.
Was man damals aß als Delikatesse, darf ich vielleicht hier noch anfügen: Wasser wurde gekocht, eine geriebene Kartoffel hineingeben. Dann, so man hatte, ein paar Gartenkräuter zugefügt. Fertig! Pellkartoffelschalen wurden getrocknet, durch den Fleischwolf gedreht und dann auf dem Backblech breitgeschmiert. Wenn das Ganze getrocknet war, verwandelte es sich in "Knäckebrot".
In diesen Nachkriegsmonaten erfuhren wir zum ersten mal von den Greueltatan in den KZ, von der Judenvernichtung, von der Härte das Krieges. Zum Beispiel war vorher 1943 im Februar vom "heldenhaften Kampf unserer tapferen Soldaten bei Stalingrad" zu hören gewesen. Langsam bekam man ein Bild durch Heimkehrer, wie unmenschlich der Kampf um jede Mauer in der Stadt war, wie die Männer tagelang bei größter Kälte nicht aus den Uniformen kamen, wie sie sich in Erdlöchern zu vergraben suchten . Auch wie unendlich schwierig es war, sich als Soldat zu ergeben, denn solche Versuche wurden mit sofortiger Erschießung bestraft. Man hörte auch von jungen Männern, die in den letzten wirren Kriegstagen versuchten sich nach Hause abzusetzen, um aus der Kriegshölle zu fliehen. Viele wurden erwischt und sofort am nächsten Baum erhängt.
Noch immer roch es in den ersten Nachkriegswochen nach Verkohltem in Leipzig.
Abends war Sperrstunde. Das bedeutete, daß man ab 18 Uhr nicht mehr auf der Straße angetroffen werden durfte. Und trotzdem regten sich die Menschen, versuchten sich eine neue Existenz zu schaffen.
Mein Vater litt sehr unter der Demütigung, wie er es nannte, daß Deutschland wieder den Krieg verloren hatte. Meine Mutter, meine Geschwister und ich waren froh, daß der Spuk vorbei war.
Mein späterer Mann richtete sich seine erste Arztpraxis im Untergeschoß der "Evangelischen Gemeinschaft" ein. Anfangs wurde ich in seine Planungen mit einbezogen und so wandte ich mich gern der Zukunft zu.
Vielleicht mag sich der Leser wundern, daß ich die Landung der englisch-amerikanischen Truppen in der Normandie am 6.Juli 1944 bisher nicht erwähnte. Aber man war die ganzen Jahre so ängstlich gespannt, was an der Ostfront passierte, wie der russische Vormarsch enden würde und vor allem wo, so daß man zumindest bei uns die Kämpfe in Frankreich und auch die deutsche Gegenoffensive dort weniger beachtete. Durch die jahrelange Propaganda hatte man das Fürchten vor den sowjetischen Truppen verinnerlicht. Daß die Amerikaner in Leipzig für uns den Krieg beendeten, erfüllte die Menschen zunächst mit Erleichterung.
Da nun mein Verlobter im gleichen Haus arbeitete, wo wir wohnten, meinte mein Vater, daß eine baldige Heirat wegen der Gemeinde schicklicher sei. Vorher hatte er sich gegen eine zeitige Heirat gestemmt. Da ich erst 17 Jahre alt war, mußte mein Vater mit mir auf die nächste Polizeiwache gehen und dort sein schriftliches Einverständnis zur Hochzeit am 15.September 1945 geben.
Nachwort
Danach begann 1946 mein Musikstudium wieder. Zwischendurch legte ich als Gastschülerin an meiner alten Schule in der ehemaligen Klasse das Abitur ab.
Meine vier Kinder wurden geboren. Nach dem Staatsexamen und nach 2 Jahren zusätzlichem Privatunterricht bei Professor Steurer begann die Zeit der ersten eigenen öffentlichen Klavierabende, und ich erlebte die ersten Tourneen durch unser kleines Land.
1956 geschah der Suizid meines Mannes und ich mußte Vater, Mutter und Familienernährer zugleich sein. In dieser Zeit beschränkte sich mein Interesse (leider) ganz auf die Erfordernisse des Tages. Das wurde erst wieder anders, als meine Kinder aus dem Haus gegangen waren.
Heute verfolge ich mit Hoffen und Bangen die Entwicklung unserer Demokratie, aber auch die schier unglaublichen Fortschritte in Wissenschaft und Elektronik.
Helga Brachmann ist Pianistin. Sie arbeitete von 1961 bis 1975 als Korrepetitorin an den Städtischen Bühnen Leipzig und war von 1975 bis 1988 Lehrerin im Hochschuldienst an der Musikhochschule Leipzig. Heute ist sie im Ruhestand.
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