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Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

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Gedanken zu meiner Rente

Ein Bericht von Helga Brachmann, Leipzig

Ein Großteil der Familie saß fröhlich plaudernd beim Weihnachtsessen. "Da ist doch neulich eine alte Frau von einem losgelösten LKW-Doppelreifen auf dem Bürgersteig umgeworfen worden, die war sofort tot!" und mein ältester Enkel Matthias fuhr fort: "Wär das nicht ´ne prima Idee, mit der Rentnerschwemme fertig zu werden?"
Die jungen Leute lachten. Ich muß wohl ein erschrockenes Gesicht gezogen haben, denn beim Auflösen der Tafel flüsterte Matthias mir zu: "Oma, das mit der Rentnerschwemme war doch nur Spaß!" Aber er legte gleich nach: "Du mußt das verstehen! Ich muß für 2 Renter schuften, während Euch früher kein Geld für die Alten vom Gehalt abgezogen wurde!"
Nun, ich unterdrückte die Entgegnung, daß ich schließlich meine 4 Kinder allein großziehen mußte, bei ständiger voller Berufstätigkeit. Auch wollte ich die fröhliche Weihnachtsstimmung nicht verderben - und schwieg. Aber ich war traurig und ermahnte mich selbst: "Matthias hat nicht nachgedacht. Nimm´s nicht tragisch!"

Nach etwa 6 Wochen rief Matthias gegen Mittag an: "Na, Oma gib´s zu, ich hab` Dich aus dem Bett geholt! Ich will Dir Tobias für ein paar Tage bringen, er hat doch Winterferien! Weißt Du, Aloschka und ich wollen mal am Wochenende richtig ausschlafen, ins Kino gehen, mal in die Disko, uns eben mal vergnügen und ausruhen."
Selbstverständlich legte ich schnellstens alle Termine um und beschäftigte mich von früh 8 Uhr bis abends gegen 21 Uhr mit dem 11jährigen Urenkel: Spiele wie "Stadt-Name-Land", "Mensch ärgere Dich nicht" und zwei ausgiebige Zoobesuche, ein Harry-Potter-Film, Felswandklettern bei Sport-Scheck, Schlittschuhlaufen im ehemaligen "Kohlrabi-Zirkus", Juniortüten bei Mac Donald und Eisbecher in der Pinguinbar, Anhören von CD´s mit Technoklängen in Schallplattenläden.
Als Matthias seinen Sohn nach 5 Tagen wieder abholen wollte, hatte der noch keine Lust auf zu Hause: "Ich möchte noch bei Oma Brachmann bleiben." Aber Matthias drängte und so verschwand Tobias, um seinen Rucksack zu holen. Ich war mit meinem großen Enkel allein. "Na, Oma, was machst Du denn so den ganzen Tag? Ich würde an Deiner Stelle immer bis Mittag schlafen! Und kriegst Du denn Deine Rente überhaupt alle? Eure Intelligenzrenten wurden doch so hoch angesetzt, daß wir jetzt dauernd so viel zahlen müssen! Und 8 Stunden Wochenarbeitszeit - davon kann ich doch nur träumen! Mein Vater hat mir das erzählt."
"Also, Matthias, woher Dein Vater diese Weisheiten hat, weiß ich nicht. Er war ja nie an der Hochschule für Musik. Jedenfalls wurde ich mit 47 Jahren als "Lehrerin im Hochschuldienst" eingestellt. Das bedeutete 22 Wochenstunden Unterricht, Vorbereitungen auf wöchentlich neue Literatur der Studenten,einmal pro Woche Begleitung eines Vortragsabends, donnerstags Abteilungssitzung, dazu das Begleiten der Studenten bei Zwischenprüfungen, Examen, Probespielen und internationalen Wettbewerben. Und die Intelligenzrente bekam ich auch nicht! Ich habe meine Arbeit leidenschaftlich gern gemacht, aber das weißt Du ja!"
"Aber wieso bekamst Du keine Intelligenzrente?"
"Also, ich will Dir das erklären! "Lehrer im Hochschuldienst" war die unterste Stufe in der Hierarchie. Als ich etwa 1 Jahr an der Hochschule war, sprach mich mein sehr netter Abteilungsleiter, Herr B., an und versprach, er wolle bei der Hochschulleitung den Antrag stellen, daß ich Dozentin würde. "Das ist sehr nett von Ihnen" antwortete ich, "aber machen Sie sich gar nicht erst die Mühe! Eine Tochter, die illegal die DDR verlassen hat! Ein Sohn, der im Stasi-Gefängnis saß und dann ausgewiesen wurde! Da wird das nie etwas mit einer Dozentur!" Aber Herr B. war anderer Meinung: "Das hat doch mit Ihren Kindern gar nichts zu tun! Denken Sie doch: Nur 16 Wochenstunden Unterricht und dazu die Intelligenzrente! Beim Kollegen S., der doch auch spät vom Theater zu uns kam, hat es doch auch geklappt! Ich regle das! Sie bekommen jetzt zwei Hauptfachstudenten und dann müssen Sie viermal für eine Woche nach Rohrbach zur Schulung fahren!""
"Weißt Du" sagte ich zu Matthias, "irgendwie war es rührend, wie sich Herr B. für mich einsetzen wollte. Ich blieb skeptisch, bekam bald einige Termine zur Auswahl für die Schulungen. Nachdem ich mir den ersten Zeitpunkt ausgesucht hatte, sprach ich Herrn B. an, es war ein Vierteljahr vergangen. Herr B. war freundlich wie immer, bedeutete mir aber: "Frau Brachmann, irgendwie müssen Sie etwas falsch verstanden haben. Von Rohrbach und Dozentur war nie die Rede. Ich besinne mich nur, daß ich Ihnen versprach,daß Sie im nächsten Studienjahr auch mal Hauptfach geben dürfen!"
"Glaubst Du, Matthias, ich dachte, das kann doch wohl nicht wahr sein, daß der Mann das Gespräch über die Dozentur völlig vergessen hatte! Und ich sagte frei heraus, daß ich ja von Anfang Bedenken hatte und bei den derzeitigen politischen Verhältnissen nicht an die Beförderung geglaubt hätte. Daß ich ihm, Herrn B., das auch keineswegs verübelte. Aber mein Abteilungsleiter hatte es plötzlich sehr eilig - und so blieb Deine Oma "Lehrerin im Hochschuldienst" bis zum Eintritt in Rente 1988. Wohlgemerkt - nicht die Intelligenzrente! Meine jüngeren Kollegen wurden dann nach 1990 alle mit der Professorenwürde geschmückt. Nun, ich gönne es ihnen!"

Matthias war nachdenklich geworden und verabschiedete sich mit seinem Sohn. Plötzlich drehte sich mein Enkel auf dem Treppenabsatz noch einmal herum, lief zurück zu meiner Wohnung, gab mir einen kräftigen Kuß auf die Wange und raunte mir zu: "Oma, ich habe bei meinen Schwiegereltern in Petersburg erlebt, wie lieb man dort mit der Babuschka war. Nicht so kalt und verächtlich, wie man bei uns von den Rentnern spricht! Ich will auch immer liebevoll mit alten Leuten sein!"

Gibt es eine klangvollere Musik als diese Worte?



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