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Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

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Fünf vor zwölf im Jahr 1945

Ein Bericht von Gerda Lott, Leipzig

Wenn ich an die letzten Tage und Stunden des 1000jährigen Reiches zurückdenke, fallen mir nur noch wenige Episoden ein, einzelne Steinchen aus dem Mosaik jener Tage.

Der normale Kriegsalltag hatte sich verändert. So wurden jetzt häufiger Sonderzuteilungen an Lebensmitteln aufgerufen. Einmal waren es Eier, und nicht nur eins pro Kopf sondern mehrere. Da unser kleiner Haushalt inzwischen auf drei Personen angewachsen war, versprach das einen Eiersegen, der wie eine Verheißung war auf kommende friedliche Tage.

Ich hatte mich in eine Schlange vor einem Lebensmittelgeschäft eingereiht, als eine Lightning im Tiefflug auf uns zujagte. Mit Bordwaffen wurde auf Passanten geschossen. Im Nu waren wir hinter den großen Torflügeln einer benachbarten Hofeinfahrt verschwunden: bereit, sofort wieder auf die Straße zu stürzen, sobald die Maschine weit genug entfernt war, galt es doch seinen Platz in der Schlange zu behaupten.
Bei Alarm nahm ich neben Kind und der Dokumententasche auch die Eier mit in den Keller. Jüngere mögen darüber lächeln. Wer aber kann in einer Zeit des Überflusses und der sorglosen Verschwendung ermessen, was uns damals eine Schüssel voller Eier bedeutete.

Wie in der Antike war auch in unserem Haus die Tragödie mit einem Possenspiel verknüpft. Hauptdarsteller war ein grämlicher Hausbewohner, der meinen höflichen Gruß kaum erwiderte. Als sich die Amerikaner dem Westen von Leipzig näherten, stellte er mich im Treppenhaus und belehrte mich über meine Pflichten als deutsche Frau und Mutter: nämlich von nun an Tag und Nacht Töpfe mit siedendem Wasser bereitzuhalten, um sie im gegebenen Moment den Amerikanern über die Köpfe zu gießen. "Noch ein Verrückter", werde ich wohl gedacht haben, denn er war in meinem Umkreis nicht der einzige, der noch immer an den Endsieg glaubte.

Wir lebten in einem Zustand der Ungewißheit - wie lange, weiß ich nicht mehr - als das Telefon klingelte. Ein Arbeitskollege und guter Freund rief von seinem Haus an der Pfingstweide an. "Lott", schrie er, "die Amerikaner sind da!" Er berichtete von der gelösten Stimmung der Bewohner; von den Häuserfronten, die weiß wären von herausgehängten Tischtüchern und Bettlaken; von dem farbigen Offizier, der bei ihm in der Stube säße. Dann war es still - die Leitung war abgeschaltet.

Bei uns auf der Delitzscher Straße ging der Krieg weiter. Ich stand mit meinem Mann hinter dem Zaun am Haus und sah den deutschen Soldaten nach, die - einzeln oder in kleinen Gruppen - stadteinwärts liefen. "Zum Völkerschlachtdenkmal" entgegneten sie auf unsere Frage. Aus den Häusern hatten sie die dort abgestellten Handwagen geholt und sie mit ihrer Ausrüstung beladen.
Ich kannte die deutschen Truppen nur von Plakaten und aus der Wochenschau, wo sie siegreich auf Panzern vorrücken; hier schleppen sich erschöpfte Männer zum nächsten Kampf und ziehen kleine Handwagen hinter sich her.

Ein Soldat trat von der Straße zu uns. Er hatte ein Anliegen: Er habe seinem Vater ein paar Zeilen geschrieben. Der wohne in der Dammstraße in Markkleeberg. Ob wir den Brief dort abgeben könnten? Ich war seit meiner Kindheit im ehemaligen Oetzsch wie zu Hause und nahm den Brief an mich.
Wir berichteten dem Soldaten von dem Anruf aus Leutzsch und schlugen ihm vor, sich bei uns im Keller zu verstecken; Zivilkleidung würde er von meinem Mann erhalten. De Soldat stand noch unschlüssig, als plötzlich ein Schuljunge auftauchte und schrie, seine Mutter habe alles gesehen; er zeigte auf das gegenüberliegende Haus, wo sich eine Frau aus dem Fenster beugte und zu uns herüberstarrte. "Sie wollen einen Soldaten verstecken. Das melden wir!" Der Soldat verließ uns, ohne ein Wort zusagen.

Epilog
Es dauerte einige Zeit, bis ich mit dem Rad in die Dammstraße fahren konnte. Das Haus schien wie ausgestorben. Als sich auf mein wiederholtes Klingeln niemand meldete, steckte ich den Brief in den Kasten.

 



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