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Entscheidung in Moskau veränderte auch unser Studium in Leipzig

Ein Bericht von Dr. Rolf Beyer, Leipzig

Als Fernstudent erwarb ich von 1961 bis 1966 an der Uni - damaliger Name "Karl-Marx-Universität Leipzig" - die Voraussetzungen, um mich beruflich weiterentwickeln zu können. Da wir Fernstudenten in den verschiedensten Bereichen der Wirtschaft tätig waren und "Industrieökonomik" an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät studierten, diskutierten wir oft den Inhalt des Unterrichts im Vergleich zur Praxis. Ständig wurden wir mit dem grundsätzlichen Unterschied zwischen der Theorie einerseits und den tatsächlichen Erfordernissen in der Wirtschaft andererseits, konfrontiert.

Kurz zur damaligen Situation in der DDR
Die Planwirtschaft legte allen Betrieben enge Fesseln an. Das ging soweit, dass auch absolute Nebensächlichkeiten übergeordnete Organe entschieden. So wurde jegliche Kreativität erstickt. Es gab viele gute Forschungsergebnisse und auch überall Verbesserungsvorschläge der Werktätigen, aber die Umsetzung in der Praxis konnte meist nur punktuell oder gar nicht erfolgen. Die Gründe hierfür waren notwendige Genehmigungen von oben oder fehlende Materialien. Hinzu kam, dass von zentraler Stelle immer wieder entschieden wurde, neuentwickelte moderne Maschinen - die damals nicht selten mit zu den Besten in der Welt gehörten - zu exportieren, weil dringend Devisen benötigt wurden. Eine der schlimmsten Folgen war, dass der Maschinenpark der eigenen Industrie veraltete. Über die Steigerung der Arbeitsproduktivität wurde viel gesprochen, aber nichts Entscheidendes dafür getan. Das zentralistische System lies eine durchgreifende positive Entwicklung nicht zu.

Wirtschaftsreform sollte Bestandteil unserer Ausbildung werden
Als Studenten stellten wir uns immer wieder die Frage, was grundlegend verändert werden muss. Plötzlich hörten wir, dass eine Wirtschaftsreform vorgesehen ist. Diese wurde unter dem Namen "Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NÖS) bekannt.

Die Entwicklung des "Neuen Ökonomischen Systems" erfolgte auf Initiative von Walter Ulbricht. Es ging darum, die politisch motivierten Steuerungskriterien durch wirtschaftliche Leistungskriterien zu ersetzen und so die dringend erforderlichen Innovationen und Strukturveränderungen in der Volkswirtschaft zu ermöglichen. Es sollte Schluss gemacht werden mit der These vom Vorrang der Politik gegenüber der Ökonomie. Das Ziel war, dass künftig die ökonomischen Aufgaben den Vorrang haben. Die Eigenverantwortung der Betriebe sollte erhöht und die zentrale Planung und Leitung reduziert werden. Die Grundsätze und die Wirkungsweise wurden auf höchster Ebene beraten. An der Basis wusste damals aber keiner etwas Näheres.

Dann kam für uns der große Tag. Wir Fernstudenten erhielten die Einladung zu einem Wochenendseminar. Bei der Vorbereitung erfuhren wir, dass wir uns dort von der bisherigen Lehre des zentralistischen Systems verabschieden und mit den Inhalten des "Neuen Ökonomischen Systems", dass den Betrieben größere Entscheidungsfreiheit einräumt, vertraut machen werden. Da es nicht nur um eine Kernfrage des Studiums, sondern vor allem um die Grundfrage bei der täglichen Arbeit ging, warteten wir alle voller Spannung auf das Wochenendseminar, das sich sonst bei uns keiner großen Beliebtheit erfreute.

Als es so weit war, fuhren wir am Freitag mit Bussen in ein Ferienheim, das von Leipzig nicht weit entfernt war. Nachdem wir unsere Zimmer bezogen hatten, nahmen wir mit viel Schreibzeug ausgerüstet, überpünktlich im Unterrichtsraum Platz. Aber es ging nicht los. Zuerst wurde mitgeteilt, dass die zuständigen Dozenten bald kommen, da es ja nicht weit ist. Dann hieß es, sie müssen noch an einer sehr wichtigen Beratung teilnehmen und können erst am Sonnabend anreisen. Aber auch am Sonnabend kam niemand und wir wurden auf Sonntag vertröstet. Es geschah nichts. Obwohl wir mit anderen Dingen beschäftigt wurden, gab es nur ein Gesprächsthema. Der Buschfunk hatte gemeldet, das NÖS darf nicht eingeführt werden. Obwohl wir noch nicht wussten ob es stimmt, gab es Diskussionen, die damals für eine Exmatrikulation aller Beteiligten ausgereicht hätte. Es passierte aber nichts.
Wie wir später feststellen mussten, hatte der Buschfunk richtig berichtet. Was war passiert?

Sieg der Vertreter des zentralistischen Systems
Das NÖS hatte Walter Ulbricht, mit Rückendeckung des reformfreudigen sowjetischen KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow, entwickeln lassen. Es war eine radikale Änderung des bisherigen wirtschaftlichen Kurses und ein Schritt in Richtung "sozialistische Marktwirtschaft". Parallel zu den wirtschaftlichen Veränderungen wollte Ulbricht die Jugendpolitik und damit die FDJ, für die Erich Honecker verantwortlich war, völlig erneuern und alle für diese Jugendpolitik Verantwortlichen durch neue Kader ersetzen lassen. Honecker, der seine Chance Nachfolger von Ulbricht zu werden schwinden sah, intrigierte mit seinen Verbündeten nun voll gegen Ulbricht. Zu dieser Zeit gab es in Moskau den Sturz von Chruschtschow durch Leonid Breschnew, der nun als neuer erster Mann der KPdSU, mit dem Ziel der Aufrechterhaltung des zentralistischen Systems, die weitere Entwicklung bestimmte. Ulbricht fand deshalb von Anfang an keinen richtigen Kontakt zu Breschnew. Der neue erste Mann in der UdSSR hatte aber eine besondere Beziehung zu Honecker, die dieser ausnutzte. So gelang es Honecker, nachdem er eine Entscheidung von Breschnew inszeniert hatte, die neue Wirtschafts- und Jugendpolitik rückgängig zu machen und Ulbricht später zu stürzen.

Auswirkungen auf unser Studium
Als wir Fernstudenten unser Wochenendseminar zum NÖS durchführen wollten, war Honecker gerade aus Moskau zurückgekehrt und brachte die Entscheidung mit, dass die Einführung des "Neuen Ökonomischen Systems" zu stoppen ist. Daraufhin wurde im Studium über das NÖS nicht mehr gesprochen und die Dozenten, die uns mit dem "Neuen Ökonomischen System" vertraut machen wollten, haben wir an der Uni nicht wieder gesehen.

So wurde in Moskau auch über den Inhalt der Lehre und den Lehrkörper unserer Fachrichtung an der Uni Leipzig entschieden.

Wir Studenten mussten uns - ob das gefiel oder nicht - weiter mit dem zentralistischen System beschäftigen, da wir beruflich das Diplom benötigten.

Anmerkungen
Der Begriff "Neues Ökonomische System" wurde später in "Ökonomisches System" verändert und als Bestandteil der zentral geleiteten Planwirtschaft definiert.

Das "Neue Ökonomische System" wurde vor allem von Erich Apel und Günter Mittag ausgearbeitet. Apel erschoss sich später, Mittag drehte sich um 180 Grad und wurde Honeckers dienstbeflissener Erfüllungsgehilfe.



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