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Wie die SA das Leipziger Volkshaus "eroberte"

Ein Bericht von Gerda Lott, Leipzig

Das Volkshaus steht in der ehemaligen Zeitzer Straße, Teil einer alten Handelsstraße, die in Nord-Süd-Richtung verläuft und am Connewitzer Kreuz endet.
1933 wurde sie in Adolf-Hitler-Straße umbenannt und nach Kriegsende in Karl-Liebknecht-Straße, in die "Karli".
Zwei Gebäude, beide im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts errichtet, gaben ihr ein besonderes Gepräge: das Haus des Deutschen Handlungsgehilfenverbandes mit seiner prächtigen Kuppel und das Volkshaus mit seinem hohen Turm.
Im März 1920 wurde das Volkshaus während des Kapp-Putsches in Brand gesteckt. Ich konnte von der Meusdorfer Straße, die etwas höher liegt, das brennende Gebäude im nordwestlichen Teil der Stadt sehen.
1923 war das Volkshaus wieder aufgebaut, größer und schöner als zuvor. Darin hatten Gewerkschaften und der SPD nahe stehende Organisationen und Vereine ihre Geschäftsräume. Knapp 10 Jahre später - ich war inzwischen Sekundanerin und Mitglied des Schülerbundes geworden - hielten wir hier unsere Versammlungen ab. Nach dem 30. Januar 1933, dem Tag an dem der Reichspräsident von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte, trafen wir uns nur noch in einer Privatwohnung. "Nur vorübergehend" versicherten wir uns gegenseitig, denn wir waren fest überzeugt, dass die Regierung Hitlers in dem turbulenten politischen Geschehen jener Zeit nur eine Episode bleiben würde.
An einem Vormittag in der ersten Märzhälfte 1933 lief ich, aus der Innenstadt kommend, die Zeitzer Straße entlang. Es herrschte das übliche geschäftige Treiben, nichts deutete auf etwas Außergewöhnliches hin, bis ich vor dem Volkshaus mehrere der großen Mannschaftswagen des Überfallkommandos der Polizei entdeckte. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite hatten sich Gruppen von Passanten gebildet, die erregt miteinander diskutierten. Ich stellte mich dazu, "das Volkshaus wird von der Polizei durchsucht", hörte ich. Und die Polizei war fündig geworden; sie hatte den Selbstschutz ausgehoben, jene Freiwilligen, die nachts Gebäude und Einrichtungen der SPD bewachten, um sie vor Überfällen und Zerstörungen durch die SA zu bewahren. Hinter einem der großen Fenster an der Frontseite des Gebäudes konnte ich die jungen Männer sehen, die man hier zusammen getrieben hatte. Sonderlich schienen sie von der Aktion nicht beeindruckt zu sein, sie lachten und winkten uns zu.
Einen erkannte ich, er wohnte auch in Connewitz, ganz in meiner Nähe. Und noch eine Information schnappte ich auf: die SA wolle heute Nachmittag das Volkshaus besetzen.
Als ich am Nachmittag an die Sophienstraße, der heutigen Shakespeare Straße kam, versperrte mir eine Menschenmenge den Weg. Ich stieg auf den Sims eines Kellerfensters und konnte so ein Stück der Brau - und der Zeitzer Straße überblicken. Beide waren abgesperrt. Die leeren Straßen und die schweigende Menge dahinter, das war ein Anblick, der den Atem stocken ließ.
Dann war Musik zu hören - sie kamen. Eine Kolonne SA-Männer marschierte die Braustraße herauf, voran eine Kapelle und die Hakenkreuzfahne. Zögerlich hoben wir den Arm zum Deutschen Gruße, als sie vorüber getragen wurde. Das hatten wir in den wenigen Wochen nach dem 30. Januar schon gelernt.
Die Formation schwenkte in die Zeitzer Straße ein und verschwand nach nochmaligem Schwenk im Volkshaus. Langsam zerstreute sich die Menge, die Absperrungen wurden aufgehoben und der Verkehr begann wieder zu rollen.
Ich hatte an diesem Tag ein Refugium verloren, wo ich mit Gleichaltrigen und Gleichgesinnten zusammenkam, wo wir uns die Köpfe heiß geredet hatten um das politische Geschehen, doch das wurde mir erst später bewusst. y
Das Volkshaus blieb weiterhin ein Haus der Gewerkschaften: im Dritten Reich saß hier "Die Deutsche Arbeitsfront"; zu Zeiten der DDR der 1945 gegründete "Freie Deutsche Gewerkschaftsbund; und heute haben hier der 1949 in den Westzonen gegründete "Deutsche Gewerkschaftsbund" und zwei seiner Industriegewerkschaften ihr Domizil.
Als ich in diesem Sommer nach mehr als 60 Jahren das Volkshaus wieder sah, stand ich verblüfft vor dem vertrauten Gebäude - der Turm war weg! Er wurde - wie ich später erfuhr- bei einem Bombenangriff zerstört und ist nicht wieder aufgebaut worden.

 



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