uni

Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

Berichte über Erlebnisse

Was wir wollen | Berichte schreiben | Chronik | Aktuelles | Impressum

Ich wollte es erst nicht glauben
- Erfahrungen mit Stasi und IM anlässlich eines Familientreffens -

Ein Bericht von Helga Brachmann, Leipzig

Die in diesem Bericht angeführte wörtliche Rede hat sich mir seinerzeit so eingeprägt, dass ich sie für authentisch halte.
Leipzig, 2004/2005

Nie hätte ich es als "normale DDR-Bürgerin" für möglich gehalten, was für einen Aufwand Behörden treiben könnten wegen eines Familientreffens! Im Frühjahr 1984 hatten zwei meiner Enkel Jugendweihe und eine Tochter hatte zum zweiten Mal geheiratet, da lag der Gedanke an ein Familientreffen zu Pfingsten nah, zumal mein Geburtstag auch noch in diese Zeit fiel. Es würden meine beiden Töchter aus Leipzig bzw. Winterdorf bei Meuselwitz kommen mit ihren Familien und für meine jüngste Tochter aus dem Westerwald mit Ehemann und den Kindern würde ich schon die Einreiseerlaubnis bekommen! Seit 2 Jahren gab es eine Amnestie für Republikflüchtige und die junge Familie war schon einmal in Leipzig gewesen. Ja, und mein Sohn? Der würde natürlich leider wieder nicht dabei sein, dachte ich. Bereits seit 7 Jahren versuchte er, als MESSEGAST von Westberlin aus kurz nach Leipzig zukommen, und jedes Mal war er bei der Paßkontrolle sofort wieder nach Westberlin zurückgeschickt worden, wohin er 1977 direkt vom Stasigefängnis aus in Hohenschönhausen gebracht worden war. Es schien mir sinnlos, für ihn eine Einreise zu beantragen..

Vielleicht 5 Wochen vor Pfingsten überraschte mich mein Sohn im Brief mit der Mitteilung, wenn er schon nicht selbst zum "Pfingsttreffen" kommen könne, würde er seine jetzige Lebensgefährtin, die US- Amerikanerin SUSI, gewissermaßen als seine Vertretung schicken. Susi habe die nötigen Schritte eingeleitet.

Einen Tag später rief ein "Genosse Berger" an von der SED Bezirksleitung, er wolle mich sprechen. "Aha", dachte ich, "das wird wegen dieser Susi sein". Er wolle mich in meiner Wohnung besuchen, da könnten wir ungestörter reden..

Pünktlich klingelte Herr Berger, ein stattlicher Mann. Hereinbitten, betrachten meiner Bilder im Zimmer, anbieten einer Tasse Kaffee. "Sie fragen mich ja gar nicht, warum ich Sie sprechen will" eröffnete Herr Berger das Gespräch. "Nun, mir ist schon klar, warum Sie mich sprechen wollen, wo doch die Partnerin meines Sohnes hierher kommen möchte zu unserem Familientreffen! Und da sie von Haus aus US-Amerikanerin ist, werden Sie Fragen haben. Aber ich muss Sie enttäuschen, ich kenne ja die junge Dame noch gar nicht!" Herr Berger war überrascht. "Davon weiß ich ja gar nichts!" Nun war ich erschrocken! "Aber - warum besuchen Sie mich dann?" "Ihr Sohn hat an den Genossen Honecker geschrieben, dass er zum Familientreffen kommen möchte, und wir wollen ihm das erlauben!" Jetzt war es an mir, freudig überrascht zu sein! Gab es noch kleine Wunder? Mein Gegenüber fuhr fort und fragte: "Wo findet das Treffen statt? Wer kommt alles?" Ich versicherte, dass nur die engste Familie käme und nannte das Lokal. "Also, Sie müssen garantieren, dass Ihr Sohn außer mit der Familie mit k e i n e m Menschen hier spricht! Niemand darf wissen, dass er Pfingsten kommt. Hier kennen ihn zu viele, wir wollen keinen öffentlichen Auflauf! Ihr Sohn darf auch keine öffentliche Veranstaltung besuchen. Er darf Pfingstsonntag früh einreisen und muß Pfingstmontag 24 Uhr unsere Republik verlassen haben. Teilen Sie das Ihrem Sohn mit. Irgendwelche Abweichungen von den Auflagen können sehr unangenehm für Sie werden. Auf welchem Weg verständigen Sie Ihren Sohn?" "Nun, ich schreibe gleich!" "Als Westberliner muss Ihr Sohn die Einreise beantragen!" "Ja, aber, ich fürchte die Ablehnung!" "Keine Sorge, das geht in Ordnung! Ach so, teilen Sie Ihrem Sohn ausdrücklich mit, dass aber auch niemand in Leipzig von seinem Besuch erfährt!"

Herr Berger verabschiedete sich. Wie freute ich mich! Nach insgesamt 11 Jahren würde ich alle meine 4 Kinder auf einmal um mich haben! Und die Geschwister hatten sich ja auch untereinander z.T. Jahre nicht gesehen! Doch ich war auch ängstlich und stand am Pfingstsonntag nur mit ´´Bauchschmerzen´´ hinter der Gardine. Endlich ein "Westwagen"! Ich traute mich nicht, dem Sohn und der Freundin auf die Straße entgegenzulaufen, es war eine stille Sackgasse, jeder kannte hier jeden. Endlich die herzliche Begrüßung und Umarmung! Susi - die musste man einfach gleich lieb haben, ein stilles Mädchen - mit fabelhaften Deutschkenntnissen.

"Also, Mutter, das will ich mal gleich loswerden! Dass ich Deinetwegen meinen guten Kumpel Cäsar anschwindeln musste, das liegt mir schwer im Magen!" "Aber wieso denn?" "Ja, Cäsar hat mich in Berlin angerufen. Kuno, sagte er, ich höre, Du kommst nach Leipzig, wann können wir uns sehen? Und Deinetwegen musste ich schwindeln!" "Aber Chris, doch nicht meinetwegen, das sind doch die Auflagen, für die ich gerade stehen muss. Aber wieso weiß bzw. wusste Cäsar von Deinem Kommen?" "Keine Ahnung, aber Deine verdammte Behördenangst hasse ich!" Viele Jahre später - das darf ich hier einfügen - erfuhr mein Sohn, dass "Cäsar" der informelle Mitarbeiter der STASI war, der meines Sohnes Bemerkungen seinerzeit der Stasi mitgeteilt hatte und die Stasi hatte Cäsar auch gebeten, meinen Sohn mit seinem Anruf in die Falle zu locken - und mich gleich dazu. Cäsar hatte den Auftrag von der Stasi bekommen, herauszufinden, ob mein Sohn wirklich den Besuch verschweigen würde.

Nun, langsam beruhigte sich mein Sohn. Aber da kam der nächste Schreck: "Mutter, ich habe mir in Westberlin Karten für heute für die Pfeffermühle besorgt, da gehe ich mit Susi hin! Wir haben nachher das gemeinsame Mittagessen mit der ganzen Familie, gemeinsamen Kaffee und essen dann noch Abendbrot, na und dann müssen doch meine Schwestern ihre kleineren Kinder ins Bett bringen, da löst sich doch sowieso die Familie auf und morgen sehen wir uns ja noch einmal alle!" "Aber Chrissi, ich musste doch versprechen, dass Du keine öffentliche Veranstaltung besuchst! Mach es mir doch nicht so schwer! Du weißt doch, dass ich Auflagen erfüllen muss!" Mir liefen schon die Tränen, nun, und nach einer gewissen Zeit brummelte mein Sohn in seinen Bart "Scheißbehördenangst", nahm mich dann aber in den Arm und blieb friedfertig. Seiner Meinung nach sei er ein freier Mann und könne bei seinem genehmigten Leipzigbesuch machen, was er wolle. Es gab dann keine weiteren Zwischenfälle, das Familientreffen habe ich in schöner Erinnerung, trotzdem war ich erleichtert, als dann der Anruf aus Westberlin am späten 2. Pfingstfeiertag kam, Chris und Susi seien unbehelligt zurück in Berlin-Kreuzberg.

Im gleichen Jahr war ich überzeugt, dass ich nach dem geglückten Pfingsttreffen im Oktober meine 81jährige Mutter in Echterdingen bei Stuttgart besuchen könne zum Geburtstag! Es war aber ein Irrtum, meine Reise wurde nicht genehmigt. In meinem Ärger fiel mir der anscheinend doch recht mächtige Herr Berger ein. Ich rief die Nummer an, die er mir anläßlich des Pfingstbesuchs meines Sohnes gegeben hatte. "SED-Bezirksleitung!" "Ja, ich möchte bitte Herrn Berger sprechen!" "Wen wollen Sie sprechen? Berger? Wir haben im ganzen Haus niemand, der so heißt" Das war doch merkwürdig! Nach 2 Stunden die mir bekannte Stimme von Berger. ´´Sie haben angerufen und wollten mich sprechen?" Er war wieder sehr höflich, konnte (oder wollte) mir in Sachen Besuch bei meiner Mutter nicht helfen. Warum dieser Herr Berger sich erst am Telefon verleugnen ließ und ob er wirklich BERGER hieß, habe ich nie erfahren.!

 


Nachbemerkung:
Ich schreibe jetzt hier 2 Briefe von 1984 ab, die ich vor 2 Jahren bei der Aushändigung meiner Stasiakte empfing als Fotokopien, die meinenpersönlichen Bericht vervollständigen:


1. BRIEF
Christian Kunert
Fürbringerstr.11/ 1000 Berlin 61 (Kreuzberg)


22.2.84
An den
Staatsratvorsitzenden der DDR,
Herrn Erich Honecker
Bitte persönlich

Sehr geehrter Herr Generalsekretär !
Es mag Ihnen vermessen vorkommen, dass ich mich in so bewegter Zeit mit mehr oder weniger privatem Kram an Sie wende, und es ist es wohl auch. Nur die zuständigen Staatsorgane, bei denen ich regelmäßig abblitze, sind schwer personifizierbar, und so habe ich Schwierigkeiten, mit meinem Gejammer auf die entsprechend kompetenten Tränendrüsen zu drücken. Ich war bis 1976 Liedersänger in Leipzig und ein wenig vorlaut, zugegeben. Ein Huhn gackert halt ein Bisschen lauter als die anderen - das kommt doch in der besten LPG vor. Und den Hahn macht es böse. So böse, wie meine Vernehmer mich später angesehen haben, war das allerdings alles nicht gemeint, wirklich nicht. Wie dem auch sei, mir ging es gut in der U-Haft, und es war auch ganz interessant, nur auf die Dauer etwas langweilig. Und draußen schien die Sonne, als man mir anbot, nach Westberlin zu gehen. Die Lektion war gründlich gewesen, das Attribut meiner Zukunft in der DDR wäre "keine", die Aussicht auf mehrere Jahre Knast tat ein Übriges, und so bin ich halt freiwillig um Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR gebeten worden. (Nehmen Sie mir bitte diese Formulierung nicht übel, ich glaube, sie trifft´s ganz gut.)
Befragt nach meinen Aussichten auf Wiedereinreise sagte man mir, der Groll der Staatsorgane währe gewöhnlich drei Jahre. In meinem Falle ist er offensichtlich auch nach sechseinhalb Jahren noch nicht verflogen. Das Einreiseantragstellen ist für meine Verwandtschaft, vorsichtig ausgedrückt, ziemlich uneffektiv, weil es mit zeitaufwendigen und oft leider auch äußerst unerfreulichen Behördengängen verbunden ist, um dann, nach wochenlangem Warten und Hoffen, doch wieder abschlägig beschieden zu werden. Ich wende mich heute an Sie, sehr geehrter Herr Honecker, weil ich gerne anläßlich der Jugendweihe zweier meiner Neffen zu Pfingsten für ein, zwei Tage meine Familie besuchen würde. Eingedenk solcher Kategorien wie Schuld, Strafe, Sühne .... vielleicht haben Sie Verständnis dafür, dass ich meine Mutter, meine Schwestern und meine Heimatstadt Leipzig gernwiedersehen möchte.
Wenn Sie selbst nicht nachtragend sind und den zuständigen staatlichen Stellen auch ein gewisses Maß an Nachsicht zutrauen, legen Sie doch bitte ein gutes Wort für mich ein. Meine Mutter traut sich nicht, noch einmal die Einreise für mich zu beantragen. Ich hoffe auf Ihre Hilfe und versichere Ihnen gleichzeitig, dass ich einen Bescheid, sei er für mich negativ oder positiv, in jedem Falle still und als endgültig zur Kenntnis nehmen werde.
Hochachtungsvoll !

(handschriftlich) Christian Kunert


2. BRIEF

BV für Staatssicherheit
Stellvertreter Operativ Leipzig, 27.März
1984
Ep-la
1774

2L II R! 3.5.84,
in Sperre für XX/5 Güttler

Kunert, Christian
Ihr Schreiben vom 7.3.84, Tgb-Nr. 4233/84

Entsprechend Ihres Auftrags wurde die Mutter des Kunert BRACHMANN, HELGA am 22.3.84 unter Legende (Abt. Inneres) aufgesucht und ihr mitgeteilt, dass der von ihrem Sohn Christian an den Staatsratsvorsitzenden gerichteten Bitte aus humanitären Erwägungen entsprochen wird. Die B.(Brachmann) zeigte sich darüber sehr angenehm überrascht und erfreut. Ihr selber waren die Aktivitäten des K.(Kunert) nicht bekannt. Sie hatte lediglich am 22.3.84 einen Brief der Lebensgefährtin Kunerts, einer Amerikanerin namens Susi Fox, erhalten, in dem diese ihr Kommen zu Pfingsten ankündigte.
Da zu Pfingsten 2 Jugendweihen im Familienkreis der Brachmann stattfinden, sicherte sie zu, dass Kunert während seines Aufenthaltes in Leipzig durch sie im Rahmen dieses Familientreffens gebunden werde.

Für den Zeitraum des Aufenthalts des K. werden Kontrollmaßnahmen eingeleitet und Sie über deren Ergebnis informiert.


Stellvertreter Operativ
Gez. Eppisch
Oberst

 


18. April 2004: Ich möchte noch Folgendes ergänzen, was mir erst jetzt
aufgefallen ist: In den gesamten Stasiunterlagen, die mir vor ca. 2 Jahren
zugeschickt wurden, wird nirgends der Name BERGER erwähnt.

 

.

 

 



     Seitenanfang
Website der AG Zeitzeugen
Templates