uni

Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

Berichte über Erlebnisse

Was wir wollen | Berichte schreiben | Chronik | Aktuelles | Impressum

Studium unter zwei vergangenen politischen Systemen

Ein Bericht von Dr. Helga Berge, Leipzig

Im Geschehen der Zeitabläufe kann man oft nur rückblickend deuten, wie das Leben so zwiespältig verlief. Ich studierte 5 Semester Medizin unter dem nationalsozialistischen Regime und dann mit Abstand 5 Semester in der DDR.

Weiß man, wenn die Dinge noch vor einem liegen, wie sich alles entwickeln wird?

Heute, 60 Jahre nach Kriegsende, wo man sich bemüht, der Verbrechen der Nationalsozialisten mit ihrer Grausamkeit in den Vernichtungslagern zu gedenken, will ich berichten, was ich am Rande all dessen mit meinen Kommilitonen erfuhr.

Wir studierten bei namhaften Professoren u.a. Physiologie, Chemie und vor allem Anatomie mit den Präparierkursen, in denen am menschlichen Leichnam die Muskeln, Blutgefässe und Verläufe der Nerven sorgfältig darzustellen sind, um so den humanen Organismus eingehend praktisch kennen zu lernen, wie auch heute noch.

Ungewöhnlich war aber, dass die zu präparierenden Leichen, - jeweils eine für vier Studenten - alle ohne Kopf auf den Tischen lagen. Die waren in einem Nebenraum den Zahnmedizinern zugeteilt. Jeden Montag wurden mit LKW Leichname von Dresden nach Leipzig geholt. Eine besondere Arglosigkeit ließ uns damals kaum bedenken, was da gespielt wurde. Wir haben es hingenommen.

Und wenn man sich damit auseinander gesetzt hätte, was hätte man ändern können?

So wie im Herbst 1944 im „Totalen Krieg“ die Medizinstudentinnen der ersten fünf Semester ihr Studium unterbrechen mussten und zum Einsatz in Rüstungsbetriebe abkommandiert wurden. Daraus wurden für mich 12 Jahre, weil ich am Kriegsende zunächst heiratete, aber niemals vergessen konnte und wollte, dass ich den Wunsch gehabt hatte, Ärztin zu werden.

Ich versuchte schon 1946 weiterzustudieren. Alles drängte sich mit seinen Anträgen im bei den Luftangriffen des Krieges schwer beschädigten, aber immer noch vorhandenen „Augusteum“ am Augustusplatz. Es wurde geworben, zum Studium Mitglied in der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ zu werden. Nach meinen Erfahrungen im untergegangenen nationalsozialistischen Regime wollte ich das auf keinen Fall. Ich gab, wie gefordert, zur Bewerbung mein Original-Physikums-Zeugnis ab, - Kopien wurden strikt abgelehnt - . Ich wurde zum Studium nicht zugelassen, das Zeugnis ging verloren.

Erst 1956 bewarb ich mich erneut bei Prof. Velhagen, dem angesehenen damaligen Dekan der Medizinischen Fakultät in Leipzig. Nach der langen Pause seit 1944 ließ er mich 1956 im 6. klinischen Semester das Studium fortsetzen und sagte zu mir: „Ich hoffe, dass Sie in einem Jahr glücklicher sind als heute!“ Ich war so dankbar! Und ich war voller Lerneifer!

Um mich beruflich abzusichern, hatte ich zuvor noch ein Fernstudium begonnen mit dem Abschluss „Medizinische Technische Assistentin“. Neben der praktischen Laborarbeit musste ich dafür wöchentlich einen Tag Lehrveranstaltungen im verwüsteten Dresden im „Hygiene-Museum“ besuchen. Das war nach den Bombenangriffen weit und breit neben dem Hauptbahnhof das einzige benutzbare Gebäude in einem von Ginsterbüschen und anderem wilden Gesträuch bewachsenen Gelände mit ungeordneten Verbindungswegen.
Dazu habe ich praktische Laborarbeit für das Fernstudium im Abenddienst geleistet, das Examen absolviert und daneben in der Universität schon Vorlesungen gehört. Mit Fleiß konnte man in der DDR durchaus eine gediegene Berufausbildung absolvieren.

Wahrscheinlich war ich damals eine der dankbarsten Studentinnen: Im „3. Reich“ musste man ca. 220.- RM Studiengebühren pro Semester bezahlen. Das war viel Geld. Bei guten Leistungen wurde aber Studiengelderlass gewährt. Diese Ordnung könnte man auch unter den heutigen Verhältnissen einsetzen.

In meinem zweiten Studienabschnitt in der DDR erlebte ich nun gar, dass keine Studiengebühren erhoben wurden, und ich bekam pro Monat ein Stipendium in Höhe von 140.- M. Davon waren nur wenige ausgenommen.
Ich fand gut Anschluss. Es ergab sich aber, dass in meiner Schulzeit kein Russisch gelehrt worden war, nun jedoch gefordert wurde. Dem amtierenden Dekan der Medizinischen Fakultät Professor Hauschild brachte ich vor, dass ich mich in Englisch und Französisch auskenne, und er meinte, das sei gut und genüge, und wenn ich zum Staatsexamen Schwierigkeiten bekäme, solle ich zu ihm kommen. Das war aber nicht nötig.
Ich wusste auch gar nichts vom Marxismus-Leninismus, der nun 6 Semester auf den Lehrplänen stand. In meinem ersten Studienabschnitt unter nationalsozialistischer Ideologie kam der ja nicht vor! Ich musste das in einem Sonder-Seminar nachholen, in dem mir eine typische Nichtigkeit Anlass zu Besorgnis gab: Man muss dafür die .Zusammenhänge kennen, um es zu verstehen: Ich trug eine west-deutsche(!) Junghans-Uhr, die ich geschenkt bekommen hatte. Als der linientreue Seminar-Leiter sie an meinem Arm entdeckte, reagierte er entsprechend.

Seine gleichgesinnte Frau war auch Medizinstudentin in meinem Semester und suchte bei mir Anschluss. Wir hörten bei Professor Matzen Orthopädie. Die meisten Studenten schätzten seine sehr guten Vorlesungen und seine offene, aufrechte Haltung, mit der er zu ihrem Vergnügen oft versteckt und ironisch Kritik an den Verhältnissen übte. Dafür wollten sie ihm zum Ende des Semesters Blumen überreichen. Aber das war ein Problem!
Wer sollte den Strauss überreichen? Denn wer wollte und konnte sein Stipendium aufs Spiel setzen?
Die Frau des erwähnten parteilichen Seminarleiters, - sie vertrat natürlich seine Einstellung -, sagte zu mir, als sie von dem Plan erfuhr: Ich muss es wörtlich zitieren: „Der reaktionäre Kerl, der kriegt doch von uns ’keene Blum’“.

Es gab aber eine Studentin, die kein Stipendium bekam, weil ihr Vater einen eigenen kleinen Betrieb besaß. Und nach der Abschlussvorlesung warteten wir gespannt: Würde alles so klappen, wie wir es uns wünschten?

Als Professor Matzen den letzten Satz gesprochen hatte, öffnete sich die breite Tür im Hörsaal, durch die sonst die Patienten hereingefahren wurden. Und eben diese Kollegin überreichte dem verehrten Hochschullehrer ein wunderschönes großes Blumengebinde unter unserem Beifall und Jubel. Das ist mir unvergesslich, weil es zeigte, dass die Studenten durchaus auch ihre Einstellung erkennen ließen.

Natürlich waren in den „zuständigen“ Stellen die linientreuen Vertreter darüber informiert. Und das löste auch für mich Entsprechendes aus: Nach dem Staatsexamen im 11. Semester wollte ich Augenärztin werden und brauchte dazu eine Anstellung in der Universitäts-Augenklinik in Leipzig. Die Parteisekretärin des Studienjahres und ein engstirniger Genosse befragten und leiteten uns weiter: Mit den Worten: “Überall hin, „awer an de Karl-Marx-Universität nich!“ wurde ich verabschiedet.

Ich begann dann als Ärztin im Kreiskrankenhaus Meißen. Dort wurden die Entscheidungen nach medizinischen Gesichtspunkten gefällt - und nicht politisch.

Damals war kaum zu erwarten, dass auch diese Zeit schließlich wieder abgelöst werden würde...
Aber es kam wiederum anders...

 




     Seitenanfang
Website der AG Zeitzeugen
Templates