uni

Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

Berichte über Erlebnisse

Was wir wollen | Berichte schreiben | Chronik | Aktuelles | Impressum

Musikausbildung in der SBZ und in der DDR (1945 bis 1989)

Ein Bericht von Helga Brachmann, Leipzig

Der 2. Weltkrieg war zu Ende, neben den aufreibenden Bemühungen, etwas zum Essen zu bekommen, nutzte ich den Sommer 1945 zum intensiven Klavierüben, bis zu 8 Stunden am Tag. Ich war 17 Jahre alt und wollte Pianistin werden. Meinen Professor, bei dem ich zuletzt Unterricht gehabt hatte, Siegfried Grundeis, suchte ich auf und er erklärte sich bereit, gegen ein geringes Honorar von 10.- Mark Unterricht zu erteilen in dem Raum, der völlig von einem geborgten Flügel eingenommen wurde. Um eine günstigere Lebensmittelkarte zu erhalten, hatte der Professor regelmäßige Hauskonzerte in diesem Zimmer organisiert. So konnte er nachweisen, dass er arbeitete, denn ohne Arbeit war die Lebensmittelzuteilung "zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig" wie man damals sagte. Jeden Montag war Klavierkonzert, wobei die Hörer sich im gesamten Mietshaus selbst Stühle borgten, um nicht während des Vortrags stehen zu müssen. Scherzhaft nannten alle Beteiligten das den "Stuhlgang." Eine Woche spielte der Professor, am darauf folgenden Montag dann seine Schüler.

Im Februar 1946 wurde die Hochschule für Musik in der Grassistraße im Leipziger Musikviertel wieder eröffnet mit der zunächst begrenzten Zahl von 150 Studenten. Dazu musste man sich erneut einer Aufnahmekommission mit mehreren Musikstücken aus unterschiedlichen Stilepochen vorstellen, und ich war glücklich, nun zum zweiten Mal als Studentin aufgenommen zu werden.(1944, kurz vor der Schließung, hatte ich schon einmal eine Aufnahmeprüfung bestanden, die jetzt -1946---nichts mehr galt.) Die Zahl der Studierenden wurde nach einem Semester erhöht.

Mein Klavierprofessor Grundeis war in der NSDAP (National-Sozialistische-Deutsche-Arbeiter- Partei ) gewesen und wurde nicht wieder in Leipzig als Hochschullehrer engagiert, wohl aber Paul Schenk, der Direktor der "Musikschule für Jugend und Volk ", der auch in der "NSDAP" gewesen war. Warum er übernommen wurde und bald den Professorentitel erhielt, weiß ich nicht. Er gab nun Unterricht in Gehörbildung, Musiktheorie, Formenlehre und Instrumentenkunde, je 45 Minuten pro Woche, dann gehörte zum Studienplan je eine Stunde "Neue Musikgeschichte" bei Prof. Heyer, für den alle jungen Mädchen schwärmten, und "Alte Musikgeschichte" bei Prof. Petzold, dessen Vorname mir entfallen ist. Und natürlich hatte man 2 Stunden Hauptfachunterricht in der Woche. All das, worüber spätere Semester so stöhnten, war noch nicht in unserem Studienplan , wie z.B. russischer Sprachunterricht und Unterweisungen in marxistisch-leninistischer Gesellschaftskunde, wir hatten auch keinen Pflichtsport und es gab bis 1948, wo ich mich zum Staatsexamen angemeldet hatte, auch noch keine FDJ-Organisation in der Leipziger Hochschule für Musik. Um jedoch den Abschluss als "staatlich geprüfte Klavierlehrerin" ablegen zu können, musste ich 2 Semester Klavierpädagogik belegen und einen Seminarschüler unterrichten. Bis zur "Wende" gab es diese Möglichkeit, unentgeltlich, gewissermaßen als "Versuchskaninchen", von Studenten Musikunterricht zu erhalten.

Der Haupteingang des Hochschulgebäudes war 1946 noch nicht passierbar, den vom Bombenhagel verschonten Gebäudeteil konnte man nur durch eine schmale Seitentür erreichen. Es gab noch keinen Vortragssaal und es war in den Wintern bitterkalt in den Räumen, sodass das Hauptfach, also der Einzelunterricht, meist von den Professoren in deren Wohnungen erteilt wurde, die wenigstens ein wenig beheizt waren. Für die jeweils etwa 10 Studenten umfassenden theoretischen Fächer hatte man eine Gründerzeitvilla gegenüber gemietet. Freitags hatte ich dort von 8 bis 12 Unterricht. Im grimmig kalten Winter 1946/ 47 saßen wir frierend mit Mänteln und Schals. Ich lief morgens im Dauerlauf von Gohlis bis in die Grassistraße, so war ich in der ersten Stunde noch etwas durchwärmt. Meist ging ich nüchtern in die Hochschule und aß erst nachmittags zu Hause die spärliche Tagesration auf einmal auf. Damals kostete ein Semester Hochschulstudium 150.- Mark. Meine Kommilitonen waren u .a. die Kapellmeister Kurt Masur, Ude Nissen, Günter Schubert, die Sängerin Eva Fleischer und die Komponistin Ruth Oschatz, die dann später Dieter Zechlin heiratete. Ich bat darum, mein Staatsexamen schon nach 2 Studienjahren ablegen zu dürfen, denn ich hatte bereits eine Tochter und das zweite Kind war unterwegs. Da noch kein Saal für die Hauptfachprüfung zur Verfügung stand, konnte ich mein Prüfungskonzert, Tschaikowskys Klavierkonzert Nr.1, b -moll , nur mit Klavier - statt mit Orchesterbegleitung - vortragen! Mein Hauptfachlehrer Anton Rohden spielte die Begleitung. Da ich mit "sehr gut" abgeschlossen hatte, durfte ich noch ein Jahr lang an der Hochschule bei ihm Klavierunterricht für die erwähnten 150.-Mark im Semester erhalten. Dann hieß es, die Hochschule verlassen, ich gab nun Privatklavierstunden zu Hause am Nachmittag, vormittags übte ich für meine ersten Rundfunkengagements und Klavierabende. Außerdem sprach ich mit dem damals in Leipzig bekanntesten Klavierprofessor Hugo Steurer, ob ich nun - privat - bei ihm noch zusätzlich studieren könne; er äußerte, dass er von mir "nur" 25.- Mark pro Stunde nehmen würde, weil es sich ja um berufliche Fortbildung handele. Für mich bedeutete das sehr viel Geld. Ich konnte mir nur alle 14 Tage diesen Unterricht leisten. Bei Prof. Steurer habe ich dann noch viel dazu gelernt und zahlreiche wertvolle Anregungen und Hinweise bekommen.

Meine beiden ältesten Töchter waren später Seminarschülerinnen an der Hochschule für Musik im Fach Geige, erhielten also von Studenten umsonst Unterricht. Meinem dritten Kind bezahlte ich Klavierstunden bei einem Kollegen; der musikbegabteste war mein Sohn. Ihn unterrichtete ich selbst in Klavier, Blattsingen, Gehörbildung und Theorie und bezahlte ein Jahr Privatgesangsunterricht für den Achtjährigen beim Stimmbildner des Thomanerchors, der mir einen Freundschaftspreis anbot, wir kannten uns vom Studium her, und er wusste, dass es für mich schwer war, allein mit 4 Kindern zurechtzukommen. (Der Vater meiner Kinder ,mein erster Mann, war 1956 gestorben.) Dann bestand mein Sohn mit 9 Jahren die gar nicht einfache Aufnahmeprüfung für den Thomanerchor und nun waren die Chorkleidung, Essen, Wohnen im Internat und die gesamte Musikausbildung umsonst. Mein Sohn hat dann nach dem Abitur ein Studium an der Universität in Leipzig begonnen, um Deutsch- und Musiklehrer zu werden, was auch nichts kostete. Dann wechselte er zum Direktstudium Musik, Hauptfach Posaune, auch wieder ohne Studiengebühr. Da er in dieser Zeit bereits mit der Klaus-Renft-Kombo auftrat und Geld verdiente, kam er in das "Abendstudium", wo man einmal in der Woche, montags, alle Fächer hatte, und ansonsten seinem Beruf nachging.

Meine älteren Enkelkinder besuchten dann die Volksmusikschulen, etwa in der Zeit von 1975 bis 1983 in den Fächern Geige und Klavier. Der Unterricht fand nachmittags statt und war sehr preiswert, so preiswert, dass sich weder eine ehemalige Lehrerin dieser Musikschule noch meine Töchter an die Höhe - oder besser gesagt - an die "Tiefe" des Preises erinnern konnten, als ich sie jetzt fragte. Aber als Nachteil empfanden meine Enkel die regelmäßigen Vorspiele und Leistungskontrollen mit Zensuren. Viele Kinder der Musikschulen hatten ja nicht das Ziel des Berufsmusikers, auch nicht den Ehrgeiz. Wer jedoch in der Musikschule als begabt und fleißig auffiel, hatte die Möglichkeit, nach Abschluß der 6. Schul-Klasse auf die Spezialschule für Musik in Halle zu kommen, wo die musikalische Ausbildung intensiviert wurde, wo der Instrumentalunterricht oft bereits von Hochschullehrern oder Gewandhausmusikern erteilt wurde. Diese "Spezialschüler" legten ihren "10jährigen" Schulabschluss erst nach 11 Jahren ab, also mit 17 etwa, und konnten sich dann unmittelbar an einer Hochschule bewerben und wurden auch fast ohne Ausnahme aufgenommen. Die Ausbildung, Verpflegung und das Wohnen in Halle im Internat waren kostenlos, der Unterricht ausgezeichnet, aber die Enge der Wohnanlage muss gravierend gewesen sein und die zu wenigen Erzieher schienen überfordert, den 12- bis 17jährigen Jugendlichen eine gute Atmosphäre zu schaffen. Jedenfalls habe ich dann, als ich an der Hochschule für Musik in Leipzig selbst unterrichtete , viele ehemalige "Spezialschüler" sagen hören: "Meine Kinder schicke ich d a nie hin!"

Abitur war in der DDR nicht erforderlich für ein Musikstudium. Begabten Jungen wurde oft geraten, nach der "normalen "10.Klasse in der Schule abzugehen , das Musikstudium zu beginnen, sich dann eine Orchesterstelle zu suchen und das Staatsexamen abzulegen und d a n n erst die Armeezeit zu absolvieren. Dadurch war die musikalische Ausbildung nicht durch die Soldatenzeit unterbrochen, die jungen Männer blieben "am Instrument" und waren unbekümmerter bei den Zwischenprüfungen, Wettbewerben, Examen und Probespielen. Ich habe immer wieder beobachtet, dass d i e Studenten, die ihr Abitur abgelegt hatten und dann ihre Armeezeit verbrachten, zwar menschlich viel reifer, aber andererseits bei jedem öffentlichen Auftritt viel gehemmter und nervöser waren. Im Allgemeinen erhielten Schüler, die n i c h t vorher in der Spezialschule gewesen waren und nach der 10. Schulklasse das Studium begannen, ein Jahr Vorstudium, danach war dann erst die "richtige" Aufnahmeprüfung. Für musikalisch begabte Kinder, die ein Instrument überdurchschnittlich beherrschten, gab es noch die Chance, in die "Kinderklasse" der Hochschule für Musik aufgenommen zu werden, wo schon die 6 -und 7jährigen von Professoren, auch kostenlos, unterrichtet wurden. Als Beispiel nenne ich Frank-Michael Erben, 1. Konzertmeister des Gewandhauses jetzt. Wer ein besonders gutes Staatsexamen abgelegt hatte, erhielt kostenlos ein fünftes Studienjahr, wo alle Nebenfächer wegfielen und man sich ganz dem Hauptfach widmen konnte. Als Beispiel möchte ich den jetzigen Solofagottisten des Gewandhauses nennen, der bei mehreren internationalen Musikwettbewerben Preisträger wurde, Thomas Reinhardt. Er "erspielte" sich mit 22 Jahren schon eine Solostelle bei Radio DDR, musste dann aber erst einmal seine Karriere unterbrechen und 18 Monate Soldat werden. ( 1982 ). Zehn Jahre vorher kam es vor, dass junge Musiker vom Armeedienst noch befreit werden konnten, Anfang der 70er Jahre wurden auch noch junge Menschen zum Hochschulstudium zugelassen, die n i c h t "jugendgeweiht" oder die n i c h t in der FDJ (Freie Deutsche Jugend) Mitglied waren. Prorektor Dr. Malth war da nicht so streng wie sein Nachfolger, unter dessen Regie auch der Begabteste nicht studieren durfte, wenn die genannten politischen Voraussetzungen nicht gegeben waren. Dr. Malth war Musikwissenschaftler, sein Nachfolger war k e i n Musiker, ich habe den Namen vergessen.

Unbedingt möchte ich meinem Bericht noch hinzufügen, dass j e d e m Musikstudenten am Ende der Ausbildung eine feste Stelle zugewiesen werden musste. Bei jährlichen zentralen Vorspielen aller DDR- Studenten des letzten Ausbildungsjahres wurden die Absolventen eingeteilt in solche, die sich bei "Spitzenorchestern" bewerben durften, wie z.B. Dresdener Staatskapelle, Berliner Symphonie- oder Leipziger Gewandhausorchester. Dann folgte d i e Gruppe junger Musiker, die sich bei den auch sehr gut bezahlten sogenannten A-Orchestern, wie z.B. in der "Muko" Leipzig ( Musikalische Komödie), Schweriner oder Weimarer Staatskapelle, zum Probespiel vorstellen durften. Dem guten Durchschnitt wurden dann "B-Orchesterstellen" angeboten, wie etwa die Oper in Halle oder die in Erfurt. Den Studenten mit mittelmäßigen Leistungen blieben dann die schlechter eingestuften C-Orchester, wie z.B. Stendal oder Plauen offen. Nach dieser Einteilung bewarben sich dann die jungen Leute bei den Orchestern, für die sie die Qualifikation hatten. Mitunter mussten mehrere Probespiele geleistet werden, die Orchestervertretungen entschieden dann darüber, ob sie den Bewerber nehmen wollten. Diese Stellensuche fand nach dem zentralen Novembervorspiel statt, und wenn es dann ans Staatsexamen im Sommer ging, wußten die jungen Leute, wo ihr erster Arbeitsplatz war, für den sie für 3 Jahre verpflichtet wurden. Erst dann durfte man eigenständig versuchen, in ein "höheres Orchester" zu kommen durch erneutes Probespiel. Schön war, dass kein Student ohne feste Stelle nach dem Examen dastand, hart war manchmal die Entscheidung, wenn z.B. ein junges Ehepaar getrennt wurde für 3 Jahre, wie ich es miterlebte. SIE kam nach Rostock, ER nach Suhl. Bei Sängern und Pianisten gab es ähnliche Regelungen, z.B. musste für eine junge Pianistin eine Stelle neu eingerichtet werden, um sie unterbringen zu können, und zwar: In Schulpforta, einer sogenannten "Erweiterten Oberschule, wurde für die Schüler fakultativ Klavierunterricht eingeführt - und meine (Klavier)-Studentin war versorgt !

Alles hat Vor -und Nachteile. Faule Studenten, wenn ich sie anspornen wollte, entgegneten mir (wörtlich!): "Was wollen Sie denn, d i e m ü s s e n mir doch irgendeine Stelle geben!" Zum Glück war diese Ansicht Ausnahme! Die "Versorgung" mit festen Stellen war sehr begrüßenswert, aber die Studenten hielten das für selbstverständlich. Ein ehemaliger Student von mir, mit einer Solostelle in Magdeburg gut versorgt, beantragte 1987 die Ausreise. Er fiel aus allen Wolken im "Westen", als sich z.B. für eine Klarinettenstelle 120 (einhundertundzwanzig )Bewerber meldeten! Er fand keine Anstellung, kam nach der "Wende" zurück, aber natürlich war sein Posten in Magdeburg anderer weit inzwischen besetzt, er fand keine neue Möglichkeit mehr in seinem Beruf - und nun blieb nichts weiter übrig als eine Umschulung zum Feinmechaniker. Und dies nach 5 Jahren Spezialschule für Musik in Halle und 4 Jahren Vollstudium mit dem Ergebnis "sehr gut" in Leipzig!

Seitdem ich im Ruhestand bin, besuche ich ab und zu "meine" Hochschule. Auf das Schönste renoviert und mit neuen großzügigen hygienischen Anlagen ausgestattet, ist sie ein Schmuckstück geworden. Aber ich hätte weinen mögen, als mir jetzt ein ehemaliger Kollege sagte "Wir bilden nur noch arbeitslose Musiker aus!"




     Seitenanfang
Website der AG Zeitzeugen
Templates