uni

Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

Berichte über Erlebnisse

Was wir wollen | Berichte schreiben | Chronik | Aktuelles | Impressum

Ein deutscher Junge weint nicht!

Ein Bericht von Dr. Herbert Lang, Leipzig

Ich erinnere mich an das Jahr 1943, als ich 10 Jahre alt geworden war und ‘Pimpf ’ wurde.
Als Pimpfe galten die 10- bis 14- jährigen Jungen des ‘Deutschen Jungvolkes (DJ)’, die danach, 14- bis 18- jährig, der ‘Hitlerjugend (HJ)’ beitraten bzw. ‘beigetreten wurden’. Es lag nicht in der Beliebigkeit des Einzelnen, in die HJ einzutreten oder nicht.

Nach Ausschalten aller anderen Jugendverbände zugunsten der HJ bereits im Jahre 1936 wurde im Frühjahr 1940 die Jugenddienstpflicht zum ersten Male praktisch wirksam. Grundlage dafür war das ‘Gesetz über die Hitler-Jugend vom 1. Dezember 1936’, in dem für die gesamte ‘körperliche, geistige und sittliche Erziehung’ der Jugend in Deutschland außerhalb von Schule und Elternhaus allein die HJ als zuständig erklärt wurde. Mit der Durchführungsverordnung zu diesem Gesetz vom 25. März 1939 erfolgte die endgültige Weichenstellung zum ‘Staatsjugenddienst mit Jugenddienstpflicht’. Diese sah vor, alle zehnjährigen Jungen und Mädchen pflichtweise zur Hitler-Jugend einzuziehen und Verstöße gegen die HJ-Disziplin mit einer HJ-Dienststrafordnung wegen ‘Gefährdung des öffentlichen Ansehens der HJ’ zu ahnden.

So schaut mich zwar auf dem vor mir liegenden eigenen Passbild aus dieser Zeit ein entschlossen blickender Junge in schwarzer Uniform des ‘Deutschen Jungvolkes’ mit Schulterriemen und Halstuch an, aber in den weichen Gesichtszügen ist auch unverkennbar ein Hoffnungsschimmer zu erkennen, der ganz und gar nicht in diese Zeit zu passen scheint. Ich wage nicht daran zu denken, was aus diesem kleinen Bürschchen geworden wäre, wenn der Krieg noch länger gedauert hätte.

Erfahrungen von Brutalität, die immer mehr zum Bestandteil kindlicher oder jugendlicher ‘Normalität’ meiner Altersgenossen oder nur wenig älterer Schulkameraden infolge der direkten Berührung mit dem Kriegsgeschehen oder mit Flucht und Vertreibung wurden, sind mir erspart geblieben. Der Drill und die erlebte ‘körperliche Ertüchtigung’ während meiner Zugehörigkeit zum Deutschen Jungvolk haben in mir dennoch tiefe Spuren hinterlassen.
Ich kann noch heute wie ein ‘geölter Blitz’ die für mich damals gültige organisatorische Zuordnung in den Gliederungen der HJ ‘herunter beten’, selbst wenn ich mitten aus dem Schlaf gerissen würde: ‘Jungzug 4, Fähnlein 13, Bann 360’ (Organisations-Ebenen der HJ in der Kommune, im Kreis und im Land/‘Gau’). 
Auch die in dieser Zeit gesungenen Lieder mit fragwürdigem und den Krieg verherrlichendem Inhalt beherrsche ich noch weitgehend in Text und Melodie.

Gemäß dem Grundsatz dieser NS-Jugendorganisation: ‘Flink wie ein Windhund, zäh wie Leder, hart wie Krupp-Stahl’ wurden wir zehnjährigen Pimpfe unverzüglich mit dem ‘Programm der körperlichen Ertüchtigung’ vertraut gemacht. Dies erfolgte mit brachialer Gewalt. Die uns zugeordneten Gruppenführer verlangten unbedingten Gehorsam, vor allem bei der Ausführung gegebener Befehle.
Die anfangs noch kurzen Märsche wurden immer länger und für uns kleinen Knirpse immer beschwerlicher. Die dabei einstudierten Marschlieder wie: ‘Es zittern die morschen Knochen’, ‘Bomben auf Engeland’ oder ‘Ein junges Volk steht auf zum Sturm bereit’, linderten trotz ihres fragwürdigen und martialischen Inhalts in keiner Weise die Schmerzen der Blasen an den Füßen oder anderer Verletzungen des erbarmungslosen Ausbildungsdrills. Mit dem Befehl: ’Ein deutscher Junge weint nicht’, wurde manche heimliche Träne unterdrückt oder voller Scham schnell weg gewischt.
Bis zu einem gewissen Grade beliebt, aber auch von uns Pimpfen gefürchtet waren ‘Geländespiele’. Es wurden immer zwei Gruppen gebildet: Angreifer und Verteidiger. Zur Unterscheidung beider Gruppen dienten meist blaue und rote Stoffbänder, die am obersten Knopfloch der Hose anzuknoten waren.

Die Spielregeln besagten, dass die Gruppe das Geländespiel gewonnen hatte, der es gelungen war, von der gegnerischen Gruppe die meisten Markierungsbänder zu erbeuten; was gleichbedeutend damit war, dass der betreffende ‘Gegner’ vernichtet war und aus dem ‘Spiel’ ausscheiden musste.
Da derartige Geländespiele, ebenso wie andere Übungen, in voller Uniform und Ausrüstung - einschließlich ‘Fahrtenmesser’ - durchgeführt wurden, blieb es nicht aus, dass es zu Verletzungen durch Einsatz des Fahrtenmessers kam. Das war auch nicht verwunderlich, denn wer ließ es schon zu, dass ihm das Markierungsband ohne Gegenwehr vom Knopfloch entfernt wurde. Die Gruppenführer tolerierten nicht nur den Einsatz des Fahrtenmessers dabei, sondern ermunterten uns Pimpfe indirekt zum Einsatz der Waffe. Wurden doch die Unterlegenen, denen die Markierungsbänder einschließlich des oberen Teiles ihrer Hosen mit dem Messer meist abgeschnitten worden waren, von ihnen verspottet und verhöhnt, wenn sie als Gefangene der Sieger, die Hosen mit den Händen haltend, zusammen getrieben wurden.

Besonders unangenehm sind mir die Mutproben in Erinnerung geblieben. Unter den Folgen einer brutalen diesbezüglichen Übung leide ich heute, im fortgeschrittenen Alter, immer noch. Die Mutprobe bestand darin, durch eine etwa 30 Meter lange Betonröhre zu kriechen, in der bei Niederschlägen das Regenwasser eines Grabens unter der Kreuzung von zwei breiten Feldwegen hindurch geführt wurde. Während des hinein Kriechens empfand ich bereits die große Enge der Röhre, da diese es nur zuließ, sich mit Hilfe der Arme vorwärts zu bewegen. Die Beine konnte man dabei nicht einsetzen. Nach etwa der Hälfte des Weges hing ich plötzlich fest. Ich kam nicht weiter. Vor Angst brach mir der Schweiß aus. Rufen war zwecklos. Die enge Röhre ließ keinen Laut nach Außen dringen. Vorsichtig nach rückwärts robbend kam ich an die Stelle, an der sich meine Hose verfangen hatte. Meine Hände ertasteten im Halbdunkel das etwa fingerdicke Ende eines Armierungseisens, das aus der Stoßkante eines der Betonteile herausragte. Während der Vorwärtsbewegung hatte ich dieses durch die Geröllablagerungen auf der Sohle der Röhre nicht wahrgenommen.
Ich entschied mich, den bereits zurück gelegten Weg wieder zu verwenden; den kannte ich. Die Rückwärtsbewegung war viel mühevoller als ich dachte und dauerte auch beträchtlich länger. Immer wieder musste ich Ruhepausen einlegen. Da ich mich aber bewegen konnte, ließ meine Angst auch nach. Die Einstiegsöffnung kam langsam immer näher. Jetzt konnte ich bereits von draußen Rufe wahrnehmen. Schließlich war es soweit, dass mich jemand an den Füßen packte und heraus zog.
Ich glaube schon, dass alle darüber froh waren, mich zwar mit einigen Hautabschürfungen, aber doch augenscheinlich unversehrt zu sehen; besonders der Gruppenführer, der vielleicht  an seine disziplinarische Verantwortung gedacht hatte.
Alle Beteiligten wurden darauf eingeschworen, über den Vorfall nichts verlautbaren zu lassen; ich, darüber hinaus, auch im Elternhaus kein Wort darüber zu verlieren.

Heute denke ich, dass ich dieses Kindheitserlebnis mit meiner späteren Platzangst in einen direkten Zusammenhang bringen kann. 


 



     Seitenanfang
Website der AG Zeitzeugen
Templates