uni

Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

Berichte über Erlebnisse

Was wir wollen | Berichte schreiben | Chronik | Aktuelles | Impressum

Erst Krieg, dann Amerikaner und Russen in Leipzig

Ein Bericht von Gerda Lott, Leipzig

Im Jahr 1942 bezogen mein Mann und ich eine Wohnung in der Delitzscher Straße in Eutritzsch. Das große Doppelhaus nahe der Kirche steht heute noch unversehrt. Das in diesem Viertel die ersten Bomben auf Leipzig fielen, dürfte nur noch wenigen bekannt sein. Vor schweren Schäden blieben wir hier verschont. Einmal setzte eine Brandbombe die über uns liegende Wohnung in Brand. Der Luftschutzwart, der während eines Angriffes Kontrollgänge im Haus vornehmen musste, konnte den Brand mit ein paar Tüten Sand ersticken; und Sand war genug vorhanden; dafür mussten die Mieter sorgen.

Den Kriegsalltag, der uns bis 1945 in Atem halten sollte, lernten wir am  4. Dezember 1943 kennen; seitdem saß uns die Angst im Genick. Im Februar 1945 waren wir richtig „dran“. Die Bomben fielen in unserer Nähe und der Kellerboden fing an zu schwanken. Als ich nach der Entwarnung in die Wohnung kam, trat ich auf Glasscherben, und ein großer Gegenstand klemmte zwischen Wohn- und Schlafzimmer. Wir waren „durchgepustet“: der Luftdruck hatte die Scheiben eingedrückt und die Verbindungstür zwischen Wohn- und Schlafzimmer aus den Angeln gehoben.

Früh am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg, um Pappen zu holen aber ein  Braun-Uniformierter wollte mich wegschicken, da es zur Zeit keine gäbe. Angesichts der Kälte ließ ich mich zu einigen unvorsichtigen Bemerkungen hinreißen.  Darauf forderte er mich in harschem Ton auf, mit ihm zur Polizeiwache zu gehen. Darauf wurden mir die Knie weich. Aber es kam anders: der Polizeioffizier  wies den Braunen auf die schwere Aufgabe hin, die wir jungen Frauen an der Heimatfront zu bewältigen hätten, komplimentierte ihn hinaus, und ich konnte nach Hause gehen…

Im letzten Drittel des April rückten die Amerikaner in Leipzig ein. Die ersten sah ich am Hauptbahnhof und musterte die wohlgenährten jungen Männer. Wir hatten schon gehört: Sie wurden gut verpflegt, ihre Rationen, von denen sie viel wegwarfen, erhielten sie in kleinen Päckchen verpackt; und bei uns keimte die Hoffnung, dass da auch etwas für uns abfallen könnte. Aber sie vernichteten alle Abfälle in Abfallgruben. Im Lindenthaler  Wäldchen haben wir uns eine solche Grube angesehen. In einem Aushub schwammen in einer undefinierbaren Flüssigkeit unzählige solcher Päckchen; manche waren noch nicht geöffnet. Versuchten Kinder oder Erwachsene  mit langen Ruten etwas an Land zu ziehen, wurden sie von Soldaten, die sich im Hintergrund aufhielten, verjagt.

Am Chausseehaus hatten Soldaten eine Menge Fahrräder hingeworfen. Die Straße war gesperrt, was uns aber nicht ersichtlich war. Fuhr nun ein Deutscher nichts ahnend die Straße entlang, musste er absteigen, sein Rad wurde zu den übrigen geworfen, er wurde weggejagt. Die Räder verteilten die Soldaten später an herumlungernde Kinder.

Am 20.April fuhr ein Konvoi stadtauswärts an unserem Haus vorüber. Auf den Ladeflächen räkelten sich Soldaten; sie hatten sich Silberfüchse und anderes Pelzwerk um die Schultern geschlungen. „Sie haben das Kühlhaus geplündert“, hörten wir. Von Zeit zu Zeit wurden wir mit Mikrofonen aufgefordert, unsere Kameras abzugeben; aber das überhörten wir.
Aus den Fenstern der gegenüber liegenden Häuser hingen anstelle der Hakenkreuzfahnen Bettlaken und Tischtücher.

Dann tauchte in Rackwitz, wo mein Mann arbeitete ein Gerücht auf, das sich bald als wahr erweisen sollte. Die Amerikaner würden abziehen, zu uns kämen die Russen. Man habe den leitenden Ingenieuren angeboten, sie mitzunehmen. Lkws zum Transport für Möbel und Hausrat würde man ihnen zur Verfügung stellen.

Ende Juni waren die Amerikaner aus dem Straßenbild Leipzigs verschwunden. Anfang Juli brachte mir die Leiterin des Kindergartens „An der Querbreite“ meine Tochter: „Die Rote Armee zieht ein“, rief sie. In kurzer Zeit war die sonst so belebte Straße öde und verlassen. Die Häuser wurden abgeschlossen, die Jalousien herunter gelassen.

Dann kamen sie – ein langer Zug, Panjewagen auf Panjewagen zog die Delitzscher Straße stadteinwärts; voran ein Offizier zu Pferde, der mit finsterer Miene die Häuserfronten musterte, an denen sich kein Bewohner zeigte. Ein Pony sprang nebenher.
Wenn kein Zug von Rackwitz nach Leipzig fuhr, lief mein Mann mit einer Kollegin, mit der wir die Wohnung teilten, nach Eutritzsch. Die Straßen waren wieder belebt. Auf dem Hof der Kaserne an der Essener Straße übten die Russen das Radfahren; die Räder hatten sie den Deutschen abgenommen.

Wir hatten inzwischen gelernt, dass man Armbanduhren nicht am Handgelenk trägt sondern sie gut am Körper versteckt. Wurden wir mit vorgehaltener Waffe und „uri – uri“ gestoppt, konnten wir die bloßen Handgelenke zeigen.

Unsere Mitbewohnerin bereitete ihre Übersiedlung nach Stuttgart vor. Die leer werdenden Zimmer hatte ich an einen russischen Offizier vermietet. Unsere Mitbewohnerin hatte zur Zeit der „Akademikerschwemme“ (Zeit der Arbeitslosigkeit vor der Machtübernahme) einige Jahr in der SU gearbeitet und sprach ausgezeichnet russisch. Bei den anstehenden Verhandlungen mit dem Offizier führte sie das Wort. „Er sei Mediziner, komme aus Minsk, erwarte Frau und Tochter; sein Name sei Nachtigall!“  Bei seinem Einzug bat er um Geschirr und Bestecke. Das waren damals rare Artikel und ich befürchtete sie nicht wieder zu bekommen.

Eines Abends kam er zu uns in die Küche, wo ein Tohuwabohu herrschte. Wir waren beim Rübensaftkochen, der schwersten und schmutzigsten Arbeit  im Jahresablauf.
Er bot uns einen Teller mit Fleisch an; es waren mehr Knochen und Sehnen, uns aber trotzdem willkommen. Mein Mann holte eine Flasche Selbstgebrannten aus dem Kühlschrank und bot ein Gläschen an. Der Doktor besah sich das Durcheinander: die Rüben, den Kühlschrank, die Flasche. Dann schien er zu begreifen. „Fabrika Spiritus“ rief er. Darüber freuten wir uns so, das mein Mann noch eine Runde spendierte.

Frau Nachtigall, die inzwischen mit der Tochter eingetroffen war, staunte über die Wohnung: die Stuckdecken, die geflieste Küche, das elegante Bad. Besonders das Klavier hatte es ihr angetan. Ich glaubte sie wollte spielen und führte sie zu dem Instrument. Doch an der Verlegenheit, mit der sie auf dem Klavierschemel hockte, merkte ich, dass sie gar nicht spielen konnte.

Wie schätzte man uns ein? Sicher falsch! Wir mussten eine teure Wohnung mieten; die kleinen vermittelte das Wohnungsamt nur an sozial Schwache oder Kinderreiche. Aber ich konnte es ihr nicht erklären. So blieb es bei einem freundlichen Lächeln. Das etwa zwölf Jahre alte Mädchen war rührend um den kleinen Schreihals bemüht, der unsere Familie vergrößerte. Unsere Dreijährige wurde zur Weihnachtsfeier in den Russischen Klub eingeladen, die Backsteinvilla Ecke Mothes- und Gräfestraße steht heute noch, uns beiden fehlten aus mangelnden beiderseitigen Sprachkenntnissen eben die entsprechenden Worte.

Eines Tages waren Mutter und Tochter ohne vorherige Ankündigung verschwunden. Kurze Zeit später verschwand auch er. Auf dem Küchentisch standen alle Dinge, die ich ihm geborgt hatte; darüber hinaus auch Gegenstände, die mir gar nicht gehörten. Ich wollte sie ihm zurückgeben und klopfte an seiner Zimmertür, aber er hatte das Haus bereits verlassen.


 



     Seitenanfang
Website der AG Zeitzeugen
Templates