uni

Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

Berichte über Erlebnisse

Was wir wollen | Berichte schreiben | Chronik | Aktuelles | Impressum

Sommerlager der Physikstudenten in Böhlen bei Leipzig

Ein Bericht von Dr. Klaus-Dieter Schmidt, Leipzig

Im Herbst 1958 wurde ich in Leipzig für das Physikstudium immatrikuliert. Dass wir uns nun nicht nur mit Physik und Mathematik beschäftigt haben, sondern auch noch anderweitig beschäftigt wurden, zeigt der nachfolgende Bericht.

Nachdem wir nun das erste Studienjahr bewältigt hatten, war dieses noch lange nicht vorbei. Nun stand die vormilitärische Ausbildung im Rahmen der GST, der Gesellschaft für Sport und Technik, auf der Tagesordnung. Ich schreibe das auf, weil meine Enkel sich sicher so etwas nicht vorstellen können.

Wir, d.h. das 1. und das 2. Studienjahr, fuhren also nach Böhlen bei Leipzig, dort wurden wir auf dem Dachboden des Ledigenheimes immerhin in Betten untergebracht. Gegessen wurde in der Betriebsberufsschule des Kombinats Böhlen, ein Großbetrieb, bestehend aus einem Kraftwerk und einer Benzinfabrik, wo damals noch Benzin aus Braunkohle hergestellt wurde. Die GST-Ausbildung fand auf dem Sportplatz von der Betriebssportgemeinschaft Chemie Böhlen statt. Der Sportplatz hatte den tollen Namen „Friedrich-Ludwig-Jahn-Kampfbahn“. Dort durften wir nun marschieren und exerzieren üben. Für mich, der ich ein durch und durch unmilitärischer Typ bin, war das eine Tortur. Die Befehle kamen von einigen Studenten im 5. und 7. Studienjahr. Diese waren besonders linientreue Studenten, teilweise richtige Edelkommunisten.

Die beiden GST-Bosse hießen St. und H. Beide waren im 7. Studienjahr, obwohl die Regelstudienzeit 5 Jahre betrug. Sie werkelten an ihren Diplomarbeiten herum, bekamen Stipendium und widmeten sich der GST-Arbeit. Aus diesem Grunde hat denen auch lange Zeit wegen Überziehung der Studienzeit niemand auf die Finger gehauen. Später wurde dann gegen solche Langstudierer vorgegangen. St. war ein ziemlich unangenehmer Typ, der in bestem sächsisch seine Kommandos über die Jahn-Kampfbahn brüllte. H. war zwar nicht ganz so widerlich, dafür stotterte er. Für das Stottern kann er ja nichts, aber es war trotzdem lustig, wenn er auf dem Schießplatz kommandierte: „Du, Du und Du machst Posten, ich will ni…ni…ni…nichts mehr von Euch sehen!“ Das sollte heißen, daß die Posten voll in Deckung liegen sollten. Mein Freund Micha konnte das besonders gut nachahmen.

Charakteristisch für unsere GST-Kommandeure war außerdem, daß sie natürlich nicht neben der Truppe hergingen, sondern sie fuhren ständig mit den Motorrädern, über die die GST verfügte. So sollte eines Tages ein großer Alarm mit anschließender Übung über die Bühne gehen. St. warf auf dem Sportplatz zwei Knallkörper in die Gegend und brüllte in bestem Sächsisch: „Aolaorm!“ Wir fanden das so lustig, daß wir uns vor Lachen auf den Bänken herumkugelten. St. brüllte sich nun aber so richtig in Rage. Wir mussten also im Laufschritt 200 m bis zur Waffenkammer laufen. Dort haben wir dann gestanden, denn beim Waffenausgeben wurden an allen KK-Gewehren die Schlösser herausgenommen, dass wir sie nicht verlieren. Sie blieben in der Waffenkammer, wer auf diesen Schwachsinn gekommen ist weiß ich nicht. Wir wurden also dann einige Stunden in Wald und Feld herumgejagt. Anschließend gab es Manöverkritik.

Die GST-Bosse kritisierten unsere Einsatzbereitschaft, unser Marschieren, unsere Ordnungsübungen und was weiß ich nicht alles. Sie hatten aber nicht mit dem Echo gerechnet. Jetzt ging die Diskussion erst richtig los. Die Kritik, die nun von uns kam, war nicht von Pappe. Sie gipfelte dann in dem Satz: „Ihr könnt uns ja gar nicht marschieren sehen, wenn ihr nur mit dem Motorrad fahrt!“ Wie die Diskussion dann ausgegangen ist, weiß ich nicht mehr, unsere GST-Bosse gingen aber dann deutlich behutsamer mit uns um. Nach 3 Wochen war der Spuk vorbei.

Eines muss aber der Vollständigkeit halber noch berichtet werden. Um das Lager finanzieren zu können, mussten wir erst einmal 10 Tage arbeiten. Wir wurden im Kraftwerk eingesetzt und als Rußbläser und Spülrinnenwärter beschäftigt. Das Kraftwerk stammte aus dem Jahr 1925, der Zustand war wohl nicht so berühmt, jedenfalls zischte es an allen Ecken und von oben kam heißes Wasser heruntergelaufen. Es konnte einem Himmelangst werden. Im Kraftwerk gab es richtige Fluchtwege, die mit großen Lettern als Fluchtwege gekennzeichnet waren. Nirgendwo lag so viel Gerümpel, wie auf diesen „Fluchtwegen“.

Zu unserer Tätigkeit muss aus technischer Sicht einiges erklärt werden: Die Braunkohlenkraftwerke arbeiten mit Kohlenstaub, der aus der Rohbraunkohle in großen Mühlen erzeugt wird. Der Staub, der als Staub/Luft-Gemisch hochexplosiv ist, wird von den Mühlen direkt in den Feuerungsraum eingeblasen. Die Kohle verbrennt, und die Asche fällt hinunter in die Spülrinne, wo sie von Wasser weggespült wird. Da die Kohle, die dort verbrannt wurde, eine ziemlich schlechte Qualität hatte, bildeten sich aus den Verunreinigungen in der Kohle Schlacke, die sich an den Steigrohren des Kessels festsetzte und große hängende Klumpen bildete. Fielen die Klumpen, wenn sie schwerer als die Haftfähigkeit geworden waren, herunter in die Spülrinne, dann konnte sich Knallgas bilden, und es konnte so der Kessel durch die Wucht der Klumpens und durch das Knallgas auseinander fliegen.

Als ich in Böhlen war, war das im benachbarten Espenhain passiert. Mein Vater, damals im Institut für Energetik beschäftigt, erschrak mächtig, als er am nächsten Morgen die Störmeldung auf den Tisch kriegte, bis er sich erinnerte, daß ich ja in Böhlen war. Um solche gefährlichen Zustände zu verhindern, gab es die Rußbläser. Sie sorgten durch einen scharfen Wasserstrahl, den sie durch eine Luke auf die Steigrohre richteten, dafür, dass an den Steigrohren keine großen Schlackeklumpen entstanden. Die Spülrinnenwärter dagegen hatten die Spülrinne von Ascheansammlungen freizuhalten. Das geschah ebenfalls mittels eines Wasserstrahls oder ganz einfach mit Schaufel und Spaten. Beide Arbeiten waren schwer, heiß und schmutzig. Ich war Spülrinnenwärter, oder im Kraftwerksjargon „Ascheprinz“. Micha und ich hatten Nachtschicht, und ich habe nie geahnt, wie hart Asche im Wasser werden kann, wenn sie sich eine Weile dort abgesetzt hat. Wir bekamen nun Knobelbecher und Fußlappen. auch wie man einen Fußlappen richtig um die Füße legt, damit man im Verlauf der Schicht keine Blasen an den Füßen bekommt, war eine neue Erfahrung. Meinen 19. Geburtstag haben Michel und ich auf einer Eisentreppe sitzend, neben der Spülrinne gefeiert. Die Nachtschicht hatte einen Vorteil, am Tag, wenn keine Schicht war und wir frei hatten, wurden wir in Ruhe gelassen.

Nach dem 2. Studienjahr war wieder ein Sommerlager fällig. Wieder ging es nach Böhlen bei Leipzig. Wieder waren wir auf der Friedrich-Ludwig-Jahn-Kampfbahn stationiert. Dieses Mal mussten wir dort in der Ringerhalle auf Strohsäcken übernachten. Wieder mussten wir die Kosten für das Lager erst erarbeiten. Dazu wurden wir in das Benzinwerk zum Kabelgräben Schippen geschickt. Es war schönster Sommer und das Arbeiten in der prallen Sonne war eine ziemliche Schinderei, zumal wir das ja nicht gewöhnt waren. Erschwerend kam hinzu, dass die Gräben in aufgeschütteten Boden geschlagen werden mussten, da stieß man ständig auf harte Gegenstände, die mühsam mit der Spitzhacke ausgegraben werden mussten. Heute macht man so etwas mit kleinen Baggern, aber 1959 gab es solche speziellen Bagger in der DDR nicht, ein Zustand der bis zum Ende der DDR bestehen bleiben sollte. Außerdem sollte es in dem Benzinwerk, das auch schon seit 1925 stand, keine Unterlagen über vorhandene Kabel, Rohre und Leitungen geben, die schon in der Erde lagen. Auch in diesem Falle war Handschachtung angesagt. In dem Benzinwerk herrschte strengstes Rauchverbot, es gab ganz wenige Räume, die extra für die Raucher eingerichtet waren. Da konnte man allerdings dann die Luft schneiden. Die Hälfte der Sommerlagerzeit wurde also gearbeitet, die andere Hälfte war vormilitärische Ausbildung. Allerdings waren wir ja nun zweites Studienjahr und im Umgang mit den Ausbildern schon so erfahren, dass man sich das Ganze erträglich gestalten konnte.

Das Beste an dem diesjährigen Lager war, dass wir gemeinsam mit dem Studentenkabarett „Rat der Spötter“ in Böhlen waren. Dieses Studentenkabarett war damals ein ganz berühmtes Kabarett, das im sog. „Spötterkeller“ unter dem Nikolaikirchhof spielte. In diesem Kabarett waren auch 2 Physikstudenten vertreten, die aber wegen schlechter Studienleistungen zeitweilig nicht spielen durften. Der größte Teil des Kabaretts waren Journalistikstudenten, lediglich der Chef studierte an der Theaterhochschule [*] So lernten wir Gomorrha (den Chef), Ernst, Schnafte, den Pianisten und andere kennen. Sie spielten im Lager alle ihre Programme, und wir hatten viel Spaß miteinander. Es waren jedenfalls alle dufte Kumpel. Gomorrha ist Peter Sodan, er war bis vor kurzem fast 25 Jahre Intendant des neuen Theaters in Halle, er ist heute ein beliebter und geachteter Fernsehschauspieler. Ernst ist Ernst Röhl, eine beliebter Schriftsteller, der schon zu DDR-Zeiten Mitarbeiter und Autor für die Satire-Zeitschrift „Eulenspiegel“ war, und der insbesondere die typischen DDR-Begriffe gesammelt hat. Von ihm gibt es unzählige humoristische Bücher. Leider wurden die „Spötter“ nach dem 13. August 1961 verhaftet, und man machte ihnen einen Prozess wegen Hetze gegen die DDR. Diese Ereignisse hat Röhl in seinem Buch [*] eindrucksvoll beschrieben. Jedenfalls kam unser Freund Wolfgang W. am 10. Juni 1962 zu meiner Verlobungsfeier mit der Nachricht: „Die Spötter sind frei!“ Das haben wir dann außer unserer Verlobung richtig gefeiert. Sie hatten ein dreiviertel Jahr in Untersuchungshaft gesessen und waren dann zu Bewährungsstrafen verurteilt worden.

Nun noch zur Entstehungsgeschichte meiner Freundschaft mit Wolfgang W.  Wolfgang war gleichaltrig, aber ein Studienjahr unter uns. Auf diese Art und Weise waren wir nun zusammen im Studentenlager. Er hatte gute Beziehungen zu den „Spöttern“, da die Mitglieder im Kabarett, die Physiker waren, aus seinem Studienjahr kamen.

Am letzten Abend des Sommerlagers war die übliche Abschlussfeier in irgendeinem Saal im Nachbarort Rötha, zu DDR-Zeiten bekannt durch seinen Obstwein und die Obstweinschenke mit einer Tradition bis ins 18. Jahrhundert. Eine Reihe von Kommilitonen hatte sich in der Obstweinkelterei mit größeren Mengen Obstwein eingedeckt, und während der Fete nuckelten sie die Flaschen genüsslich aus.

Die Folgen waren furchtbar. Da die Jungs offenbar größere Mengen Obstwein nicht vertrugen, gab es in unserer Ringerhalle bald eine Reihe von Obstweinleichen, die „im eigenen Saft“ lagen. Die Sauerei war grandios. Wolfgang und ich und noch ein Dritter, dessen Namen ich nicht mehr weiß, verfrachteten die Obstweinleichen unter die Dusche, die es glücklicherweise nebenan gab, und die Decken schmissen wir hinterher. Dabei hatten wir alle je eine brennende Zigarette im Mundwinkel, sonst war der Gestank nicht auszuhalten. Am nächsten Morgen hatten einige große Probleme, pünktlich abmarschbereit für die Heimfahrt anzutreten.

Seit dieser Nacht mit den Obstweinleichen in der Ringerhalle bin ich mit Wolfgang W. befreundet.

Übrigens haben solche Sommerlager für Studenten, die nicht der Reserve der Nationalen Volksarmee angehörten, bis zum Ende der DDR 1989 stattgefunden. Mein ältester Sohn, auch Physikstudent, hat 1985 an einem solchen Sommerlager teilgenommen.


* Ernst Röhl, Rat der Spötter,
Das Kabarett des Peter Sodann, Gustav Kiepenheuer Verlag GmbH Leipzig 2002.



     Seitenanfang
Website der AG Zeitzeugen
Templates