uni

Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

Arbeitsgruppe Zeitzeugen
der Seniorenakademie

Berichte über Erlebnisse

Was wir wollen | Berichte schreiben | Chronik | Aktuelles | Impressum

Der neunte Oktober 1989 in Leipzig

Ein Bericht von Wolfgang Hirsch, Eilenburg

Er begann wie ein ganz normaler Montag, der eine ganz normale Arbeitswoche einleiten sollte. Wie an jedem Arbeitstag fuhr ich von Eilenburg mit dem Zug zum Leipziger Hauptbahnhof, stieg in die Straßenbahn, um mich an meinen Arbeitsplatz an einem Leipziger Institut zu begeben.

Trotzdem lag etwas in der Luft. Die offiziellen Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR waren gerade vorüber. Soweit ich sie im Rundfunk, in der Presse und am Fernseher verfolgt hatte, machten sie einen gespenstischen Eindruck. Ich wusste von den Montagsgebeten in der Leipziger Nikolaikirche, war aber niemals dabei gewesen. Die DDR-Medien schwiegen darüber oder ergingen sich in allgemeinen Beschimpfungen über Zusammenrottungen angeblich krimineller Elemente. Kein Wort darüber, dass sich die Bürger massenhaft über die Tschechoslowakei oder Ungarn und Österreich nach der Bundesrepublik absetzten. Dass Ungarns Außenminister gerade in einer Aufsehen erregenden öffentlichen Aktion eigenhändig den Stacheldraht zwischen Ungarn und Österreich durchschnitten hatte, erfuhr ich nur über das Westfernsehen. Meine Tochter, die gerade ihr Abitur abgelegt hatte, konnte von Glück reden, dass das Ziel ihrer Klassenfahrt zum Abschluss der Schulzeit noch Karlsbad in der damaligen CSSR sein konnte. Als sie von dort zurückkam, waren auch die Grenzen in dieses benachbarte sozialistische Bruderland dicht.

Nach Arbeitsschluss wartete ich vergeblich auf die Straßenbahn, die mich zum Hauptbahnhof bringen sollte. Wohl oder übel musste ich zu Fuß durch die Leipziger Innenstadt gehen. Dort fanden gerade die Leipziger Markttage statt. Aber die zahlreichen Menschen, die die Innenstadt belebten, hatten nicht nur das vergleichsweise attraktive Warenangebot der zahlreichen Verkaufsstände im Sinn.

Als ich auf dem Marktplatz angekommen war, hörte ich, wie Gewandhauskapellmeister Kurt Masur auch im Namen weiterer Leipziger Persönlichkeiten einen Aufruf verlas, in dem er, getrieben von Besorgnis über die Entwicklung in Leipzig, einen freien offenen Meinungsaustausch anmahnte und zu Ruhe und Besonnenheit aufrief.

Ich hatte ein sehr mulmiges Gefühl, wie dieser Abend verlaufen könnte. Ich sah, wie die Menschen, nachdem sie diese Ansprache vernommen hatten, sich ruhig und besonnen zum Karl-Marx-Platz, dem heutigen Augustusplatz begaben und sich für die kommende Demonstration fertig machten. Ich sah mir die Leute genau an. Waren es hauptsächlich Studenten? Tatsächlich, viele junge Leute waren dabei. Aber es waren auch andere dabei. Einige sahen aus, als ob sie gerade erst ihr Arbeitsgerät an der Werkbank beiseite gelegt hätten. Andere hatten, wie ich, offensichtlich eben erst ihren Schreibtisch aufgeräumt. Wieder anderen sah man an, dass sie ihrem scheinbaren Alter zufolge bereits Rentner waren. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Aus jedem Berufsstand, aus jeder Volksgruppe waren Leute dabei. Das ganze Volk ging zur Demonstration. Niemand hatte sie gerufen, niemand delegiert. Und sie hatten Angst, wie ich. Das konnte man ihnen ansehen. Aber sie gingen trotzdem. Ich sah aber auch, dass sich rings um den Platz, an allen Straßenkreuzungen und Einmündungen zwischen Karl-Marx-Platz und Hauptbahnhof und an weiteren strategisch wichtigen Punkten bewaffnete Truppen positioniert hatten. Zahlreiche LKWs waren aufgefahren, auf denen Bewaffnete der Bereitschaftspolizei saßen. Ob auch Kräfte der NVA dabei waren, konnte ich nicht erkennen. Ich sah aber, dass sie, ganz untypisch für die damaligen bewaffneten Kräfte, außer ihren Handfeuerwaffen auch Gummiknüppel und mannshohe durchsichtige Plasteschilde mit sich führten. Wie ich noch bemerkte wurde jedem, der jetzt noch ins Leipziger Stadtzentrum wollte, der Zugang ohne Angabe von Gründen verwehrt.

Ich überlegte, ob ich an der Demonstration teilnehmen würde. Ich war hin und her gerissen. Einerseits hatte ich Angst um meine Familie in Eilenburg. Sie konnte nicht wissen, wo ich mich befand. Eine kurzfristige telefonische Absprache war nicht ohne weiteres möglich. Wer hatte damals schon ein Telefon? Andererseits spürte ich, dass hier etwas ganz besonderes, bisher nie Erlebtes im Gange war und dass es wichtig wäre, dabei zu sein. Aber ich hatte Angst. Ich bin kein Held. Die Angst siegte. Ich ging zum Hauptbahnhof durch ein Spalier von Polizisten und weiteren offenbar kasernierten Kräften, die mich, wie es schien,  misstrauisch musterten und fuhr mit dem nächsten Zug nach Hause.

Dort verfolgte ich im Westfernsehen die Berichterstattung über diesen denkwürdigen Abend.

 



     Seitenanfang
Website der AG Zeitzeugen
Templates