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Der sanfte Tod des Kabaretts „Die Stichlinge“

Ein Bericht von Wolfgang Hirsch, Eilenburg

In den fünfziger Jahren wurden Intellektuelle, zu denen man vor allem Ärzte und Künstler zählte, per se von den Genossen, die an den Hebeln der Macht saßen, misstrauisch beäugt. Aber ohne Kunst und ohne vorzeigbare wissenschaftliche Leistungen ging es auch nicht.

Partei und Regierung befanden sich in diesem Punkt in einer Zwickmühle. Eine neue Art von Kultur sollte her und proletarisch musste sie sein – auch auf dem Lande. Dies galt es zu fördern. Außerdem: In den Jahren nach dem 17. Juni 1953 hatten viele, auch junge, gut ausgebildete Menschen unter Diskriminierungen mancher Art zu leiden – einfach, weil ihre Eltern Ärzte, Pfarrer, Künstler oder mittelständische Unternehmer waren. Zehntausende waren schon über die damals noch offene Grenze gegangen, um diesem Druck zu entgehen.

Auf den Dörfern war damals genauso wenig los, wie heute. Fernsehen gab es auch noch nicht, sondern meist nur eine Kneipe. Einmal im Monat kam der Landfilm, um im Tanzsaal des Dorfgasthofes oder wo sonst eine Möglichkeit bestand, einen Film vorzuführen. Das war schon alles.

Da kam eine Lehrerin unserer kleinen Dorfschule in der Nähe von Jena auf die Idee, ein Kabarett zu gründen. Ich war 15 oder 16 Jahre alt, ging in der Kreisstadt zur Oberschule und wusste in den Abendstunden auch nicht allzu viel mit mir anzufangen. Also machte ich mit.

Aus den oben genannten Gründen wurde das Vorhaben von den Parteioberen geduldet. Schließlich wollte man die Bevölkerung einigermaßen bei Laune halten.

Wir bastelten uns ein kleines Nummernprogramm zusammen, dass auf die damals aktuellen Unzulänglichkeiten Bezug nahm: Es ging hauptsächlich um Missstände bei der Versorgung mit Lebensmitteln, mit Industriewaren, um bürokratische Herzlosigkeiten und ähnliches. Politische Fragen trauten wir uns nicht, zum Thema zu machen – die Schere im Kopf funktionierte schon ganz gut. Und die damit verbundenen Risiken – unsere Leiterin konnte ihre Anstellung als Lehrerin verlieren,  wir Jungen riskierten unseren Platz an der Oberschule, den wir uns mühsam erkämpft hatten -  waren uns zu groß.

Glücklicherweise blieben für den Anfang immer noch genug Themen übrig, die wir bearbeiten konnten. Aber es fehlte an fachlicher Anleitung. Durch Zufall lernten wir einen Mitarbeiter der Bühnen der Stadt Gera kennen. Wenn ich mich recht entsinne, war er dort als Dramaturg tätig. Der kam einmal in der Woche zu uns aufs Dorf und weihte uns in die Grundlagen der Schauspielkunst ein. Autos gab es kaum, auch keine Busverbindung oder ähnliches. Also setzte sich der etwa 50jährige Mann nach Feierabend auf das Fahrrad und radelte mehr als 30 Kilometer, um gemeinsam mit uns das Programm zu erarbeiten und zu proben. Spät abends fuhr er genau so wieder zurück, denn am nächsten Morgen wartete in seinem „Musentempel“ wieder der normale Arbeitsalltag. Er erwartete und bekam auch für diese Tätigkeit keinen Pfennig. Noch heute habe ich hohe Achtung vor dem Engagement und der Leistung dieses Mannes.

Nach und nach stellten sich Erfolge ein. Wir wurden bekannt und waren auf den Dörfern der Umgebung mit unserem Programm gern gesehene Gäste. An die Kernaussage eines unserer Sketche erinnere ich mich noch bruchstückhaft. Es ging auch damals schon um das Formularunwesen und um bürokratische Übertreibungen. Die Fabel: Die Putzfrau Müller benötigte Altpapier, weil sie damit die Fenster des Büros der Werkleitung abreiben wollte. Sie ging zum Leiter des Materiallagers und bat um ein paar Blätter. Der verlangte von ihr, dass sie Anträge in mehreren Durchschlägen an die Werkleitung, den Material-Disponenten, die Betriebsgewerkschaftsleitung, die Parteileitung und noch einige andere Entscheidungsgremien zu stellen habe. Da platzte ihr der Kragen. Die letzten Dialogzeilen lauteten. Putzfrau: „Ich brauche doch bloß ein paar Blätter!“ Lagerverwalter: „Frau Müller, Ruhe, Donnerwetter!“ Putzfrau: „Ich nehm’ die Formulare hier und pfeife auf ihr Altpapier.“ Sie knüllt die Anträge zusammen und reibt damit die Fenster blank. Es gibt eben Themen, die wohl immer aktuell bleiben werden – leider.

Ein Problem war, dass von uns eine so genannte „positive Satire“ gefordert wurde, was wir schon damals als ein Ding der Unmöglichkeit ansahen. Als uns immer öfter in die Programmgestaltung hineingeredet wurde und wir jungen Leute nach und nach zur Nationalen Volksarmee, zu Berufsausbildung oder Studium in die Städte abwanderten, starb unser Laienkabarett „Die Stichlinge“ einen sanften Tod.




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