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Alma Mater Lipsiensis
Universität Leipzig

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der Seniorenakademie

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Urlaub in Ungarn in den 60iger Jahren

Ein Bericht von Kornelia Mücksch, Schkeuditz

In der ersten Hälfte der 60iger Jahre war ein frei gestalteter Urlaub, bei dem man ohne Vorbuchungen einfach aufs Geratewohl ins Ausland fuhr, etwas ganz Ungewöhnliches für DDR - Bürger. Besonders aufwändig war es, nach Ungarn zu fahren, denn es wurden diverse Einreisegenehmigungen, Visa und Geldtauschgenehmigungen gebraucht. Ein ganzes Jahr lang mussten meine Eltern emsig planen, vor allem rechtzeitig bei der Polizei und anderen Behörden die notwendigen Genehmigungen beantragen und auch sonst alle denkbaren Vorbereitungen treffen, damit wir 4 Kinder gemeinsam mit ihnen in einen erholsamen und trotzdem preiswerten Campingurlaub nach Ungarn fahren konnten. Besonders wichtig war es auch, das Maximum an Forint und Kronen zu erhalten, denn wir waren im Ausland auf dieses meist viel zu geringe Geldlimit angewiesen, da wir im Vorhinein nichts in Mark bezahlen konnten.

Eine Fahrt in den Campingurlaub nach Ungarn mit 4 kleinen Kindern war nur mit 2 Autos möglich. So traf es sich gut, dass mein Opa mit einem kaputten Lloyd Alexander vor einigen Jahren aus dem Westen nach Hause in die Lausitz gekehrt war. Allerdings blieb das Auto kurz vor dem Heimattor einfach stehen und Niemand schaffte es, es wieder in Gang zu bringen. Als Wrack musste es deshalb einige Jahre auf dem Hinterhof warten, bis es schließlich das Glück wollte, dass ein Kfz – Mechaniker aus dem Westen viele kostbare Autoersatzteile mit in den Osten brachte. Da auch einige lebenswichtige Teile für unseren Lloyd dabei waren, konnte mein Vater das Auto nach vielen Mühen wieder einigermaßen flott machen.

Hinfahrt mit Hindernissen

In einem Juli Mitte der 60iger Jahre war es dann endlich soweit. Der alte Lloyd und unser neuer Trabi Kombi waren mit Hausrat schwer beladen. Und dann ging es los. Mein älterer Bruder oder ich saßen abwechselnd mit der Karte in der Hand als Beifahrer neben Papa im Lloyd, während die restlichen 3 Kinder bei Mutti im Trabi an Bord waren. Unsere kleine Kolonne brauchte aber regelmäßig 3 Tage, bis wir an unserem Ziel angekommen waren, denn jede Fahrt entwickelte sich zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang.

Meist war der Lloyd daran schuld, dass es zu Verzögerungen kam, denn mit seinen wesentlich geringeren PS als der robuste Trabi wuchs sich zum Beispiel jeder längere Berg zu einem Riesenproblem aus. Mein Vater wusste dann schon, dass er ab einer bestimmten Stelle in Brno tüchtig Anlauf nehmen musste, damit er es wenigstens bis zu einer kleinen Haltenische oben auf dem Berg schaffte. Leider aber ächzte meist noch ein langsamerer LKW vor uns den Berg hinan, so dass der Schwung schon vorzeitig weg war und Papa sämtliche Bremsen einschalten musste, damit das Auto nicht wieder den Berg runterrollte. Einmal mussten wir sogar rausspringen und das Auto festhalten bis Mutti mit dem Trabi ganz sanft von hinten den Lloyd abfangen konnte. Die Bremsen waren eben auch nicht die besten. Nach einer längeren Verschnaufpause für Auto und Mensch ging es dann wieder mit frischem Mut und neuem Anlauf weiter.

Die größten Probleme bereitete allerdings die Auspuffanlage beim Lloyd. Sie war einfach nicht dauerhaft reparabel. Wir verloren öfters mal Teile oder es riss gar der Vorschalldämpfer ab, so dass wir bei dem Radau fast taub wurden. Bei all diesen Pannen lernten wir allerdings die übergroße Herzlichkeit und Gastfreundschaft vieler Menschen, insbesondere auch in der Slowakei und Ungarn, kennen und schätzen. Nie werde ich vergessen, wie mitunter das halbe Dorf zusammenlief, wenn wir mit letzter Kraft angeschlichen kamen. Die Leute, die gemütlich auf ihrer Bank vor ihren Häusern gesessen und ihren Feierabend genossen hatten, kamen mit Waschschüsseln zum Händewaschen, mit Ãpfeln, Aprikosen und anderen Lebensmitteln zu uns gelaufen, um uns etwas Gutes zu tun. Sie brachten uns Weckgummis und Schnüre, um den Auspuff anzubinden, und sie brachten meinen Vater zum Dorfschmied oder Dorfmechaniker, um mit vereinten Kräften und Ideen das leidige Auspuffproblem in den Griff zu bekommen. Da wir ohnehin kaum Geld hatten, zumal die Umtauschmenge gerade auch für Forint extrem gering war, konnten wir uns keinerlei Extraausgaben für Reparaturen leisten. Wir waren zu einem großen Teil gerade im Ausland auf die uneigennützige Hilfsbereitschaft der Menschen auf unserem Weg angewiesen. Und uns wurde überall nach Kräften geholfen. Ãœberall wurden wir mit offenen Armen und großer Herzlichkeit empfangen. Das haben wir immer und immer wieder erlebt. Das hat sich mir als schönste Erinnerung an die Ungarnurlaube fest eingegraben.

Der große Sturm am Balaton

Unseren ersten Ungarnurlaub verbrachten wir in Balaton Akali. In den 60iger Jahren war der Balaton noch ein urwüchsiges Gewässer, dessen Nordufer mit Schlamm, spitzen Steinen und unglaublich vielen Muscheln übersät war. Uns bluteten die Füße, wenn wir ins Wasser stiegen, um ins Tiefe zu gelangen. Der Campingplatz selbst war eine normale Wiese, auf der viel Platz war. So postierten wir uns mit unserem Steilwandzelt direkt am Ufer hinter einer Wand aus Schilf und einem dünnen Baum, der davor aufragte. Eines Morgens, als ich aus dem Zelt trat, sah ich in der Astgabel dieses Baumes eine wunderschöne bunte Schlange hängen. Es war wie ein Omen für das, was danach folgte.

Denn gegen Mittag kam plötzlich ein starker Wind auf. Er pfiff über die glatte Fläche, so dass die nur leicht befestigten Zelte bald fortzufliegen drohten. Ein Ehepaar aus Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, das sich neben uns aufgebaut hatte, war für ein paar Tage in die Puszta gefahren und hatte uns gebeten, ihr Zelt im Auge zu behalten. Die „Hundehütte“ war schon ziemlich morsch und wurde mit Folie abgedichtet und mit Wäscheklammern an den neuralgischen Stellen zusammengehalten. Ich bemühte mich nach Kräften, bei dem Sturm den aufreißenden Eingang mit noch mehr Wäscheklammern zu schließen. Das gelang zwar nicht vollkommen, aber erstaunlicherweise hielt dieses Zelt selbst bei dem nachfolgenden Orkan stand.

Andere Zelte aber waren längst wie Ballons aufgestiegen oder als fliegende Fetzen herumgeweht worden. Ihre Besitzer fingen die Zelte ein und setzten sich solange drauf, bis sie ihre Habe gesichert hatten. Wir aber mit unserem umfangreichen Haushalt konnten es uns nicht leisten, das Zelt einfach abzubrechen. Meine zwei jüngeren Brüder, Kleinkinder noch, wurden deshalb zu ihrer Sicherheit in den Trabi verfrachtet. Wir vier Anderen aber stellten uns dem Sturm, der in rasender Geschwindigkeit zum Orkan angewachsen war. Zum Glück regnete es am Anfang nicht. Als erstes band mein Vater das Zelt mit sämtlichen verfügbaren Leinen an den Autos und dem bewussten Baum fest. Danach ging er mit meinem Bruder auf die Suche nach starken Astgabeln. Sie fanden mehrere knorrige Stämme, die wie kleine Bäume aussahen. Einige rammten sie in die Erde und hielten das bedrohte Zeltgestänge damit senkrecht. Als der Sturm immer schlimmer wurde, stemmten wir uns schließlich abwechselnd selbst von innen in den bedrohten Ecken dem Nordwind direkt entgegen. Die ganze Nacht über dauerte der furchtbare Kampf gegen die immer wieder neu anstürmenden Windböen, die nachts auch etwas Regen mitbrachten. Wir waren am Morgen völlig entkräftet. Aber wir blieben letztendlich als eins der wenigen Zelte siegreich.

Allerdings war unser Widerstand nicht halb so gefährlich wie der aussichtslose Kampf, den ein großes Segelschiff draußen auf dem Balaton mit den Naturgewalten führte. Stundenlang beobachteten wir, wie das Schiff mit seinem kleinen Boot, das als Anhängsel von den losgelassenen Elementen wild herumgeschleudert wurde, immer wieder in den Wellentälern versank, um kurz hinterher wieder schwankend aufzutauchen. Schließlich wurde es Nacht und am Morgen war von dem Schiff nichts mehr zu sehen. Wir fragten uns, warum kein motorisiertes Schiff zu Hilfe gekommen war. Aber natürlich war ein solcher Orkan durch kein Schiff mehr zu beherrschen. Nur die rechtzeitige Flucht an das rettende Ufer hätte bei einer solchen Wetterlage helfen können. Wir wissen bis heute nicht, ob die Segler ertrunken sind oder nicht.

Am nächsten Morgen, als der Sturm plötzlich vorbei war, sahen wir das ganze Ausmaß der Katastrophe. Das Wasser war von unserem Ufer viele Meter weit völlig zurückgewichen. Vor uns lag ein Meer von Schlick, spitzen Steinen und Muscheln und weit hinten begann wieder das Wasser. Vielleicht hätten wir fast bis zur Mitte des Balaton gehen können, ohne schwimmen zu müssen. Wir haben es nicht versucht, denn es war ziemlich kalt und wir hatten Angst, dass das Wasser schnell zurückkommen könnte. Stattdessen sammelten wir die verhassten Muscheln und die schlimmsten Steine eimerweise von unserem Badeeinstieg weg und warfen sie ins Schilf.

Ein Jahr später, als wir in Siofok am Südufer Urlaub machten, erzählten uns die Leute, dass bei dem Orkan eine riesige Flutwelle den breiten Sandstrand bis über die Straße hinaus überflutet hätte. So etwas hatten die Ungarn noch nicht erlebt. Der dortige Campingplatz war rettungslos verloren. Selbst in den Häusern hinter der Straße stand das Wasser bis in den Hof. Aber es gab wohl keine Todesopfer unter den Campern zu beklagen, obwohl Niemand wirklich etwas Genaues wusste. Wir waren jedenfalls äußerst dankbar dafür, dass wir am Nordufer so glimpflich der Katastrophe entgangen waren.

Überschwemmung am Balaton

In einem darauf folgenden Jahr wurden wir am Balaton mit einer äußerst ungewöhnlichen Überschwemmung konfrontiert. Normalerweise fällt in den Monaten Juli und August in Ungarn kein Regen. Aber in diesem Jahr war alles anders.

Je näher wir dem Balaton kamen, desto öfter sahen wir überschwemmte Straßen. Das Befahren der Straßen war teilweise schon gefährlich, denn wir mussten uns mitunter wie ein Pflug durch riesige Wasserlachen lavieren. Es regnete zwar im Moment nicht, so wie wir das in der Tschechei allgemein gewöhnt waren, aber daran, dass ausgerechnet hier Dörfer und Städte teilweise ziemlich bedrohlich unter Wasser standen, sahen wir, dass sich hier kürzlich ungewöhnliche Wolkenbrüche abgeregnet haben mussten. Und neuer Regen lag in der Luft. Als wir am Kamm des Gebirgszuges standen und auf den Balaton in der Senke vor uns herunterschauten, ließen uns die unheilvoll dicken Dunstwolken, die über dem See hingen, nichts Gutes ahnen. Wir überlegten deshalb bereits, ob wir besser umkehren sollten.

Aber dann siegte der Zweckoptimismus. Wir fuhren die engen Straßen hinunter und steuerten den erstbesten Campingplatz an, denn wir waren völlig erschöpft und wünschten uns nur noch Ruhe. Mein Vater fuhr zum Tor des Campingplatzes hinein. Im letzten Moment aber merkten wir, dass wir hier nicht wieder herauskommen würden, wenn wir nicht sofort anhielten. Der ganze Campingplatz war nämlich ein einziger Morast. Die Camper kämpften sich mit Gummistiefeln durch den knietiefen Modder und versuchten wild gestikulierend, uns an der Weiterfahrt zu hindern. Und dann sahen wir das ganze Panorama des Unglücks. Es war erschreckend. Um jedes Zelt zogen sich gewaltige Wassergräben, die noch tiefer und tückischer als der umgebende Morast waren. Und die Leute hockten auf Stühlen oder Gestellen in ihren Steilwandzelten, denn der Untergrund war eine einzige Suppe. Es gab wohl Notquartiere in dem festen Gebäude nebenan, wo die am schwersten Betroffenen sich zum Schlafen hinlegen konnten, denn aus diesem Morast konnte Niemand sein Zelt oder gar sein Auto befreien. Das war das Schlimmste. Die Camper saßen hier einfach in der Falle. Sie mussten solange ausharren, bis der Morast wenigstens soweit abgetrocknet war, dass sich ein stabiler Untergrund bilden konnte.

Wir standen nun auf festem Pflaster vor dem Tor – hungrig, müde und erschöpft und wussten nicht weiter. In der kleinen Bar in dem einzigen festen Gebäude ringsum trafen wir schließlich einen Kellner, der uns radebrechend klar machte, dass in der Puszta das Wetter ganz anders sein könnte. Da er sowieso nach Hause fahren wollte, würde er uns den Weg zu einem versteckten Campingplatz an einem kleinen See in der Puszta zeigen. So entschieden wir, dass Mutti mit meinen jüngsten Brüdern erst einmal am Balaton zurückbleiben und sich ausruhen sollte, während mein älterer Bruder und ich meinen Vater und den Kellner auf der Erkundungsfahrt in die Puszta begleiten durften.

Die Puszta – eine andere Welt

Die Donau ist tatsächlich eine Wetterscheide. Als würde ein Vorhang zur Seite geschoben, erstrahlte plötzlich die Landschaft in gleißendem Sonnenschein, als wir die Donau überquert hatten. Aber hinter dem Vorhang kam noch ein anderes Wunder zutage, denn ich hatte plötzlich das merkwürdig mulmige Gefühl, als würde ich nicht mehr in der Gegenwart, sondern zeitversetzt 100 Jahre früher leben. Je weiter wir fuhren, desto mehr verwandelten sich die Häuser und sogenannten Straßen in armselige Ansiedlungen, durch die sich teilweise nur noch ungepflasterte Fuhrwege wanden.

Ich traute meinen Augen kaum, als ich Herden von schwarzen, rosa und gescheckten Schweinen in lichten Wäldern „grasen“ oder irgendetwas fressen sah, während der Hirt, gemütlich auf seinen Stab gestützt, dabei stand. Auch Kühe standen in diesen Buschwäldern oder liefen frei und ungeniert wie normale Dorfbewohner auf der Straße gemächlich herum, um selbständig auf ihren Hof zurückzukehren. Die klugen Tiere wussten offensichtlich genau, wo sie zu Hause waren. Ich sah auch kein „normales“ Haus mehr, sondern nur noch Lehm- und Holzkaten, die mit Stroh gedeckt waren. Die Höfe waren von merkwürdigen Zäunen umschlossen, denn die Latten waren einfach in den Boden gerammte Holzstöcke, die in unterschiedlichsten Breiten und Höhen vor allem wohl dem Zweck dienen sollten, die dort frei herumlaufenden Schweine, Hühner und andres Getier am Weglaufen zu hindern. Auf diesen „Zäunen“ wurde wohl auch die Wäsche getrocknet, indem die Teile einfach darüber geworfen wurden.

Wasserleitungen oder ähnliches schien es hier auch nicht zu geben, denn jedes Gehöft hatte seinen mehr oder weniger einfachen Ziehbrunnen. Auch Strom war hier wohl eine Seltenheit. Man sah in einigen Dörfern jedenfalls keine Strommasten und die Katen wirkten wie aus der Zeit des Mittelalters. Das ganze Ambiente machte auf mich einen wilden und urwüchsigen Eindruck, gerade so, als ob die Kultur der Moderne hier noch nicht angekommen wäre. Es begegnete uns auch so gut wie kein Auto mehr. Stattdessen ging Mensch und Tier zu Fuß oder war mit dem Fuhrwerk unterwegs. Der Eindruck eines unfassbaren Zeitsprunges vertiefte sich für mich auch noch dadurch, dass buchstäblich an jeder Wegkreuzung Heiligenfiguren und Altäre aufgebaut waren, die mit Wiesenblumen bekränzt wurden. Für mich war der Anblick christlicher Symbole an der Straße derart ungewöhnlich, dass ich hier nicht mehr an die Gegenwart des Sozialismus glauben konnte.

Ich konnte mich gar nicht genug satt sehen an der unglaublichen Welt, durch die wir hier fuhren. Schließlich aber kamen wir wieder auf eine „normale“ Straße, die uns nun durch „normale“ Dörfer führte, in denen viele Gehöfte in gehörigem Abstand von der Straße hinter Ziegelmauern oder dichten Zäunen weitgehend unsichtbar blieben. Die Straße, die sich mit vielen Windungen und Abzweigungen letztendlich bis zu einem wunderschön mit unzähligen Birken bestandenen Wiesengelände hinschlängelte, gehörte nun wieder den Fahrzeugen und geschäftig umhereilenden Menschen.

Als wir ein verfallenes Holztor passiert hatten, wussten wir, dass wir angekommen waren. Der milde Schatten der leise säuselnden Birken war eine Wohltat nach der sengenden Hitze der Straßen. Im Hintergrund sahen wir nun auch einen herrlich verwunschen daliegenden kleinen See schimmern. Das also war nun unser Campingplatz. Ich war begeistert. Die ungarische Sonne hatte mich völlig ausgedorrt, so dass ich nur noch den Gedanken hegte, sofort ins kühle Nass zu springen. Aber wir mussten uns natürlich erst anmelden. So erfuhren wir, dass dieser See eigentlich ein Anglerparadies war und der „Campingplatz“ dazu diente, den Anglern, die teilweise aus Budapest oder Szeged hierherkamen, Stellplätze für ihre Zelte zu geben. Abends und nachts war deshalb generelles Badeverbot, denn dann war Angelzeit. Auch meine Brüder entdeckten hier später die Angelromantik und gingen, mit vor sich hinqualmenden Papierrollen gegen die Mückenplage ausgerüstet, auf die nächtliche Fischjagd. Aber auch am Tage saßen die Angler auf ihrer Plattform mitten im See. Zum Glück für uns Wasserratten erschienen kurz nach unserem Eintreffen zwei Jugendgruppen, die auch baden wollten, so dass wir die Angler tagsüber in die Nischen am Schilf vertreiben konnten. Hier war jedenfalls für uns der ideale Urlaubsort. Das sahen wir sofort nach unserer Ankunft. Deshalb holte mein Vater den Rest der Familie, während mein Bruder und ich das Zelt aufbauten.

Markttag in der Puszta

Auch hier in Soltvadkert hatten wir wohl gerade den Zeitpunkt abgepasst, an dem die Moderne des Tourismus soeben über die Schwelle des Altertümlichen zu treten begann. Es gab bereits Stromanschluss und einige Wasserstellen auf dem Platz, ein neu gebautes, aber noch nicht ganz fertig gestelltes Sanitärgebäude und deshalb noch einige Plumpsklos, die weitab in einem verwilderten Gelände vor sich hinmüffelten. Dorthin musste man sich mit einer Taschenlampe durch das Dickicht seinen Weg bahnen, wenn man von gewissen Bedürfnissen in der Nacht überfallen wurde.

Ungewöhnlich geschichtsträchtig war für mich auch der Bauernmarkt, auf dem in dem Ort mehrmals in der Woche die Bauern alles das verhökerten, was sie nicht in Budapest oder andren großen Städten loswerden konnten. Hier entdeckten wir unser Einkaufsparadies, denn hier gab es alle Lebensmittel, die der Bauernhof zu bieten hatte, in bester und sonnengereifter Qualität. Wir hatten bald herausgefunden, dass für uns die günstigste Einkaufszeit kurz vor dem Ende des Marktes war. Gegen 7.30 Uhr konnten wir zum Ausverkaufspreis eimerweise Pfirsiche, Tomaten, Paprika, Aprikosen und die uns dem Namen nach bis zur Wende unbekannten Nektarinen kaufen. Die Bauern waren froh, wenn sie endlich mit leeren Körben und gefüllter Brieftasche nach Hause gehen konnten.

Bald stellten wir außerdem fest, dass neben Obst und Gemüse nicht nur die frischen Eier vom Bauernhof ein Hochgenuss waren, sondern auch der wunderbare Quark und die herrliche Sahne, die die Bauersfrauen in Konkurrenz zueinander anboten. Mutti und ich wurden als Schiedsrichter auserkoren und mussten von jedem Quark und jeder Sahne jeder Bäuerin kosten. Obwohl es kaum Unterschiede gab, haben wir dann immer ordentlich bei der besten Variante eingekauft. Dazu besorgten wir uns die für uns ungewöhnlichen roten Kartoffeln, die in Ungarn wie ein kostbares Edelgemüse, nicht wie ein Grundnahrungsmittel behandelt wurden. Dann war wieder ein Festmahl für uns gesichert. Wenn unser mitgebrachtes Schwarzbrot ausging, mussten wir auch das allgegenwärtige ungarische Weißbrot kaufen. Aber auch diese Umstellung war für uns kein Problem. Als schönste Gaumenfreude sind mir allerdings die saftigen Weintrauben in Erinnerung geblieben, die nur einmal in einem ungewöhnlichen Jahr bereits im August gereift waren. Eine ganze Nacht lang konnte ich nicht schlafen, weil neben mir der Eimer mit dem Wein stand und ich nicht aufhören konnte, zu naschen. Ungarn war für mich einfach das Kur- und Erholungsparadies, weil man hier im Einklang mit der unverfälschten Natur ausgiebig schwimmen, genießen und all das essen konnte, was es bei uns nicht gab. Nach einem solchen Urlaub war ich monatelang mit einer Energie aufgeladen, die keine Müdigkeit kannte.

Auf dem Markt begegneten mir auch zum ersten Mal in meinem jungen Leben die sogenannten  Zigeuner. Niemand wusste etwas oder interessierte sich dafür, ob sie Sinti oder Roma waren und wo sie herkamen. Es waren einfach die Zigeuner, die hier auf dem Markt nicht mit Lebensmitteln, sondern mit Bergen von bunten gebrauchten Kleidungsstücken handelten. Bei ihnen haben wir zwar nie etwas gekauft und mit ihnen kamen wir auch nie in Kontakt, aber ich fand sie trotzdem faszinierend und beobachtete sie immer von weitem mit einem merkwürdigen Gemisch aus Angst und Hochachtung.

Von Imre, unserem langjährigen Freund, erfuhren wir später, wie problematisch für die Ungarn der Umgang mit den Zigeunern war. Imre besaß einen großen Weinberg und eine riesige Pfirsichplantage und belieferte vor allem Budapest mit seinen Produkten. Er brauchte zu bestimmten Zeiten dringend Saisonarbeiter und hatte deshalb gute Beziehungen zu einigen Zigeunern. Er erzählte uns, dass die Zigeuner außerhalb von Ortschaften in Erdhütten lebten, wobei sie ihr „Dorf“ wie eine Burg mit Schutzwällen umgaben. Niemand durfte ungebeten ihr Dorf betreten. Auch Imre rief immer nur laut nach bestimmten Namen und wurde nie ins Allerheiligste hineingelassen. Aber wenn es vereinbart war, arbeiteten die Zigeuner zuverlässig und korrekt, so dass Imre gute Geschäftsbeziehungen mit ihnen pflegen konnte. Uns aber riet er, uns nie den Zigeunern aufdringlich zu nähern, da sie sich grundsätzlich angegriffen fühlten und die Messer bei ihnen deshalb locker saßen. Später hörten wir auch von einem Schuldirektor, dass es aussichtslos war, Zigeunerkinder in die Schulen integrieren zu wollen, weil die Eltern oder der Familienclan das meistens verhinderten.

Großes Dorffest in der Puszta

Ende August feierten die Ungarn ihren Nationalfeiertag. An diesem Tag verwandelte sich der Campingplatz in der Puszta in einen bunten Dorffestplatz. Sämtliche Großfamilien des Dorfes rückten schon früh am Morgen mit Kind und Kegel an, breiteten ihre Decken auf dem großen Wiesengelände und zwischen unseren Zelten aus und ließen es sich wohl sein. Besonders kurios empfand ich, dass die alten Opas mit ihrem besten schwarzen Anzug und Melone auf dem Kopf erschienen, obwohl sich meistens bis spätestens Mittag die ganzen Familien bis auf ihre Unterwäsche oder die jüngeren Leute ihre Badeanzüge ausgezogen hatten, um sich im See etwas abzukühlen. Zu diesem fröhlichen Gewimmel ertönte dann von Zeit zu Zeit typisch ungarische Musik, wobei sich Solisten und auch eine Kapelle immer wieder ablösten, indem sie an verschiedenen Stellen des Platzes ganz ungezwungen aufspielten. Alles verlief reibungslos und ungekünstelt, einfach selbstverständlich.

Und ganz selbstverständlich und in Ruhe wurden auch die Festvorbereitungen getroffen. Dass der große Feiertag wieder bevorstand, merkten wir spätestens einen Tag vorher, wenn riesige Kessel zwischen 2 Bäumen etwas abseits vom Campingplatz auf dem verwilderten Gelände aufgehangen wurden. Die Ungarn schafften nun Berge von Holz, Fleisch, Paprika, Gewürzen, Brot und Getränken heran. Schon ganz beizeiten kamen am Festtag die Köche, setzten die aufgeschichteten Holzhaufen unter den Kesseln in Brand und begannen, nun die Massen an Schweine- und Rinderhälften zu zerkleinern und in die Kessel zu werfen. Bald zogen verlockende Düfte durch die Landschaft und uns lief das Wasser im Mund zusammen, weil wir meist schon lange kein richtiges Fleisch mehr gegessen hatten.

So gehörten wir zu den ersten Kunden, die gegen Mittag eine Portion ungarischen Gulasch erstanden. Aber immer wieder mussten wir die typisch ungarische Erfahrung machen, dass wir die extrem scharfen Gerichte einfach nicht essen konnten. Und da alle Ungarn offensichtlich andere Gaumen haben als wir, gab es keine ausländerfreundlich milde Variante des feurigen Gulasch. Wir haben uns wirklich alle Mühe gegeben, durch Löschen mit viel Wasser und Stopfen mit Brot das Feuer in unserem Rachen auszutreten, aber wir haben es nie geschafft. So mussten wir das herrlich urtümliche Gericht mit den dicken Fleischklumpen und auch einigen Zähnen und Knochensplittern darin mit viel Wasser strecken und schließlich meist als Grundlage für einen Eintopf verarbeiten. Und selbst dann brauchten wir noch eine Menge Wasser, um den Brand beim Essen zu löschen. Trotzdem, es hat wunderbar geschmeckt, vor allem, weil es gewürzt war mit der einzigartig herzlichen und auch etwas kuriosen Atmosphäre der hier so vertraut um uns herum feiernden Leute, die uns einfach wie Altbekannte mit in ihre Feste einbezogen. Es ist mir allerdings bis heute unbegreiflich, wie die Ungarn ihre scharfen Gerichte ohne Ringen nach Luft und Tränenausbrüche essen können, als wäre das das Normalste von der Welt.



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