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Universität Leipzig

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Das Jahrhunderthochwasser im August 2002 in Eilenburg

Ein Bericht von Wolfgang Hirsch, Eilenburg

Wie alles begann

Die erste Monatshälfte im August des Jahres 2002 war wechselhaft und regnerisch. Die Mulde, ein Nebenfluss der Elbe, führte reichlich Wasser. Bei einsetzendem und immer stärker werdendem Regen fuhr ich am Montag dem 12. August nichts ahnend per PKW von Eilenburg zu einem internationalen Workshop nach Rawicz in Polen. Dort verfolgten wir am späten Nachmittag des 14. August im deutschsprachigen Fernsehen die Nachrichten. Mir lief es heiß und kalt den Rücken herunter, als ich erfuhr, was sich am Tag zuvor daheim abgespielt hatte. Über Handy rief ich meine Frau an. Sie teilte mir mit, dass Eilenburg von den Fluten der Mulde überschwemmt, unser Haus vom Wasser eingeschlossen und sie evakuiert worden war. Da hielt es mich nicht länger. Als ich unseren polnischen Gastgebern meine persönliche Situation erläuterte, stimmten sie zu, dass ich vorzeitig zurück nach Hause fahren könne.

Die Heimkehr

Am Donnerstag, dem 15.August kam ich bei trockenem Wetter am zeitigen Nachmittag wieder aus Richtung Leipzig zu Hause an. Oben am Eilenburger Stadtteil Berg war alles wie immer. Vorsichtshalber stellte ich mein Fahrzeug dort in einer Seitenstraße ab und legte den Rest des Weges ins Stadtzentrum zu Fuß zurück. An der Brücke, die über den Mühlgraben führt, erwartete mich die erste Überraschung: Dort standen uniformierte Wachposten und ließen nur die Personen durch, die per Ausweis nachweisen konnten, dass sie im Katastrophengebiet ihren Wohnsitz hatten.

Auf dem Weg zu unserem Haus war das Wasser von den Straßen erst teilweise abgeflossen. Der Wasserstand war zwar etwas zurückgegangen, aber nur einige Straßen waren schon passierbar. Auf den freien Abschnitten standen überall Pfützen. Die Kanalisation war übergelaufen, die Gullydeckel hatte es irgendwohin gespült. Man musste aufpassen, dass man nicht in die offenen Gullys trat. An Straßenecken, Bordsteinkanten und abschüssigen Stellen war alles unterspült, da gähnten plötzlich Löcher von z. T. mehr als einem halben Meter Tiefe.

Als ich endlich vor unserem Haus stand, sah es völlig verlassen aus. Der Vorgarten war völlig verschlammt. An der Fassade konnte man erkennen, dass der Putz sich dunkel verfärbt hatte und diese Verfärbung knapp unter den der Straßenfront zugewandten Fenstern eine schnurgerade Linie bildete. Bis dahin hatte das Wasser gestanden. Die Haustür ließ sich nur mit großer Anstrengung öffnen, denn das Holz war stark verquollen. Im Hausflur war das Wasser zwar abgelaufen, aber auch hier war alles verschlammt. Die Linie im Putz, die das Wasser hinterlassen hatte, war ebenfalls klar zu erkennen. Später maß ich nach, wie hoch das Wasser in den Wohnräumen gestanden hatte: Es waren 95 cm. Ich öffnete die Tür, die hinunter in den Keller führt. Ich konnte nichts erkennen, denn es war stockdunkel - der Strom war natürlich abgestellt. In der Dunkelheit rauschte es unheimlich. Dort stand das Wasser immer noch. Es reichte bis knapp unter die oberste Treppenstufe.

Dann öffnete ich die rückwärtige Tür, die zu Hof, Garage, Garten und Nebengebäuden für Heizanlage, Gartengeräte usw. führt. Der Hof liegt etwas niedriger, als das Straßenniveau. Insgesamt 5 Treppenstufen führen hinunter. Dort stand das Wasser immer noch, ein Betreten war nicht möglich. Später maß ich auch dort, wie hoch das Wasser stand: Es waren 1,55 m.

Im Erdgeschoss wohnte meine 88-jährige Schwiegermutter. Sie lag zu dieser Zeit gerade im Krankenhaus. Ich betrat ihre Wohnung und sah mich um: Sessel, Betten, Tische, Stühle – alles war vom Wasser wild durcheinander geworfen worden. Die Teppiche – verdreckt, mit Wasser voll gesogen und verquollen; Kleidung und Wäsche in den Schränken – nur noch zum Wegwerfen; Matratzen und Bettzeug – quietschnass, voll gesogen und verdreckt; die Nahrungsmittelvorräte im Kühlschrank – ungenießbar; Elektrische Haus- und Küchengeräte – Schrott; Möbel, Wohnungstüren – mit Wasser voll gesogen, verquollen, die Furniere hoben sich ab; die Badeeinrichtung – verdreckt; die Toilette – unbenutzbar. Aber die Gardinen, die Bilder an den Wänden, die Lampen, die Hängeteile in der Küche samt ihrem Inhalt – alles hing ordentlich an seinem Platz.

Per Handy rief ich meine Frau an. Sie war Angestellte der Eilenburger Stadtverwaltung. Man hatte sie am Dienstagmorgen in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett geklingelt. In aller Eile war ein Katastrophenstab gebildet worden, der sich um den Schutz, den Transport und die behelfsmäßige Unterbringung der Bürger und vieles andere zu kümmern hatte. In dieser Funktion war sie gerade damit beschäftigt, die vom Hochwasser betroffenen Bürger wo es ging, aufzusuchen, ihnen Notquartiere zu beschaffen, die Notversorgung mit Kleidung, Wäsche, Nahrung usw. zu organisieren und vieles andere.

Dieser Stab organisierte gerade von einem Schulgebäude aus, dass sich im nicht betroffenen Stadtteil Eilenburg Ost befand. Zu unserem im Stadtzentrum gelegenen Wohnhaus hatte sie keinen Zugang, denn beide Stadtteile waren wegen des Hochwassers voneinander abgeschnitten. Die ersten Nächte nach Eintritt der Katastrophe hatte sie notdürftig bei einer Bekannten im Stadtteil Ost auf der Couch verbracht. Mit dem Fahrzeug meines Sohnes, der aus Bremen zum Helfen gekommen war, fuhr sie an diesem Tag nach Bad Düben, um dort zu übernachten. Liebe Bekannte nahmen mich und meine Familie dort solange auf, bis wir unser Haus wieder gefahrlos betreten und dort Ordnung schaffen konnten.

Für mich war es an diesem Tag nicht einfach, bis nach Bad Düben zu kommen. Die Strecke Eilenburg – Laußig – Bad Düben konnte ich nicht nutzen, da die Mulde in Eilenburg ein unüberwindbares Hindernis bildete. Auch über die Bundesstraße 107 war eine Anfahrt nicht möglich, weil die Muldebrücke am Ortseingang von Bad Düben ebenfalls unpassierbar war. So musste ich einen weiten Umweg auf der Bundesstraße 2 über Bitterfeld, vorbei an dem sich rasch füllenden Tagebaurestloch des Goitsche-Stausees nehmen. Ich schaffte es mit knapper Not, denn kurz nachdem ich den Stausee passiert hatte, trat der ebenfalls über die Ufer und riss ein großes Stück der Straße weg, die ich eben noch entlang gefahren war.

Das große Aufräumen beginnt

Am einem der nächsten Tage fuhren wir mit dem PKW nach Eilenburg Ost, wo meine Frau ihrer Arbeit nachging. Das Wetter hatte mittlerweile aufgeklart – es wurde trocken und heiß. Die Stadtverwaltung gab inzwischen den Stützpunkt in Eilenburg Ost auf und richtete sich in einem Schulgebäude im Stadtteil Berg ein. Damit verlagerte sich der Arbeitsplatz meiner Frau auf die andere Seite des Flusses. Doch wie dorthin kommen? Ein Fahrzeug des technischen Hilfswerkes half. Mein Sohn, meine Frau und ich kletterten auf die Pritsche eines geländegängigen LKW mit ausreichender Wattiefe. So fuhren wir durch die überschwemmten Straßen rund um das Gelände des ehemaligen Eilenburger Chemiewerkes, überquerten die Muldebrücke und konnten auf dem langsam abtrocknenden Marktplatz der Muldestadt das Fahrzeug verlassen. Als wir die Muldebrücke von Osten kommend passierten, konnten wir auf der linken Seite die Eisenbahnbrücke sehen, die zur Strecke Leipzig – Cottbus gehört. Einer ihrer Stützpfeiler war unterspült, umgesunken und die darauf verankerte Stahlkonstruktion einschließlich der Bahngleise hing haltlos in der Luft. Die Bahnstrecke war unpassierbar.

Nachdem diese „Probefahrt“ problemlos verlaufen war, richtete die Stadtverwaltung mit diesem Fahrzeug eine Art „Shuttledienst“ ein. So konnten alle Eilenburger, die zwischen den Stadtteilen hin und her pendeln mussten, dieses Verkehrsmittel nutzen.

Endlich wieder zu Hause angekommen, ging ich daran, mit den Aufräumarbeiten zu beginnen. Mein Sohn half dabei. Gut war, dass es noch lange hell und warm blieb, denn es gab natürlich noch keinen Strom. Als erstes brachten wir an der Haustür eine provisorische Verriegelung an. Sie war inzwischen so verquollen, dass sie sich nicht mehr schließen ließ. Dann reinigten wir provisorisch den Hausflur und räumten die Erdgeschosswohnung aus. Alles, was unbrauchbar war, wurde am Rande des Bürgersteiges abgelegt. Da dies die etwa 5000 anderen Betroffenen der Eilenburger Innenstadt genau so machten, säumten nach und nach meterhohe endlos lange Wälle von Möbeln, Hausrat und verdorbenen Lebensmitteln die Straßenzüge.

Was noch verwertbar schien, brachten wir auf den Hausboden bzw. in unsere oberen Wohnräume und in das Treppenhaus im Obergeschoss. Dort hatte sich inzwischen soviel Hausrat angesammelt, dass man sich kaum noch im Haus bewegen konnte.

Ein in der Nähe wohnender Bäckermeister war im Besitz eines leistungsstarken Notstromaggregates. Damit gelang es ihm, in größeren Mengen Wasser zu kochen und damit Kaffee zu bereiten. Alle Bewohner ringsum, die schon in ihre Häuser und Wohnungen zurückgekehrt waren, standen von da an dort Schlange, um eine Kanne Kaffee zu kaufen. Auf dem Marktplatz hatte man Verkaufswagen und Zelte aufgestellt. Dort konnte man preiswert oder gar kostenlos einfache Mittagsmahlzeiten erwerben. Gut, dass meine Frau Angestellte der Stadtverwaltung war. So erfuhr sie oft als eine der Ersten, ob es wichtige öffentliche Bekanntmachungen gab. Ich hatte keine Zeit, mich um derlei Dinge zu kümmern, denn die Aufräumarbeiten erforderten meine ganze Zeit und Kraft.

Eine große Erleichterung war, dass meine Tochter und ihr damaliger Freund und jetzige Schwiegersohn zur Unterstützung kamen. Sie brachten Handwerkszeug und ein Notstromaggregat mit. So wurde es möglich, abends in der Wohnung für einige Stunden elektrisches Licht zu haben, in der Mikrowelle etwas aufzuwärmen und auch mal im Fernsehen die Nachrichten zu verfolgen. Ein Problem war die Versorgung mit Trinkwasser, da die Versorgung mit dem lebensnotwendigen Nass ebenfalls zusammengebrochen war. Den betroffenen Haushalten wurden deshalb erhebliche Mengen Wasserflaschen kostenfrei bereitgestellt.

Aber auch von unseren Bekannten und Freunden, sogar von völlig Unbekannten erfuhren wir vielfältige Unterstützung und Hilfe. So wurde uns z.B. eine Gruppe weiblicher Angestellter der Leipziger Post von der Stadtverwaltung für Aufräumarbeiten zugewiesen. Sie halfen dabei, aus den Wohnräumen des Erdgeschosses die Dielen herauszureißen und die lose Verfüllung des Fußbodens bis hinunter auf die Deckenwölbung des Kellergeschosses abzutragen und in Müllcontainer zu verladen. Das war eine körperlich sehr schwere Arbeit. Aber mehr als ein paar Getränke und ein herzliches Dankeschön konnten wir ihnen dafür nicht anbieten, obwohl wir es gerne getan hätten. Andere Freunde halfen mit einer Motor getriebenen Wasserpumpe, mit der wir beginnen konnten, die Kellerräume auszupumpen. Wieder andere brachten einen großen Korb mit frischen Nahrungsmitteln oder boten uns die Möglichkeit, nach langer Zeit wieder einmal ordentlich zu duschen oder wuschen unsere Wäsche. Das war eine große Hilfe.

Nach und nach richteten wir uns in der neuen Situation ein. Auf der Wiese unseres Hausgartens stellten wir einen Grill auf, auf dem wir auch ohne Strom notdürftig Mahlzeiten zubereiten konnten. Wichtige Dokumente oder andere Unterlagen, die wir erhalten wollten, hingen wir an Wäscheleinen zum Trocknen auf. Mit dem Fahrrad fuhr ich zur nächsten Tankstelle, um mittels Kanister Benzin für das Notstromaggregat zu besorgen. Die PKW waren immer noch außerhalb des Katastrophengebietes abgestellt, denn es war verboten, die Fahrzeuge nach Hause zu holen, weil man die Straßen für die Einsatzfahrzeuge frei halten wollte.

Das Haus wird instand gesetzt

Erst Mitte September gab es wieder Strom. Jetzt konnten wir den Putz von den Wänden hacken, Kühlschrank, Mikrowelle, Kaffeemaschine, Telefon und die vielen anderen elektrischen Geräte wieder nutzen. Statt der vom Hochwasser zerstörten Waschmaschine konnten wir uns eine neue anschaffen. Eine Firma für Sanitärinstallation setzte im Laufe des Oktobers die Heizanlage wieder instand. Das war wegen des gar nicht mehr so weit entfernten Winters besonders wichtig. Die in ihrer Gesundheit leidlich wieder hergestellte Schwiegermutter konnte ihre Wohnung aber noch nicht beziehen. Wir brachten sie für eine Zeitlang bei den Freunden in Bad Düben unter, die uns gleich nach der Katastrophe aufgenommen hatten. Nach und nach brachten wir ihr schonend bei, was geschehen war. Sie trug es mit bewundernswerter Fassung. „Wenn ich mein Zuhause schon einmal während des Krieges verloren und alles wieder aufgebaut habe, so werden wir das auch diesmal schaffen“, meinte sie.

Entfeuchter wurden aufgestellt, die die Feuchtigkeit aus den Wänden zogen. Es dauerte mehrere Wochen, bis das Mauerwerk nach und nach trocknete, nachdem der Putz abgeschlagen war. Dann erst konnten sich die Handwerker verschiedener Gewerke die Klinke in die Hand geben. Die unteren Lagen des durchfeuchteten Mauerwerks wurden Stück für Stück ausgewechselt. Die Wände wurden verputzt, der Fußboden schichtweise neu aufgebaut, statt der Dielen wurden Fliesen verlegt, die Zimmer mit neuen Türen versehen. Endlich waren die Zimmer bezugsfertig. Gemeinsam mit der Schwiegermutter kauften wir neue Möbel für die Räume im Erdgeschoss. Anfang Dezember konnte sie dann die neu hergerichtete Wohnung beziehen. Aber immer noch waren bis weit in das Jahr 2003 viele Arbeiten notwendig, um alles so herzurichten, dass das gewohnte Wohnumfeld wieder gegeben war.

Bilanz - viele halfen

Eilenburg war im Regierungsbezirk Leipzig (Westsachsen) bei der Jahrhundertflut im August 2002 noch vor Grimma die am schwersten betroffene Kommune. Der Marktplatz hatte sich in einen See verwandelt, das gesamte Stadtzentrum konnte tagelang nicht betreten werden, und in der Karl-Marx-Siedlung stand das Wasser mehrere Tage zwei Meter hoch. Allein der kommunale Schaden belief sich am Ende auf 60 Millionen Euro. Bis Mitte 2008 wurden etwa 10 Kilometer Mauern und Deiche mit einem finanziellen Aufwand von etwa 35 Millionen Euro neu errichtet und vorhandene verstärkt und ausgebaut. Damit verfügt Eilenburg als erste sächsische Stadt überhaupt nach menschlichem Ermessen über einen komplett neuen Hochwasserschutz.

Wie im Großen, so trug auch jeder Betroffene selbst nach besten Kräften dazu bei, die Schäden Stück für Stück zu beseitigen und ein normales Leben wieder möglich zu machen. Natürlich war das alles nicht im Selbstlauf zu schaffen. Unsere ganze Familie musste trotz der widrigen Umstände tüchtig zupacken. Aber wir erfuhren auch von vielen anderen Seiten tatkräftige Unterstützung. Freunde und Bekannte halfen, Handwerksbetriebe ließen sich nicht lange bitten. Die Versicherungen waren bei der Prüfung der nachgewiesenen Sachschäden erstaunlich kulant. Finanzieren konnten wir den Wiederaufbau neben eigenen Mitteln zu großen Teilen mit Krediten der Kreditanstalt für Wiederaufbau, mit Versicherungsleistungen, finanziellen Zuwendungen des Roten Kreuzes und auch mit Geldspenden von Bekannten und Freunden. Das Bleibende, was wir in dieser Zeit erfahren haben, war die erlebte selbstverständliche Hilfe und Solidarität von vielen Seiten, die wir so nicht für möglich gehalten hätten.

 




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