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Die Macht lag auf der Straße
- der 9. Oktober 1989 in Leipzig -

Ein Bericht von Peter Hobe, Leipzig



Ist es übertrieben, zu sagen:

Stefan Zweig würde diese Situation in seine
"Sternstunden der Menschheit" als

Die Weltminute von Leipzig aufgenommen haben?



Das Fahrrad sicherte meine Mobilität unter allen denkbaren Umständen. Nachdem ich meinen 14-jährigen Sohn noch auf die unberechenbaren Gefahren seines möglicherweise in Auge gefassten Besuchs der Leipziger Innenstadt am heutigen 9. Oktober 1989 hingewiesen hatte, schwang ich mich in den Sattel.

Die Lage, im eigentlichen militärischen Sinne, war offensichtlich: Die immer stärker anschwellenden regelmäßigen "nicht genehmigten" Demonstrationen, die machtvollen Ströme der ebenfalls "nicht genehmigten" Ausreisenden, der stete Rückzug der Agitation auf martialische Positionen kontrastierte auf eine "ironische" Weise mit den bestellten "Stellungnahmen zu den Umtrieben konterrevolutionärer Elemente" sowie den Appellen in den Betrieben zum "Meiden der abendlichen Innenstadt". Diese offensichtliche Hilflosigkeit trieb an. Es musste nun, nach dem schaurig-spektakulären "Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR" in Berlin und den Ereignissen am 7. Oktober in Leipzig, bei denen mit massiver Polizeigewalt gegen demonstrierende oder auch nur den Festmarkt in der Innenstadt besuchende Bürger vorgegangen worden war, etwas geschehen.

 Die verpasste Gelegenheit

Mein Fahrrad schob ich in der Nähe des Neuen Rathauses in den Schatten einer Vorstadtvilla mit einigermaßen freiem Zugang und ging zu Fuß in die Innenstadt; es war noch einige Zeit bis zum Beginn der "Montagsdemo". Der eigentümlich konzentrierte Eindruck, den die zahlreichen kreuz und quer laufenden Passanten machten, übertrug sich sofort. Obwohl mir dies erst beim Schreiben dieser Zeilen auffällt, gab es offenbar eine kollektive Erwartungshaltung; es lag was in der Luft.

In der Grimmaischen Straße begegnete ich dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange. Nicht ahnend, dass er eine besondere Rolle beim Zustandekommen des entscheidenden Aufrufs der "Leipziger Sechs" spielte. Am Karl-Marx-Platz vor dem Eingang zur Theaterpassage, die mir einen freien Rückzug ermöglichen sollte, wurde ich Zeuge, wie eine Frau dem Zugführer auf der Pritsche des Mannschaftswagens der Bereitschaftspolizei die Neuigkeit eines soeben in den Kirchen verlesenen "Aufrufs zum friedlichen Dialog" zurief.[1] Als Mitglied der Kampfgruppe wusste ich um die Dramatik der Situation, hatten wir doch in letzter Zeit immer wieder geübt, wie gegen Demonstranten vorgegangen wird. Unsere Hundertschaft war allerdings montags noch nie alarmiert worden; es wären wohl auch nicht alle zuverlässige Kämpfer gewesen. Der Karl-Marx-Platz füllte sich wie gewöhnlich, an diesem Tage sollten circa siebzigtausend Demonstranten den Innenstadtring umschließen.

Durch die Theaterpassage lief ich zurück zur Nikolaikirche, dem Ausgangspunkt schon so vieler "Montagsdemos", als sich soeben die Tür der Sakristei öffnete und Pfarrer Führer zu einer auf ihn wartende Gruppe trat, und ich hörte, man wolle "... heute keiner Provokation Vorschub leisten ... auf die traditionelle 'Montagsdemo' verzichten."  Es gab noch einige Hin- und Widerrede, doch bald verteilte sich die Gruppe. Für mich machten diese stabsmäßigen Handlungen einen sehr entschlossenen Eindruck und so folgerte ich, vorschnell wie ich später feststellen musste, dass die "Montagsdemo" am 9. Oktober ausfallen würde. Ich lief zu meinem Fahrrad und fuhr erleichtert zurück nach Grünau. Zufälliger Weise hörte ich den von Gewandhauskapellmeister Kurt Masur verlesenen "Aufruf zum friedlichen Dialog", der seit halb fünf über die Lautsprecher des Stadtfunks zu hören war, nicht.

Jedoch, ich hatte nicht mit der uneinholbaren Dynamik der Ereignisse gerechnet, denn jener Verzicht sollte wirkungslos bleiben. Die berühmte "Montagsdemo" am 9. Oktober hatte ich so verpasst, doch an einigen "Montagsdemos" der nächsten Wochen lief auch ich mit. Das disziplinierte Engagement und die Genugtuung, nun doch etwas selbst auf die Beine gestellt zu haben, schufen eine sich über den gesamten Demonstrationszug erstreckende begeisternde Atmosphäre. In diesem Moment demonstrierten die Menschen ihre Macht und brachten es in den ebenfalls berühmten Sprechchören "Wir sind das Volk" zum Ausdruck. Beeindruckend die hervorragend organisierten Mahnwachen der Bürgerrechtler mit ihren Schärpen "Keine Gewalt", und jeder hielt sich dran. Wer aufmerksam den Rand der Demonstration beobachtete, konnte in den ersten Wochen die verschämt an einer Ecke postierten "Vertreter mit der Reichskriegsflagge" erkennen.

Das Ereignis in Hintergrund

In den turbulenten Tagen danach passierte viel Ungewöhnliches und Merkwürdiges. So erschien in der Presse Mitte November, im Ergebnis eines Treffens von Kirchenvertretern mit dem Chef der Bezirksdirektion der Volkspolizei zu den Übergriffen der Polizei am 7. Oktober, ein Aufruf der Stadtverordnetenversammlung an interessierte Bürger, in einem "Komitee zur Untersuchung von Übergriffen der Ordnungskräfte" mitzuarbeiten. Im Bürgerkomitee trafen sich daraufhin etwa ein Dutzend Leute, die alle, wie ich, am geordneten Ablauf der Ereignisse interessiert waren. Mit keinerlei besonderen Befugnissen ausgestattet, setzten wir lediglich die stabsmäßigen Vorbereitungen für ein großangelegtes Eingreifen der Ordnungskräfte auf die Tagesordnung. Unsere Arbeit hatte jedoch kein fortwirkendes Ergebnis. Nach einigen Zusammenkünften teilte man uns schließlich die Auflösung des Komitees mit; die Auslagen wurden pauschal mit 50 Mark abgegolten. Wie begonnen, so zerronnen!

Aufschlussreich war für mich die Aussage des von uns zu einer Aussprache geladenen Chefs der Bezirksbehörde der Volkspolizei, Generalmajor Strassenburg, zum abendlichen Ablauf des 9. Oktober. Diese Schilderung lieferte ein besonders aussagefähiges Bild der Zustände in der späten DDR. Einerseits existierte eine die ganze Welt beeindruckende (fast) perfekte Fassade der militärischen und ordnungspolitischen Stärke. Andererseits offenbarte eine unfähige Regierungsmacht ihr Unvermögen, den Zwiespalt nicht überwinden zu können, der zwischen dem "Wohlstand für Alle"-Anspruch und dem realen Scheitern, einen Großteil der Bevölkerung für den Weg zu diesem Ziel zu begeistern, klaffte.

Wie bekannt, prägten Männer und Frauen mit Zivilcourage den für das Ende des "Kalten Krieges" so entscheidenden Tag; doch der Anteil des für "Ordnung und Sicherheit" verantwortlichen Kommandeurs in Leipzig kommt in den Berichten kaum und nur am Rande vor, zu Unrecht. Der Bericht des Generalmajors Strassenburg beleuchtet einige Ursachen der Friedlichkeit dieser Revolution. Hier seine, mit meinen eigenen Beobachtungen übereinstimmende Schilderung: Als die Polizeiposten an den Zufahrtstraßen der Stadt einen ungewöhnlich starken Zustrom zu der traditionellen "Montagsdemo" meldeten, so dass nicht wie bisher mit fünftausend, sondern mit fünfzigtausend Menschen gerechnet werden musste, warf dies die ordnungspolitische Planung über den Haufen und verlangte nach einer Neuorientierung für die befohlenen Maßnahmen zur "Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit". Eine Anfrage an den für die innere Ordnung der DDR Zuständigen, Egon Krenz, gegen 17 Uhr nach Berlin abgesetzt, blieb ohne Antwort. Daraufhin erteilte der Chef der Bezirksbehörde der Volkspolizei etwa zeitgleich mit dem Beginn der "Montagsdemo" um 18.oo Uhr den Befehl zur "Eigensicherung", d.h. der Rücknahme der Einsatzkräfte in die Kasernen.[2]

Der Chef der Bezirksbehörde war lediglich von der Existenz eines "Aufrufs zum friedlichen Dialog", ohne weitere Details über den Inhalt, unterrichtet. Doch diese Information erhielt er nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, vom amtierenden ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung oder von einem der drei Genossen, die den Aufruf mit unterzeichneten und die versprochen hatten, die Polizei zu informieren, sondern erst von seinen eigenen Einsatzkräften, die Kontakt zu den Menschen auf der Straße hatten und wohl auch den im Stadtfunk verlesenen Aufruf hörten.

Am späten Abend - nach fünf Stunden - und nach Abschluss der "Montagsdemo", kam der neue Befehl aus Berlin, der lediglich bestätigte, was bereits kurz vor 18 Uhr in Leipzig entschieden worden war.

Die einsame Entscheidung Generalmajor Strassenburgs, den Befehl zur "Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit", der ausdrücklich auch den Einsatz militärischer Gewalt gegen die Demonstranten vorsah, nicht zu befolgen, war für den weiteren Verlauf des Abends in Leipzig und darüber hinaus außerordentlich bedeutsam. Schließlich konnten die Bürgerrechtler ihre Botschaft "Keine Gewalt" nur wegen des rechtzeitigen Rückzugs der Polizei unters Volk bringen und die besonnen Demonstrierenden die einmalige Logik der "Friedlichen Revolution" anstoßen. Hier trafen sich zwei ambitionierte Künstler mit dem zivilcouragierten Militär und siebzigtausend namenlosen Demonstranten in einem weltpolitisch entscheidenden Moment zum glücklichen Handeln. Dass die Repräsentanten der "Avantgarde des Proletariats" "zur Jagd getragen werden mussten", ja, sich schließlich durch ihre widersprüchliche Zögerlichkeit völlig heraushielten aus dem Lauf der Geschichte, desillusionierte mich endgültig.[3]

[1] Einzelheiten der Entstehungsgeschichte dieses "Aufrufs" schildert Bernd-Lutz Lange im Buch "Dämmerschoppen. Geschichten von drinnen und draußen. – Der 9te Oktober", 1997 Kiepenheuer Verlag.

[2] Im Frank-Beyer-Film "Nikolaikirche" ist diese dramatische Situation packend geschildert.

[3] Die Ereignisse dieser turbulenten Zeit sind übrigens in der Dokumentation des Neuen Forums Leipzig "Jetzt oder nie – Demokratie!", 1989 Forum Verlag Leipzig, authentisch geschildert.

 



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