Im Wintersemester 1873/74 hatten Professoren verschiedener Disziplinen an der Leipziger Universität ein Kränzchen gegründet, das bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts Bestand hatte. Man traf sich wöchentlich in ungezwungener Geselligkeit im Theaterkaffee, um Ideen auszutauschen und übergreifende methodologische Grundlagen für die Einzelwissenschaften zu finden.
"Sie (die Teilnehmer) waren auf der Suche nach einer nicht spekulativen, alle Einzelwissenschaften vereinigenden "positiven" Wissenschaftsphilosophie, die letztendlich auf eine reine "Immanenzphilosophie" hinauslief, welche alle Objekte, der Natur ebenso wie der Kultur, als durch die Einheit der menschlichen Erfahrung konstituierte begriff. In diesem Sinne verstanden sie sich als "Positivisten", und der Psychologie wurde als Ablösung der in reine Spekulation abgedrifteten Philosophie zunächst eine vorrangige Position zugewiesen."
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Dieser Leipziger Positivismus unterschied sich damit von den zeitgenössischen Gegenpositionen des Neukantianismus (Universität Heidelberg) und des Historismus (Universität Berlin), in denen die individuelle Wertentscheidung im Vordergrund stand. Ob die Bezeichnung "Positivistenkreis" zum Zeitpunkt seines Wirkens bereits üblich war, ist bisher nicht untersucht.
Die Grundlagen für diese Philosophie hatten bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts bedeutende Wissenschaftspioniere gelegt, die in Leipzig neue Disziplinen begründeten:
Gustav Theodor Fechner die Psychologie, Wilhelm Roscher die Nationalökonomie, Moritz Wilhelm Drobisch die Statistik.
Deren Gedankengut wurde in den Diskursrunden des "Positivistenkreises" weiterentwickelt. Zu dessen bedeutendsten Mitgliedern zählten:
- der Philosoph und Psychologe Wilhelm Wundt - Gründer des ersten modernen Forschungsinstituts der Welt für experimentelle Psychologie,
- der Geograph Friedrich Ratzel - bekannt durch seine Theorien der Kulturdiffusion,
- der Chemiker Wilhelm Ostwald - Nobelpreis für Chemie 1909 für seine Arbeiten zur Katalyse,
- der Historiker Karl Lamprecht - Gründer des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte in Leipzig,
- der Nationalökonom Karl Bücher - bekannt durch seine Wirtschaftsstufenlehre.
Sie alle waren Pioniere einer modernen sozialwissenschaftlichen Sichtweise in ihren Disziplinen und genossen trotz der innerdeutschen Gegenströmungen hohes internationales Ansehen (Frankreich, Amerika). Die Leipziger Alma mater profitierte von ihrem Wirken.
"Es ist wohl schon mehr als eine Vermutung, wenn man annimmt, dass die Blüte der Universität Leipzig im 19. Jahrhundert zu einem großen Teil ihre Ursache im "Leipziger Positivismus" hat. Hier steht jedoch die universitätsgeschichtliche und wissenschaftshistorische Forschung noch am Anfang weiterführender Untersuchungen."
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Leipziger Positivistenkreis 3 |
1 Uener, Elfriede. Exemplarische Entwicklungslinien der Leipziger Schule der Sozial- und Geschichtswissenschaften.
(in: Archiv für Kulturgeschichte, 80. Bd., Heft 2, 1998, S. 375-415)
2 Krause, Konrad. Alma mater Lipsiensis, Leipzig 2003; S. 191
3 Ebenda; S. 188