Neues über Spatial History

Matthias Middell (SFB 1199 & Leipzig U)

Publication Date

January 2017

Type

Media

Seit ungefähr einem Jahrzehnt ist die neue Raumgeschichte eine Art Geheimtipp für Historiker/innen, die sich vom spatial turn inspiriert fühlen und danach fragen, wie man sichtbar machen kann, dass sich historische Phänomene nicht nur in der Zeit entwickeln, sondern auch eine räumliche Dimension haben, deren Homogenität oder (öfter) Heterogenität Erklärungen herausfordert. Die Übergänge zur Historischen Geographie sind fließend, und wer genau welchen Elternpart für das neue Kind im Disziplinengefüge der Sozial- und Geisteswissenschaften beanspruchen kann, ist erfreulich ungewiss.

Image Source: Routledge, Link (17 September 2018)

Ian Gregory, Professor für Digital Humanities an der englischen Lancaster University, Don DeBats, Leiter des American Studies Departments an der australischen Flinders University und Don Lafreniere, Direktor der Geospatial Research Facility an der Michigan Technological University haben vor diesem Hintergrund ein beinahe ziegelsteingroßes Kompendium mit Beispielen des seit einigen Jahren rasch expandierenden Feldes der Spatial History veröffentlicht. Ohne sich mit wissenschaftspolitischen Lokalisierungen lange aufzuhalten, steckt der Band vielmehrt voller Anregungen, insbesondere weil die Verfasser der 28 Kapitel ihre Kräfte nicht mit theoretischen Erwägungen binden, sondern meist direkt in die Erläuterung des untersuchten Fallbeispiels springen. Sie diskutieren neue Quellen, die durch die Methoden der Spatial History bislang unbekannte Aufschlüsse zur Sozial- und Geschlechter-, zur Kultur- und Politikgeschichte ermöglichen, indem etwa die räumliche Verteilung von Arbeitslosigkeit und Kindersterblichkeit in Wales 1911-1939 oder das Vordringen der Unions-Truppen im amerikanischen Bürgerkrieg mit der Errichtung von Industriebetrieben korreliert werden, um nur zwei Beispiele zu nennen. Es versteht sich beinahe von selbst, dass das hier intendierte “deep mapping” auch notwendigerweise in überzeugende grafische Ergebnispräsentationen mündet.

Die einzelnen Beiträge liefern vielfältige Anregungen, um das GIS-basierte Methodenset auch für unsere eigenen Überlegungen zur Geschichte der Verräumlichung auszuprobieren. Sobald sich quantifizierbares und lokalisierbares Material in genügender Dichte für Zeitreihen oder einen untergliederten Raum findet, steht der Auswertung mit Hilfe von GIS nichts mehr im Wege. Aber was zunächst einfach klingt, regt zu weiterführenden Konzeptualisierungen an, auch wenn die Herausgeber zugeben: “Spatial History is better at creating new knowledge than in problematizing that new knoweldge.” (S. 3) Die Begeisterung über die neuen Tools ist eine noch nicht immer genutzte Einladung zur Beantwortung der Frage, welches Problem eigentlich damit besser oder auf neue Weise gelöst wird. Dies hat auch damit zu tun, dass hier ein Instrument zur Visualisierung von Forschungsresultaten verfügbar ist, womit aber noch nicht geklärt ist, ob es sich bei den visualisierten Korrelationen um Kausalitäten handelt. Man wird an manche Debatte zwischen Anhängern quantitativer und qualitativer Forschung erinnert, aber statt diese Gegenüberstellung weiter zu pflegen, ergibt sich hier eher die Frage, wie man auch qualitative Forschung mit Hilfe von Spatial History überzeugender machen kann.

Bleibt schließlich ein fundamentales Problem, für das sich gerade die Parameter verändern. Der Aufwand für die Datenbanken, die in der Spatial History verwendet werden, ist zunächst unglaublich hoch und lässt viele Forscher/innen zurückschrecken, insbesondere dann, wenn sie erleben, dass ihre mühsam erhobenen Daten von anderen zügig für karrierefördernde Publikationen weiter benutzt werden, ohne dass klare Regeln im Umgang mit ihnen bestehen. Mit der extrem rasch wachsenden Aufmerksamkeit für das sogenannte Forschungsdatenmanagement (FDM), das Kuratieren von Forschungsdaten für spätere Überprüfung und Wiederverwendung, aber auch der nun stärker betonte Zusammenhang zwischen FDM und Regeln guter wissenschaftlicher Praxis lässt hoffen, dass diese Geburtswehen auch bald hinter der Spatial History liegen. Der Routledge Companion bietet dafür schon einmal Einsichten in künftige Arbeitsformen.

Biographical Note

Prof. Dr. Matthias Middell (SFB 1199 & Global and European Studies Institute, Leipzig University, Germany)

Matthias Middell is a professor of cultural history at Leipzig University as well as a speaker of the SFB 1199 and director of the Global and European Studies Institute at Leipzig University. He studied history earning his PhD from Leipzig University with his research focusing on the French Revolution. Since 2013, he has served as the director of the Graduate School Global and Area Studies in Leipzig and is currently the head of the Erasmus Mundus Global Studies Consortium. He teaches regularly at partner universities and co-supervises PhD candidates with colleagues from France, South Africa, and Ethiopia. His current research interests include the history of the French Revolution from a global perspective, history of cultural transfers around the world, and the role of space in the understanding of the current world being the result of long-lasting global connections.