Karten(ge)schichten: Rügen

Steffi Marung (SFB 1199)

Publication Date

July 2017

Type

Media

Steffi Marung

Unvermittelt stößt man am Ende des Rundgangs auf die drei großformatigen Karten in hölzernen Rahmen, im Hauptgebäude des Baumwipfelpfades des Naturerbe Zentrums Rügen. Dort, wo einigermaßen erschöpfte Eltern den kleinen Preis für den erfolgreich absolvierten Baum-Quizz für ihre Kinder abholen. Wo sich Souvenirjäger im kleinen Shop und vor dem Gedenkmünzenautomat drängen. Wo der Geruch von Frittiertem den Weg zum benachbarten Restaurant weist. Die Reproduktionen hängen etwas abseitig in einem kurzen Gang unter den Treppen, die zu den Tagungsräumen führen, in denen Schulklassen die Zerbrechlichkeit der Natur begreifen sollen und die Verantwortung des Menschen, sie zu schützen.

Überzeugend und eindrücklich präsentiert der Baumwipfelpfad vor allem zwei Natur-Raumgeschichten: jene von der Ehrfurcht erregenden Macht der Natur, ihrer überzeitlichen Wirksamkeit, mit der der Mensch sich kaum messen kann. Und eine andere über die Natur als Opfer des Menschen, bedroht durch die von ihm verursachte Verschmutzung und Zerstörung. Eine Umweltgeschichte, in der Mensch und Natur nicht nur als Täter und Opfer aufeinander bezogen sind, sondern in einer komplizierteren Beziehung stehen – schließlich sind auch die Einrichtung von Nationalparks und die Verleihung des UNESCO-Weltnaturerbe-Titels menschliche Entscheidungen – findet sich wenig in der Ausstellung. Die Karten wollen deshalb nicht so recht hierher passen und würden doch das Herz eines Kartographie- und Rügenhistorikers höherschlagen lassen. Auch wenn bei ihrer Hängung Überlegungen zu einem Narrativ weniger eine Rolle gespielt haben mögen als der Versuch, eine freie Wand dekorativ zu füllen – ohne weitere Erläuterungen beginnt die Reihe mit den preußischen Urmesstischblättern von 1835/36, gefolgt von der Hagenowschen “Special Charte der Insel Rügen” von 1828 und der schwedischen Landesaufnahme von Vorpommern von 1695 – erzählen sie in ihrem Dreiklang teils verflochtene Geschichten von der Formatierung des Raumes “Rügen”.

Die vom schwedischen König Karl XI. nach dem dreißigjährigen Krieg in Auftrag gegebene Landesaufnahme brachte das älteste Katasterwerk für einen Teil jenes Raumes hervor, der später zu “Deutschlands” wurde. Sie ist die Hinterlassenschaft eines frühmodernen Staates, Ergebnis eines ehrgeizigen Territorialisierungsprojekts, von Versuchen, den Raum und “seinen Inhalt” verfügbar zu machen für staatliche Besteuerung und hoheitliche Kontrolle. Ihre wissenschaftliche Bearbeitung dauerte bis in die 1990er Jahre an, ihre Editionsgeschichte ist voller Volten und geprägt von den wiederholten Zusammenbrüchen und Neuerstehungen von Raumordnungen – des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, Nazideutschlands und des geteilten Deutschland des Kalten Krieges – in die das Werk eingefügt werden sollte.

Die Karte des Naturwissenschaftlers, Agronomen und Historikers Friedrich von Hagenow, dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. zugeeignet, ist die erste topographisch präzise Karte Rügens. Sie spiegelt aber auch Bemühungen um die geschichtspolitischen Aneignungen des an der Grenze liegenden Raumes: Hagenows Interesse galt vor allem prähistorischen Kultstätten und Relikten der Slawen, deren Geschichte mit der Karte in die eines Reiches eingeschrieben wurde, das sich zwischen Ost und West in Europa zu positionieren suchte. Imperiale Modernisierung, die Anfänge der Professionalisierung und Popularisierung der Geographie als Wissenschaft, das Zusammenspiel zwischen Nationalisierung und Territorialisierung überlagern sich auf einzigartige Weise.

Sie entstand wiederum fast im gleichen historischen Moment wie die von Militärkartographen angefertigten Urmesstischblätter, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, sondern die territoriale und geopolitische Situation der Insel nach dem Wiener Kongress von 1815 zu erfassen suchten und damit Teil eines grundlegenden Wandels der europäischen und globalen Raumordnung waren.

In diesen unterschiedlichen Formatierungen ein und desselben “Naturraumes” lassen sich nur mühsam die Sehnsuchtsorte der heute machtvollsten Raummacher auf Rügen auffinden – die der Touristen und der Tourismusindustrie. Die Ära der Seebäder war zur Entstehungszeit der Karten noch nicht angebrochen, sie fristeten ein bescheidenes Dasein als Fischerdörfer. Auch der Königstuhl wurde erst in den 1830er Jahren nach und nach touristisch erschlossen. Die Strecke des “Rasenden Roland” als Zeuge der ersten Eisenbahnerschließung der Insel wurde nach 1895 gebaut. Das unter DDR-Urlaubern und heutigen naturbegeisterten Reisenden geschätzte Nonnevitz mit seinem windigen Strand verfügte noch nicht über den legendären Zeltplatz, der erst nach dem zweiten Weltkrieg entstand.

Die meisten Besucher werden die Karten wohl ohnehin kaum bemerken. Ihre Hängung wirkt wie ein Zugeständnis der Ökologen an die Heimathistoriker, und auch wie ein nicht ganz abgeschlossener Versuch, weitere Raum(ge)schichten in die Tourismus-und Naturschutzerzählung einzufügen. Sie bezeugen eine lange Geschichte der sich überlappenden und bis heute konkurrierenden Raumformate auf der Insel, die sich auf kleinstem Raum abspielte.

Baumwipfelpfad Hauptgebäude

Stumm bleiben aber auch hier jene, die die “Trauminsel” heute der Tourismusindustrie verfügbar machen. Die zurückbleiben, wenn der Lärm der Urlauber verflogen ist: die Hoteliers und Gastronomen, die Fischbrötchenverkäufer und Strandkorbverleiher, die Reinigungstrupps in den Inselunterkünften und das polnische Servicepersonal in den Restaurants, die Handwerker und Hausmeister, die die pittoresken Häuschen der Sommerfrischler in Schuss halten, die Landärzte und Pfarrer, die winzige Gemeinden betreuen. Wie würden ihre Karten(ge)schichten aussehen?

Biographical Note

Dr. Steffi Marung (SFB 1199, Leipzig University, Germany)

Steffi Marung gained a PhD in global studies from the University of Leipzig with a study on shifting border regimes of the expanding European Union since 1990. Prior to earning her PhD, she had studied political science and German literature in Halle, Berlin, and Prague. From there she further developed her interest in processes of (re-)spatialization into an ongoing book project on the transnational history of Soviet African studies during the Cold War. In the framework of the international collaborative project “Socialism Goes Global”, she has extended this research towards more general questions of the geographies of East-South encounters during the Cold War. Teaching global history courses at the Global and European Studies Institute at the University of Leipzig and being involved in further book projects (one on the transnational history of East Central Europe since the nineteenth century, another one on the global history of area studies, and a third one on transregional studies), she contributes to the SFB’s programme with research on the historiographical background of and multiple disciplinary theoretical foundations for the investigation of spatial formats and spatial orders. To this end, she endeavours to facilitate and promote joint cross-project discussions and the formation of a common theoretical language and framework.